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Vergesst Auschwitz!

Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage

AutorHenryk M. Broder
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641068165
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Vergesst Auschwitz - bevor es zu spät ist!
Die Deutschen leiden an Hitler wie andere an Schuppenflechte. Aus dem Versuch, sich gegen die eigene Geschichte zu immunisieren, ist eine Autoimmunerkrankung geworden. Ob es um den Einsatz in Jugoslawien oder in Afghanistan geht, um Atom- oder Gentechnik, Stammzellen, Sterbehilfe - immer steht das Nazi-Menetekel an der Wand und fordert seinen Tribut. Das ritualisierte Gedenken verschafft keine Erleichterung, es ist nicht mehr als eine leere Geste, eine Ablenkung von der Gegenwart - oder noch Schlimmeres.

Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz/ Polen, ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Seine Hauptthemen sind Judentum, Islam, Nationalsozialismus und die deutsche Linke. Broder schreibt für die 'Welt' sowie für den politischen Blog 'achgut.com'. Er lebt in Berlin und Virginia/USA.

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Leseprobe

Abbildung 3

Die Klagemauer von Köln oder: Gute Juden, böse Juden

Es ist Zeit für eine Klarstellung: Nicht jeder Deutsche ist ein Antisemit. Wahrscheinlich nicht einmal jeder zweite. Schlimmstenfalls jeder dritte, was immerhin bedeuten würde, dass zwei von drei Deutschen keine Antisemiten sind. So wie bei den letzten einigermaßen freien Wahlen zum Reichstag 1932 jeder dritte Wähler seine Stimme der NSDAP gab. Die Nazis waren eine Minderheit, die nur deswegen die Macht ergreifen konnte, weil die Mehrheit ihr das Feld überließ. Deswegen sind Zahlen für die Beurteilung des sozialen Klimas nicht allein entscheidend.

Es gibt keinen Ur-Meter, mit dem man Antisemitismus messen könnte, und keinen Lackmustest für Antisemiten. In den einschlägigen Untersuchungen ist immer von 20 bis 30 Prozent die Rede, wobei zwischen »latenten« und »manifesten« Antisemiten unterschieden wird. Ich habe solchen Untersuchungen immer misstraut. Ist jemand ein »latenter« Antisemit, der Juden umbringen möchte, und ein »manifester«, der es schon getan hat? Es kommt natürlich auch auf die Fragestellung an. Eine Standardfrage lautet: Glauben Sie, dass die Juden zu viel Einfluss haben? Wer sie mit »Ja« beantwortet, hat sich als Antisemit geoutet. Was aber, wenn einer »Nein« sagt und »eher zu wenig« hinzufügt? Ist er dann ein Philosemit oder wollte er den Interviewer nur reinlegen? Es gibt überzeugte Antisemiten und Gelegenheitsantisemiten, degenerierte und promovierte, habituelle und intellektuelle. »Der Antisemitismus ist das ›Gerücht über die Juden‹«, sagt Adorno. »Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls«, soll Bebel gesagt haben. »Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es normal ist«, witzeln die Amerikaner. Wer »Gefilte Fisch« nicht mag, Klezmer-Musik nicht erträgt und nur ungern mit der El Al fliegt, ist deswegen noch lange kein Antisemit. Wer aber bei »Spekulanten« sauber zwischen jüdischen und allen anderen unterscheidet, wer alle Berichte über Bernie Madoff gesammelt hat und überzeugt ist, dass in den Twin Towers keine Juden ums Leben gekommen sind, weil sie rechtzeitig gewarnt wurden, der ist nicht mehr über jeden Verdacht erhaben.

Und wer auf einem »Free Gaza«-Schiff anheuert, um den Not leidenden Palästinensern abgelaufene Medikamente und altes Kinderspielzeug zu bringen, während ihm das, was in Libyen, Syrien und Ägypten passiert, am Gemüt vorbeigeht, der ist kein »Israelkritiker« auf humanitärer Mission, sondern ein ganz gewöhnlicher Antisemit, dessen »Gewissen« nur dann anschlägt, wenn er sich über Juden empören kann.

