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Wie wir im Internet entmündigt werden

AutorEli Pariser
VerlagCarl Hanser Fachbuchverlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783446431164
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Google und viele andere große Plattformen treiben die Entwicklung zur 'Personalisierung' massiv voran: Die Nutzer bekommen im Internet nur noch das zu sehen, was zu ihrem Profil passt. Das kann sinnvoll sein: Bei der Eingabe des Stichwortes 'Golf' erfährt der passionierte Golfer alles über seine Lieblingssportart, während der Autonarr nur Informationen zum VW Golf geliefert bekommt. Doch politisch sind die Folgen gravierend: Wir erhalten nur noch Nachrichten, die zu unseren angestammten Überzeugungen passen, abweichende Standpunkte gehen an uns vorbei. Und weil wir nicht wissen, welche Informationen gefiltert sind, merken wir es nicht einmal. Eli Pariser wendet sich in seinem Buch mutig gegen die rücksichtslosen Big Player des Internets, die Meinungsvielfalt und breite politische Diskussionen auf dem Altar ihres Profits opfern.

Eli Pariser ist Board President und früherer Executive Director von MoveOn.org, einer Internet-Plattform mit 5 Millionen Mitgliedern, die durch ihre Opposition zur Bush-Regierung bekannt wurde. Seine Beiträge sind in der Washington Post erschienen, der Los Angeles Times und dem Wall Street Journal.

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Leseprobe

1 DER KAMPF UM AUFMERKSAMKEIT


Wenn du für etwas nichts bezahlst, bist du nicht der Kunde, sondern das Produkt, das verkauft wird.

Andrew Lewis, alias Blue_beetle, auf der Website MetaFilter1

Im Frühjahr 1994 saß Nicholas Negroponte am Schreibtisch und dachte nach. Im Medienlabor des Massachusetts Institute of Technology arbeiteten Negropontes Schüler, junge Chipentwickler und Virtual-Reality-Künstler, eifrig an neuen Spielzeugen und Werkzeugen der Zukunft. Negroponte aber sann über ein einfacheres Problem nach, das viele Millionen Menschen kennen: Was sehe ich mir nur im Fernsehen an?

Mitte der 1990er-Jahre gab es Hunderte Kanäle, die jeden Tag 24 Stunden Liveprogramm sendeten, an allen sieben Tagen der Woche. Die meisten Sendungen waren grauenhaft langweilig: Werbesendungen für neue Küchengeräte, Musikvideos der neuesten One-Hit-Band, Zeichentricks und Promi-News. Für den einzelnen Zuschauer war nur ein kleiner Prozentsatz des Programms von Interesse.

Die Zahl der Sender stieg stetig, und wie üblich durch die Programme schalten zu wollen, wurde immer mehr zu einem hoffnungslosen Unterfangen. Bei fünf Programmen mag das noch gehen, bei 500 wird es schwer. Und wenn erst 5000 im Angebot sind, wird Zappen endgültig zwecklos.

Aber Negroponte hatte eine Lösung vor Augen. »Um das Fernsehen der Zukunft zu begreifen«, schrieb er, »darf man sich Fernsehen nicht mehr als Fernsehen vorstellen«, und muss sich stattdessen ein Gerät mit eingebauter Intelligenz vorstellen. Die Konsumenten bräuchten eine Fernbedienung, die sich selbst programmiert, einen intelligenten automatischen Helfer, der behält, was der einzelne Zuschauer sich ansieht, und die Programme erkennt, die für ihn interessant sein könnten. »Ihr heutiger Fernsehapparat erlaubt Ihnen die Einstellung von Helligkeit und Lautstärke sowie die Wahl der Kanäle. Bei einem Fernsehgerät der Zukunft werden Sie zwischen Sex, Gewalt und verschiedenen politischen Tendenzen hin und her schalten können.«2

