Fall 2 Mordlust
Die Fotos zeigen die Eingänge zum Büro-/ und Wohncontainer, sowie das Firmengelände.
Es ist jener besagte Freitag, der 7. Dezember 2001, noch früher Morgen. Wir haben weiterhin Bereitschaftsdienst. In der Kaffeerunde beim KK 11 bemerkt Micha, was alle an diesem Tag nach Nikolaus denken: «Es ist gut, dass wir gerade einen relativ einfachen Fall zu Ende gebracht haben. Jetzt können die Feiertage kommen, uns lässt man bestimmt in Ruhe.» In diesem Moment klingelt der Apparat unseres Chefs. Interessiert höre ich zu, wie Walter Pindur, ein sehr erfahrener Mordermittler, sagt: «Hmm, erstochen? Tja, wo denn? Aha, Großmarkt in Herne. Ja, die MK V hat Bereitschaft. Ich gebe denen Bescheid. Und mache allen vor Ort klar, dass sie nichts verändern sollen, aber das ist ja selbstverständlich. Wir kommen sofort raus!» Walter blickt mich an – und braucht nichts mehr zu sagen. Von wegen ruhige Zeiten. Das ist der zweite Mordeinsatz in nur einer Woche. Verbrechern ist es vollkommen gleichgültig, dass wir gerade erst ein Tötungsdelikt hatten.
Walter leitet das gesamte Kriminalkommissariat 11, er ist der Chef aller Mordkommissionen. Ruhige Stimme, klarer Blick, trockener Humor. Er hat schon Mörder gefasst, als es noch keinen genetischen Fingerabdruck gab. Im Telegrammstil verkündet er der Runde: «Eine Leiche ist aufgefunden worden. In einem Wohncontainer einer Firma am Großmarkt in Herne. Der Notarzt konnte keinen natürlichen Tod bescheinigen, der Leichnam wurde blutüberströmt entdeckt. Der Mann ist vermutlich durch mehrere Messerstiche getötet worden.» Typisch Walter: sachlich exakt und kein Wort zu viel.
Mir schießt durch den Kopf: Super! Der nächste Einsatz! Und es hört sich alles andere als gut an. Denn eines steht jetzt schon fest: Dieser Fall wird nicht so einfach und unkompliziert zu lösen sein. Hier hat sich ganz offensichtlich kein Täter gestellt. Und im nächsten Moment denke ich: Bloß kein neuer ungeklärter Fall! Denn einen bis heute ungeklärten Mord trage ich seit Jahren mit mir herum. Es ist wie eine Wunde, die nicht schließen will. Jeder, der Mörder jagt, will partout, dass der Täter gefunden wird. Zu wissen, dass nach vielen Wochen, ja Jahren Arbeit der Täter noch immer frei herumläuft, ist für jeden Ermittler nämlich der Albtraum. Ganz automatisch fällt mir dieser alte Fall von 1996 ein. Da wurde ein Mitarbeiter von Opel kurz nach Mitternacht in Bochum-Wattenscheid auf offener Straße erstochen. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf den Mörder. Schnell wische ich den Gedanken weg, ich will ihm keinen Raum geben. Ich gehe einfach davon aus, dass wir den zweiten Täter in dieser Woche auch erwischen werden.
Erneut werden die Kollegen der Mordkommission V, meiner Kommission, zusammengetrommelt. Bis auf unseren «Ersatzmann Thomas» vom Kriminalkommissariat in Witten – nicht zu verwechseln mit Tommi – sind alle, die auf dem MK-Bereitschaftsplan stehen, innerhalb von fünfzehn Minuten im Besprechungsraum des KK 11. Thomas, ein Polizist, der nicht nur die Details, sondern auch das Ganze im Blick hat, muss noch einen Gerichtstermin absolvieren und lässt uns telefonisch mitteilen, dass er nachkommt, sobald er damit fertig ist. Auf ihn warten können wir nicht, wir müssen los.
Zuvor instruiere ich kurz die Truppe, teile sie wie immer in Teams ein. Schnell noch sämtliche dienstlichen Telefonnummern auf einen Zettel kopieren, damit nicht lange gesucht werden muss, wenn man einen Kollegen erreichen will – und dann ab in die Autos. Es geht zum Tatort, wo wir die Kollegen von der Schutzpolizei ablösen wollen. Sie haben schon den Tatort für uns abgesperrt.
Wir brauchen zum Großmarkt etwa zwanzig Minuten. Es ist kalt, knapp über null, ein eisiger Wind weht, aber immerhin scheint die Sonne. Eigentlich ein schöner, klarer Wintertag. Eigentlich. Schon nach wenigen Minuten im Freien friere ich, denn an diesem Tag habe ich mir nur eine leichte Winterjacke angezogen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass wir in dieser Woche noch einen Mord klären müssen. Wie soll ich das bloß überstehen, überlege ich, wenn ich lange draußen herumstehen muss? Na ja, versuche ich mich selbst zu beruhigen, notfalls besorgst du dir von den Kollegen der Schutzpolizei einen gefütterten Parka.
Die Beamten der Polizeiwache Herne erwarten uns am Tatort. Mit dabei: Kareen. Die Schutzpolizistin kommt auf mich zu und begrüßt mich freudig. Ich umarme sie und sage: «Wo du bist, ist Arbeit! Was machst du für Sachen? Ständig das Gleiche.» Sie lächelt, ihre blonden Haare sind unter einer Mütze streng zusammengehalten, selbst der Wind hat keine Chance, sie zu zerzausen. Dann erwidert sie: «Ich? Ich tue gar nichts! Dein Problem, wenn du Bereitschaft hast!» Stets frech, die jungen Frauen. Keinen Respekt mehr vor dem Alter.