Es ist also ziemlich einfach: Ein Antisemit hat eine negative Liebesaffäre mit Juden. Er setzt ihnen nach, sucht ihre Nähe, wie ein Vampir, der sich im Schutz der Dunkelheit an seine Opfer heranschleicht. Die Tarnung des Antisemiten ist sein Mitgefühl für die Palästinenser, aber nur für diejenigen, die von den Zionisten drangsaliert werden. Das Wenige, das ihm an Empathie übrig bleibt, widmet er toten Juden. Unter den deutschen Aktivisten auf der »Mavi Marmara«, die Ende Mai 2010 von der israelischen Marine vor Gaza aufgebracht wurde, war auch ein deutscher Politiker, Norman Paech von der Linkspartei, Mitglied im »Auschwitz Komitee«, das sich dem Andenken der ermordeten Juden widmet. Nachdem er aus Israel abgeschoben worden war, präsentierte er sich bei seiner Heimkehr wie ein Überlebender und behauptete, »deportiert« worden zu sein. Deportiert. Weniger war nicht drin. Als Opfer der Zionisten hatte er mit den Juden gleichgezogen, derer er im »Auschwitz Komitee« gedachte.

Wie man Auschwitz und Gaza auf einen Nenner bringen kann, demonstrierte ein anderer »Israelkritiker« mit diesen Sätzen: »Die Verbrechen an den Juden haben ein Recht auf einen angemessenen Platz in der Geschichte. Sie haben ein Recht darauf, dass man an sie denkt und sich ihrer als Warnung erinnert – auch als Warnung vor Verbrechen der Juden. Denn sonst wäre das Opfer Millionen jüdischer Menschen völlig umsonst gewesen.«

Das ist deutsche Erinnerungskultur im Hardcore-Format: Die Verbrechen an den Juden als Warnung vor den Verbrechen der Juden. Geschafft! Es steht eins zu eins. Bald wird es heißen: Wer über Gaza nicht reden will, der soll von Auschwitz schweigen.

Und wer in Köln mit dem Zug ankommt und den Hauptbahnhof durch den Vorderausgang verlässt, der ahnt nicht, dass ihn gleich eine »Installation« erwartet, die wie eine verspätete Ausgabe des »Stürmer« anmutet. Der Bahnhofsplatz ist schon eine Weile verkehrsberuhigt. Der Umbau hat lange gedauert. Etwa so lange, wie die Chinesen brauchen, um einen Großflughafen aus dem Boden zu stampfen. Die Kölner sind sehr stolz auf ihren neuen Hauptbahnhof, aber das kommt vor allem daher, weil die meisten von ihnen noch nie in Leipzig, Dresden oder Uelzen waren. Links vom Bahnhof steht der Kölner Dom, das Beste, was die Stadt zu bieten hat, von solchen Delikatessen wie dem »Halven Hahn«, »Kölschen Kaviar« und »Himmel un Äd met jebrodener Flönz« mal abgesehen. Über eine steile Treppe kommt man auf die Domplatte. Hier haben es die Skater auf die Fußgänger abgesehen. Bevor man weitergeht, sollte man wenigstens das Gebet aufsagen, das jeder Kölner spricht, bevor er in die U-Bahn steigt: »Et kütt wie et kütt, un et hätt noch immer jot jejange.«

Dort, wo die Domplatte endet und die Fußgängerzone mit Lacoste, Louis Vuitton, Esprit, 4711, Aigner, Starbucks und Merzenich beginnt, stehen zwei Männer im lässigen Verwahrlostenlook und halten zwei Plakate in die Höhe. Auf dem einen steht: »Israel’s aggressive Besatzungs- & Siedlungs-Politik ist das Problem! Warum greift die UN nicht ein?« Auf dem anderen: »Landraub, Massaker, Vertreibung: Wie die USA mit den Indianern, so Israel mit den Palästinensern.« Der Mann zur Rechten heißt Walter Herrmann, ist 72 Jahre alt und soll mal als Lehrer an einer Volksschule gearbeitet haben. Ende der achtziger Jahre wechselte er den Beruf und wurde politischer Aktivist. Nachdem er seine Wohnung durch Zwangsräumung verloren hatte, richtete er an einer belebten Kreuzung in der Innenstadt eine »Klagemauer zur Wohnungsnot« ein. Während des Golfkrieges 1991 verlegte Herrmann seine Protestaktion auf die Domplatte und benannte sie um: »Klagemauer für den Frieden«. 1998 wurde ihm der »Aachener Friedenspreis« verliehen. Im Sommer 2004 rückte er die Lage in Palästina in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Seitdem sprechen die Kölner von einer »Palästinawand«. Denn Herrmann ergreift eindeutig Partei, für die Palästinenser und gegen die Israelis, denen er Völkermord an den Palästinensern vorwirft, die unter der israelischen Besatzung so leiden müssten wie die Juden unter den Nazis.