Und warum dort aufhören? Negroponte dachte sich eine Zukunft mit einem ganzen Schwarm intelligenter Agenten, die einem bei Problemen wie der TV-Programmauswahl helfen. Wie ein Butler an der Haustür würden sie nur die Lieblingssendungen und Themen des einzelnen Zuschauers einlassen. »Stellen Sie sich eine Zukunft vor«, schrieb Negroponte, »in der Sie über einen Interface-Agenten verfügen, der für Sie jede Nachricht und jede Zeitung, jedes Fernsehprogramm und jede Radiosendung weltweit empfangen kann und Ihnen daraus eine persönliche Zusammenfassung erstellt. Diese ›Zeitung‹ können Sie sich dann in einer Auflage von einem Exemplar drucken lassen.«3

Je mehr Negroponte über seine Idee nachdachte, umso mehr Sinn ergab sie. Die Lösung für den Informationsüberfluss des digitalen Zeitalters waren intelligente, personalisierte, eingebaute Vermittler. Der Einsatz dieser Agenten müsste aber nicht auf das Fernsehen beschränkt bleiben. So schrieb Negroponte dem Herausgeber des damals neuen Technologiemagazins Wired: »Intelligente Agenten sind eindeutig die Zukunft des Computerwesens.«4

In San Francisco reagierte Jaron Lanier mit Missfallen auf diese Äußerungen. Lanier war ein Entwickler von Virtual-Reality-Anwendungen und bastelte seit den 80er-Jahren an Möglichkeiten, Menschen und Computer zusammenzubringen. Aber die Idee der Agenten erschien ihm verrückt. »Was ist nur in euch gefahren?«, schrieb er in einer Botschaft an die »Wired-style community« auf seiner Website. »Die Idee der ›intelligenten Agenten‹ ist falsch und bösartig … Das Problem der Agenten baut sich zu einem entscheidenden Faktor auf, wenn es darum geht, ob das Netz viel besser oder viel schlechter als das Fernsehen sein wird.«5

Lanier war davon überzeugt, dass die Agenten, die ja keine Personen sind, uns Menschen dazu zwingen würden, auf unangenehm verpixelte Art mit ihnen in Kontakt zu treten. »Die Vorstellung des Agenten von dem, was einen interessiert, wird ein Cartoonmodell sein, und durch die Augen des Agenten bekommt man eine Cartoonversion der Welt zu sehen.«

Und es gab ein weiteres Problem: Der perfekte Agent würde wahrscheinlich auch einen Großteil der Werbung aussperren. Da aber der Internetverkehr durch Werbung angetrieben wird, würden die Unternehmen wohl kaum Agenten entwickeln, die ihrem Profit im Wege stünden. Viel eher würden diese Agenten, so Lanier, doppelte Verpflichtungen haben und damit erpressbar sein. »Es ist nicht klar, für wen sie arbeiten.«

Laniers Kommentar war ein klarer und eindrücklicher Appell. Er regte Diskussionen in Newsgroups an, die Softwaregiganten des frühen Internetzeitalters überzeugte er jedoch nicht. Sie waren von Negropontes Logik eingenommen: Das Unternehmen, das eine Methode fände, den digitalen Heuhaufen nach den Goldklumpen zu durchsuchen, würde der Gewinner der Zukunft. Man sah den Attention Crash, den Information Overflow kommen, denn die dem Einzelnen zur Verfügung stehende Informationsmenge wuchs ins Unermessliche.

Wenn man daraus Profit schlagen wollte, musste man die Menschen zum Einschalten bringen. In einer aufmerksamkeitsdefizitären Welt tat man das am besten, indem man Inhalte lieferte, die den besonderen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen des Einzelnen entgegenkamen. In den Fluren und Datencentern des Silicon Valley gab es eine neue Parole: Aufmerksamkeit gewinnen.

Alle bemühten sich, ein neues »intelligentes« Produkt auf den Markt zu bringen. Microsoft stellte Bob vor – ein ganzes Betriebssystem, das auf dem Konzept des Agenten basierte, präsentiert durch einen seltsamen, cartoonartigen Avatar mit einer unangenehmen Ähnlichkeit mit Bill Gates. Mit Cupertino führte Apple beinahe ein Jahrzehnt vor dem iPhone den Newton vor, einen persönlichen digitalen Assistenten, dessen größtes Verkaufsargument der pflichtbewusst unter der grauen Oberfläche bereitstehende Agent war.

