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Die Zweierbeziehung

Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion

AutorJürg Willi
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644016415
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jürg Willi ist mit diesem Buch, einem Klassiker der Paar-Literatur, weit über die Grenzen seines Fachgebietes Hunderttausenden von Lesern bekannt geworden. In «Die Zweierbeziehung» entwickelte er das heute allgemein anerkannte Kollusionskonzept, das er für diese Ausgabe seines Buches den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre entsprechend aktualisiert hat. Trotz tiefgehender Veränderungen in der Gestaltung von Partnerbeziehungen sind auch heute in jedem Menschen Sehnsüchte nach Geborgenheit und bedingungslosem Aufgehobensein wirksam. Dieser Wunsch wird begleitet von der Angst, eben diesen Sehnsüchten zu verfallen und seine Autonomie zu verlieren. In diesem Zwiespalt bietet sich das Eingehen einer Kollusion als scheinbar ideale Lösung an, nämlich eines unbewussten Zusammenspiels, das die Erfüllung tiefer Liebessehnsüchte in Aussicht stellt bei gleichzeitiger Kontrolle der Angst, sich in der Beziehung zu verlieren. Wie diese unbewussten Sehnsüchte die Partnerwahl gestalten und welche Schwierigkeiten und Konflikte daraus entstehen, ist das zentrale Thema dieses Buches. «Das Buch hat die Arbeit von Experten, aber auch viele Partnerschaften wesentlich bereichert.» Psychologie heute

Prof. Dr.med.Dr.h.c. Jürg Willi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er war Direktor der Psychiatrischen Polyklinik am Universitätsspital Zürich, dann bis 1999 Ordinarius für Ambulante Psychiatrie. Jetzt leitet er das Weiterbildungsinstitut für Ökologisch-systemische Therapie in Zürich. Willi führte als erster im deutschen Sprachraum Paartherapien durch und verarbeitete sie wissenschaftlich.

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Leseprobe

3.3. Die Krise der mittleren Jahre


In der Aufbau- und Produktionsphase erzeugte die Fülle von äußeren Schwierigkeiten, die vom Paar zu bewältigen waren, ein hohes Maß an dyadischer Kohäsion. Selbst bei tiefgehenden ehelichen Differenzen und Problemen ließen die Größe und der Ernst der gemeinsamen Aufgabe die Möglichkeit des Auseinandergehens in den Hintergrund treten. In den mittleren Jahren ändert sich die Situation grundlegend. In der Aufbau- und Produktionsphase lebte das Paar auf konkrete, in naher Zukunft zu realisierende Ziele hin, die jetzt entweder erreicht worden sind oder deren mögliche Erreichbarkeit realistisch abgeschätzt werden kann. Die berufliche Karriere des Mannes ist jetzt so weit festgelegt, dass deren zukünftiger Verlauf in relativ geringer Schwankungsbreite voraussehbar geworden ist. Damit ist auch der soziale Status der Familie bestimmt und der finanzielle Rahmen, in dem die Familie leben wird, gesteckt. Die Polstergruppe ist angeschafft, der Fernsehaltar aufgebaut, das Einfamilienhäuschen geplant oder bezogen; es besteht kaum noch ein äußeres Ziel von einiger Relevanz, worauf das Paar hinlebt und wodurch es zusammengehalten und strukturiert wird. Die Kinder sind nicht mehr in einem Alter, in dem die Anwesenheit beider Eltern für deren Entwicklung unbedingt erforderlich ist. Während das Paar in der Aufbau- und Produktionsphase bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht worden war und beide Partner sich nach mehr Ruhe und Freizeit sehnten, breitet sich jetzt, wo dieser Zustand erreichbar wird, eine große Leere aus. Der gemeinsame Aufbau ist so weit gediehen, dass die Vollendung des Werkes das Paar nicht mehr zusammenschweißen wird.