Kareen kenne ich seit einigen Jahren. Mit ihrem Vater Bernd habe ich früher zusammen Dienst geschoben. Ein alter Haudegen, der wusste, wo’s langgeht. Als junger Kommissar habe ich viel von ihm und seinem Partner Jochen gelernt. Wenn da nicht seine Schiedsrichtertätigkeit gewesen wäre: Zu meiner aktiven Zeit als Fußballer hatte Bernd öfter unsere Spiele gepfiffen. Ich spielte in der Bezirksliga in Witten, genauer gesagt, in Witten-Bommern und später in Witten-Ardey. Eine schöne Zeit, die ich nicht missen möchte.
Bei einem Spiel hatte Bernd mich jedoch ermahnt. Der Grund: Er meinte, ich hätte zu viel gemeckert. Aber ich war eben nicht mit jeder Entscheidung des Schiedsrichters einverstanden gewesen. Und außerdem: Wenn die Kugel rollt, bin ich ein anderer Mensch. Ich will unbedingt gewinnen, das geht aber nicht bei jedem Spiel. Als das wieder einmal der Fall war, musste der Ärger heraus. Schuld an allem war natürlich der Schiedsrichter. Na ja, auch nicht immer! Nach der Ermahnung kam die Verwarnung: «Herr Pütter, ich verwarne Sie!» Er sprach mich sogar mit «Sie» an, was er nie zuvor getan hatte. Das hieß nichts Gutes. Genauer gesagt hieß das: «Beim nächsten Mal fliegst du.»
Ich brauchte nur Bernd anzusehen und wusste: «Kein Kommentar mehr!» Daran habe ich mich auch gehalten. Und so durfte ich bis zum Schlusspfiff durchspielen. Nachher standen wir zusammen am Bierstand, und er lachte über diese Szene. Klar, dass ich ihn damals fragte, ob er mich bei einer weiteren Meckerei wirklich vom Platz gestellt hätte. Die Antwort kam schnell: «Blöde Frage, sicher!» Als Schiedsrichter war er gnadenlos. Musste er wohl auch.
Jetzt steht seine Tochter vor mir und erklärt mir, was sie bisher an Erkenntnissen gewonnen hat. Nicht viel. Noch weiß keiner etwas Genaues. «Der Ermordete ist von Mitarbeitern dieser Firma gefunden worden.» Kareen deutet auf einen milchverarbeitenden Betrieb. «Der Mann war hier als Lagerarbeiter beschäftigt und lebte in dem Container hinter mir. Als er heute gegen sechs Uhr morgens nicht zur Arbeit erschien, hat man im Container nachgesehen. Da lag dieser Karl E. in seinem Blut. Sofort haben die Mitarbeiter einen Notarzt gerufen, aber der Mann war da bereits längst tot.»
«Weißt du, warum der Lagerarbeiter in diesem Container gewohnt hat?», frage ich Kareen neugierig.
«Nee, keine Ahnung. Da musst du dich bei der Firmenleitung schlaumachen», antwortet sie knapp.
Kareen drückt mir die Todesbescheinigung, die der Notarzt ausgestellt hat, in die Hand. Sie hat ihren Job getan, jetzt sind wir an der Reihe. Noch ein Küsschen auf die Wange. «Bis bald», sagt sie. «Hoffentlich dann nicht wieder aus solch einem Anlass.» Sie lächelt, auch weil sie weiß: Das ist ein frommer Wunsch. Wenn die Schutzpolizisten uns vom KK 11 rufen, ist meistens einer tot, oder etwas ähnlich Schlimmes ist passiert. Es ist also immer ein unerfreulicher Anlass. Sonst bräuchten sie uns ja nicht zu holen. Der Tod ist nun einmal unser tägliches Geschäft.
Das Areal um den Großmarkt in Herne ist ein weitläufiges Industriegebiet, auf dem sich mehrere Firmen angesiedelt haben. Unter anderem die erwähnte Molkerei, in der der Ermordete anscheinend tätig gewesen war. Der Inhaber des Betriebs ist, wie mir bekannt ist, der Sponsor von Westfalia Herne, jenem Traditionsverein, in dem ich als Jugendlicher Fußball spielte. Diese Zeit war weniger schön. Selten wurde ich aufgestellt, war mehr auf der Ersatzbank als auf dem Feld. Der Trainer und seine «Berater» mochten mich nicht und stellten mich wohl deshalb nicht auf. Egal. Die Zeiten sind längst vorbei.
Die Presse ist bereits vor Ort, wie ich feststelle. Immer öfter erlebe ich es, dass die Journalisten noch vor uns am Tatort auftauchen. Erst ist nur ein freier Kameramann da, später kommen noch zwei weitere Reporter dazu, einer vom WDR und ein anderer von einem Privatsender, von Sat.1, dann ein ganzer Pulk.
Statt weiter über die Medien nachzudenken, beschäftige ich mich mit den offenen Fragen: Was wissen wir eigentlich? Bisher nur, dass auf dem Firmengelände ein Lagerarbeiter in einem Container gelebt hat, der am heutigen Morgen nicht wie üblich um sechs Uhr zur Arbeit erschienen ist. Wieso hat er eigentlich dort gewohnt? In einem kleinen Container? Schon komisch. Was war das Opfer für ein Mensch? Hatte er Freunde, eine Freundin? Hatte er Hobbys? Wie waren seine Lebensumstände überhaupt? Wie wurde er umgebracht? Und vor allem: Wer kann es gewesen sein? Tausend Fragen, auf die wir noch keine Antworten haben. Die aber alle mahnend in meinem Kopf herumschwirren.
Von Arbeitskollegen des Ermordeten erfahren wir: Karl E. sei ein...