Doch die neuen intelligenten Produkte waren ein Reinfall. In Chatgruppen und auf E-Mail-Listen lästerte man emsig über Bob. Die Nutzer konnten ihn nicht ausstehen. PC World kürte ihn zu einem der schlechtesten 25 Hightech-Produkte aller Zeiten.6 Und dem Apple Newton erging es nicht besser: Obwohl das Unternehmen 100 Millionen Dollar in die Produktentwicklung gesteckt hatte,7 verkaufte der Newton sich in den ersten sechs Monaten nach seiner Einführung nur schlecht. Bei der Benutzung der intelligenten Agenten der 90er-Jahre wurde schnell klar, warum ihr Erfolg so gering blieb: Sie waren gar nicht klug.

Heute, ein Jahrzehnt und eine Entwicklung weiter, sind intelligente Agenten immer noch nicht wieder aufgetaucht. Der von Negroponte vorhergesagte Aufstieg des intelligenten Agenten ist scheinbar gescheitert. Wir geben nicht morgens nach dem Aufstehen einem E-Butler Anweisungen zu unseren Plänen und Wünschen des bevorstehenden Tages.

Aber das heißt nicht, dass es diese Assistenten nicht gäbe. Sie agieren versteckt. Persönliche digitale Assistenten befinden sich unter der Oberfläche jeder Website, die wir besuchen. Sie werden mit jedem Tag klüger und mächtiger und sammeln mehr und mehr Informationen darüber, wer wir sind und wofür wir uns interessieren. Wie Lanier prophezeit hat, arbeiten die Agenten nicht nur für uns: Sie arbeiten außerdem für Softwaregiganten wie Google und sortieren Werbung wie Inhalte. Ihnen fehlt zwar Bobs Cartoongesicht, aber sie steuern einen wachsenden Anteil unserer Online-Aktivitäten.

1995 stand der Kampf um Aufmerksamkeit erst am Anfang. Er hat wohl mehr als jeder andere Faktor dazu beigetragen, das uns heute bekannte Internet zu formen.

Das John-Irving-Problem


Jeff Bezos, CEO von Amazon.com, erkannte als einer der Ersten, dass man sich die Macht der Aufmerksamkeit zunutze machen konnte, um mehrere Milliarden Dollar einzunehmen. 1994, in der Startphase seines Unternehmens, hatte er die Vision, den Online-Buchverkauf wieder in die Zeit zurückzubringen, »als es noch kleine Buchläden gab, in denen man persönlich beraten wurde. Ein Buchhändler, der seine Kunden gut kennt, würde zum Beispiel sagen: ›Du magst doch John Irving, oder? Ich habe hier ein Buch von einem neuen Autor, der schreibt ganz ähnlich.‹«8 Aber wie sollte man so etwas auf Massenbasis leisten? Bezos sah in Amazon eine Art »Forschungsgruppe zur künstlichen Intelligenz«9. Die das Unternehmen steuernden Algorithmen sollten in der Lage sein, Kunden und Bücher unmittelbar zuzuordnen.

Als junger, für Wall-Street-Unternehmen tätiger Computerexperte war Bezos 1994 von einer Wagniskapitalgesellschaft angeheuert worden, um Geschäftsideen für den expandierenden Webspace zu entwickeln. Er ging methodisch vor, listete 20 Produkte auf, die man theoretisch online verkaufen könnte – Musik, Kleidung, Elektronik –, und arbeitete sich dann in die Dynamik jeder Branche ein. Bücher standen anfangs ganz unten auf seiner Liste, doch als Bezos seine Rechercheergebnisse einarbeitete, wanderten sie zu seiner eigenen Überraschung auf Platz eins.

Bücher waren aus mehreren Gründen ideal. Erstens war die Buchbranche dezentralisiert. Der größte Verlag, Random House, kontrollierte nur zehn Prozent des Buchmarkts. Wenn ihm ein Verlag keine Titel verkaufen würde, gäbe es noch genug andere. Und die Kunden müssten sich nicht lange an den Online-Kauf von Büchern gewöhnen – ein Großteil des Buchverkaufs lief bereits außerhalb von traditionellen Buchläden, und außerdem musste man Bücher nicht erst anprobieren wie Kleider. Bücher waren aber vor allem auch deshalb attraktiv,...

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