Beide Partner haben ihre Identität wesentlich in der gemeinsamen Auseinandersetzung und in der gemeinsamen Aufgabenbewältigung gefunden. Jetzt haben sie eventuell Mühe, sich weiterhin auf dieses Selbstbild festlegen zu lassen. Sie verfallen einer Art zweiten Pubertät, einer zweiten Identitätskrise. Mit steigendem Freiheitsgrad schwindet der zwingende Anlass zur Identifikation mit der Ehe. Eventuell brechen starke Ressentiments gegen die Ehe aus. Man ist nicht mehr bereit, seine persönlichen Interessen der Ehe und der Familie unterzuordnen. Man möchte im Gegenteil diejenigen Lebensmöglichkeiten, die einem in der Solidarität mit dem Partner verbaut worden sind, nachholen. Man möchte man selbst sein können, ohne sich dem Partner anpassen zu müssen. Auf die eheliche Gleichwertigkeitsregel soll nicht mehr weiter Rücksicht genommen werden. Der Nachholbedarf verpasster und geopferter Lebensmöglichkeiten wird durch das bevorstehende Alter gewaltig gesteigert.

Die Situation ist in unserer Kultur für Mann und Frau trotz gleichartiger Züge verschieden.

Bei manchen Männern breitet sich eine Malaise aus, weil sie aus ihrem Leben nicht das machen konnten, was sie erwartet hatten, und mit dieser Tatsache noch 30 bis 40 Jahre zu leben haben. Sie finden ihr Leben und sich selbst nicht sinnvoll bestätigt und neigen dazu, die Schuld an ihrem Versagen der Ehe zuzuschieben, die sie in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung gehindert habe. Sie sind zu Hause missmutig und gereizt. Verhält sich die Frau besänftigend, so fühlen sie sich von ihr noch mehr in der verfehlten Identität gefangen. Wehrt sich die Frau aber dagegen, sich zum Sündenbock machen zu lassen, so spürt der sich unverstanden fühlende Mann nun erst recht das Bedürfnis nach einer verständnisvollen Geliebten, die ihn in seinem tragischen Los bedauert. Obwohl das Gegenteil zu erwarten wäre, sieht die Situation erfolgreicher Männer in dieser Phase nicht anders aus. Auch wenn all die hartumkämpften Berufsziele erreicht werden konnten, entsteht oft ein Gefühl des Unbehagens, der Leere und Depression. Die Schalheit von Erfolg, Prestige, Reichtum und Besitz wird spürbar. Es melden sich Zweifel, ob man sich unter Leben eigentlich das vorgestellt hat, was dabei herausgekommen ist. Es stellt sich die Frage, ob der große Einsatz, der zur Erreichung der gesteckten Ziele notwendig war, nicht ganz andere Lebensmöglichkeiten verpassen ließ. Man gesteht der Frau zwar zu, sich unter ihrem leitenden Halt eventuell über die eigenen Möglichkeiten hinausentwickelt zu haben. Dieser leitende Halt wird nun aber zur Zwangsjacke. Man möchte in gewissem Umfang auf Erfolg und Leistungsverpflichtung verzichten und mehr man selbst sein und das Leben genießen. Andererseits fällt es einem doch schwer, auf den Komfort, die Sicherheit und das Prestige zu verzichten, das man so hart erkämpfen musste. Manche geraten in eine Berufskrise, wechseln die Stelle oder sogar die Art der Tätigkeit und beginnen mit einer neuen Ausbildung.

Auf dem Gesicht der Frau werden die ersten Falten sichtbar. Der Mann stößt sich daran, aber nicht nur, weil die Frau deswegen weniger schön und jung wirken würde, sondern auch weil er das eigene Älterwerden weniger an sich selbst als vielmehr an seinem Gegenüber wahrnehmen wird. Eventuell muten ihn die Gesichtsfalten wie Narben der langjährigen Auseinandersetzungen an, Auseinandersetzungen, die tiefe Wunden geschlagen haben, die zwar vernarbt, aber nicht beseitigt worden sind. Wenn er sich nach einer jüngeren Frau sehnt, so geschieht das nicht nur, weil diese schöner wäre, sondern vielmehr, weil ihm diese das Gefühl vermittelt, selbst nochmals als Junger von vorne beginnen zu können, es diesmal besser zu machen und all die langjährigen Spannungen, unbefriedigenden Kompromisslösungen, gegenseitigen Verletzungen und resignierten Vorwürfe hinter sich lassen zu können. Manche gehen in dieser Phase eine außereheliche Beziehung ein oder streben eine Scheidung an. Sie hoffen, damit aus der festen Identität auszubrechen, die ihnen vom Partner auferlegt wird und die zu einem Standbild erstarrt ist. Sie möchten andere Lebensmöglichkeiten mit einem anderen Partner erproben. Die außereheliche Beziehung wirkt zunächst verjüngend und belebend und verleiht dem Leben neuen Sinn. Oft spielt sich dabei ein Prozess ab, der stark der Reise in ein fremdes Land gleicht: Zunächst ist man vom Andersartigen überwältigt, idealisiert all das Neue, fühlt sich wie neugeboren, bis dann nach einiger Zeit auch die Kehrseiten des Andersartigen deutlicher werden und man gerne wieder in die vertraute Heimat zurückkehrt. Das Eigene kann durch diese Reise kostbarer geworden sein. Man sieht es mit anderen Augen. Man hat sich selbst auf dieser Reise teilweise erneuert und erweitert, teilweise aber hat man auch gelernt, sich als etwas Kontinuierlich-Durchhaltendes zu akzeptieren und als sinnvoll bestätigt zu finden. Wenn jemand ins Ausland reist, besteht ein gewisses Risiko, dass er nicht mehr zurückkehren wird. Meist ist dieses Risiko aber nicht so groß, wenn ihm die Rückkehr nicht erschwert wird.