Seitdem ist die »Kölner Klagemauer«, wie die Installation auch genannt wird, zu einem Politikum geworden. Was in Köln so viel bedeutet, dass die einen »Jede Jeck is anders« sagen und die anderen staunen: »Dat der dat darf!« Walter Herrmann selbst hält sich an das Sprichwort: »Do kanns mich krützwies am Aasch lecke!« Jeden Tag kommt er auf seinem Fahrrad mit Anhänger zur Domplatte geradelt, baut die mobile »Klagemauer« auf und bezieht Stellung. Abends, wenn es dunkel wird, baut er das Ganze wieder ab und radelt heim, wohin auch immer. Bei schlechtem Wetter bleibt er zu Hause und »aktualisiert« sein Werk. Im Januar 2010 fand er in einer Zeitschrift ein Foto, das er sofort kopierte, vergrößerte und in die »Klagemauer« einbaute. Auf dem Bild ist eine korpulente, aber kopflose Gestalt zu sehen, die sich daranmacht, ein auf einem Teller vor ihr liegendes Kind mit Messer und Gabel zu zerstückeln. Auf dem Messer steht das Wort »GAZA«, neben dem Teller ein mit roter Flüssigkeit – Blut? – gefülltes Glas; die Gestalt trägt ein Lätzchen um den Hals, auf dem ein Davidstern prangt.

Man muss nicht Abonnent des »Stürmer« gewesen sein, um zu erkennen, von welchem Geist diese Zeichnung inspiriert worden ist. Sie ist so eindeutig antisemitisch, wie das Kölsch obergärig ist. »Ich bin nicht der Meinung, dass Antisemitismus durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist«, sagt Gerd Buurmann. 1976 im Emsland geboren, hat er Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft studiert. Seit 2001 lebt er als Theaterleiter und Schauspieler in Köln. Eines Tages zu Beginn des Jahres 2010 ging Buurmann mit seiner Frau am Dom spazieren. Das Paar blieb an der »Klagemauer« stehen. Buurmann sah das Gaza-Bild, zog sein Handy aus der Manteltasche und wählte 110. »Für mich war das ein Notfall.«

Minuten später waren zwei Polizisten da. Ein wenig widerwillig schrieben sie eine Anzeige wegen Volksverhetzung auf. Die Staatsanwaltschaft nahm sich der Sache an, prüfte und kam im April zu dem Ergebnis, der Tatbestand der Volksverhetzung sei nicht erfüllt. Es werde »nicht verkannt«, teilte der ermittelnde Staatsanwalt dem Anzeigenerstatter Buurmann mit, dass das Plakat »schmerzliche Erinnerungen an die antijüdischen Ritualmordlegenden aus dem Mittelalter und an hetzerische Bilddarstellungen von Juden aus der Zeit des Nationalsozialismus wachrufen kann«, aber es fehle ihm »an bestimmten anatomischen Stereotypen, die den Juden schlechthin charakterisieren sollen«, unter anderem an der »Krummnase«. Der Bescheid der Staatsanwaltschaft ergänzt die Zeichnung in kongenialer Weise. Wo keine »Krummnase« zu sehen ist, kann es auch keinen Antisemitismus geben. Die Karikatur sei zwar »israelfeindlich, aber nicht antisemitisch«.

Der Kölner Hausfrau Monika Schmitz, die ebenfalls Anzeige erstattet hatte, teilte die Staatsanwaltschaft mit, sie sei überhaupt nicht »strafantragsberechtigt«, da sie weder Jüdin noch...

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