Diese Situation erfordert von der Ehefrau ein hohes Maß an Klugheit. Es wäre günstig, sie könnte diese Fremderfahrung auch für sich selbst als eine eventuell notwendige und sinnvolle Durchgangsphase akzeptieren. Wichtig scheint mir aber, dass sie dem Partner klarmacht, dass sie bei allem Verständnis und aller Nachsicht auf der Einhaltung oder Wiederherstellung einer klaren ehelichen Struktur bestehen wird, sonst werde sie die Ehe als gegenstandslos auflösen. Der Versuch, sich mit der außerehelichen Beziehung einzurichten und sich abzufinden, führt meist zu Konfusionen, Überforderung, verleugneter Eifersucht, Selbstzweifel und Degeneration der Ehe. Es wird damit die eheliche Strukturregel verletzt, was im Allgemeinen nicht mit einer einigermaßen glücklichen Ehe vereinbar ist. Ich werde aber unter ehelichen Dreiecksbeziehungen Fälle beschreiben, wo die Einbeziehung einer Geliebten die für alle Beteiligten akzeptabelste Lösung bildet.

Oft kommt es aus der beiderseitigen Ambivalenz, ob man sich trennen soll oder beieinanderbleiben will, zur Eifersuchts-Untreue-Kollusion, wo jedes das andere zu Reaktionen provoziert, die trennen und gleichzeitig zusammenhalten.

Für die Frau ist diese Phase in mancher Hinsicht schwieriger als für den Mann. Die Kinder entwachsen ihr, sie sieht keine lohnende Aufgabe mehr vor sich, sie kann sich zwar wieder einer Berufstätigkeit zuwenden, die aber oft eher den Charakter einer Beschäftigung hat, da sie darin bei weitem nicht denselben Status erringen kann wie der Mann, der seine Karriere über 20 bis 30 Jahre systematisch aufbauen konnte. Oder sie beginnt eine berufliche Aus- und Weiterbildung und muss dabei ganz unten anfangen, in Kursen, deren Teilnehmer altersmäßig eventuell ihre Kinder sein könnten. Dazu kommt, dass sie körperlich in dieser Phase als weniger attraktiv betrachtet wird als der Mann und auch die körperlichen Veränderungen des Klimakteriums, insbesondere der Verlust der Menstruation, ihr ein Gefühl des Verblühens geben. Es besteht die Gefahr, dass sie verbittert feststellen wird, ihre besten Jahre der Familie geopfert zu haben, die sich jetzt auflöst. Die Kinder verlassen sie, der Mann missachtet sie, sie fühlt sich allein. Manche Frauen allerdings empfinden in dieser Lebensphase eine Belebung: Endlich können sie sich frei zu Tätigkeiten fühlen, die ihnen durch die Auferziehung von Kindern versagt waren. Beglückt über die gewonnene Freiheit engagieren sie sich in einer Berufsarbeit.

Die Gleichwertigkeitsregel ist in dieser Phase extrem gestört. Der Mann steht im Zenit seines Erfolges, während die Frau oft mit leeren Händen dasteht und sich aller Dinge beraubt fühlt, die ihr zuvor Inhalt und Status verliehen haben. Die eheliche Beziehung wird schief und droht zu degenerieren, weil die Frau in der dyadischen Dynamik nicht mehr als ebenbürtiger Partner mitspielen kann. In ihrer benachteiligten Position wird sie es schwer über sich...

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