Wunschkandidatin
Wenn man verzweifelt versucht, das Leben, die Finanzen, eine Arbeit in den Griff zu kriegen, ist man leichte Beute für skrupellose Menschen. Mit feinen Antennen spüren sie die Hilflosigkeit beim anderen und suchen auf ausgesprochen freundliche Weise die Nähe zu denen, die unter erheblichem Druck stehen.
Ich bekam einen Anruf von einem Herrn, der mich mit »Guten Abend, Frau van Laak, wie schön, dass ich Sie gleich am Telefon habe« begrüßte. Wie schön, dass er mich überhaupt erreichte, denn drei Wochen später waren auch eingehende Anrufe über unseren Telefonanschluss nicht mehr möglich.
Der Mann stellte sich als Abteilungsleiter eines großen Versicherungsunternehmens vor. Die Stimme klang zugewandt und vernünftig, in wenigen Sätzen hatte er mir erklärt, dass sein Unternehmen mich im Rahmen der Personalentwicklungsoffensive gezielt anspreche. In ihren Augen sei ich eine geeignete Kandidatin, komplexe, erklärungsbedürftige Versicherungsprodukte an bestehende Kunden, vor allem junge Familien, zu verkaufen. Die Provisionen seien erfolgsabhängig und würden sehr hoch ausfallen. Ob wir uns einmal kennenlernen wollten?
»Woher haben Sie denn meinen Namen und meine Nummer?«
»Frau van Laak, das darf ich Ihnen noch nicht sagen, es handelt sich um eine Empfehlung.«
»Wer hat mich denn empfohlen?«
»Frau van Laak, bitte haben Sie Verständnis, die Person wollte nicht genannt werden, war sich aber sicher, dass Sie genau in unser Anforderungsprofil passen und unserem guten Angebot gegenüber aufgeschlossen seien.«
Wer wusste von unseren Verwicklungen? Wir versuchten alles, um die brüchige Wahnsinnswelt, in der wir uns zappelnd bewegten, vor allen anderen zu verheimlichen.
Das war kein blinder Aktionismus, der meinen aktuellen Alltag prägte, sondern pure Überlebensstrategie. Wäre ich zuvor im Denken und Handeln selbständiger gewesen, hätte ich die monetäre und persönliche Pleite erstens eher kommen sehen und daher bessere Vorkehrungen treffen können und zweitens mit größerer Entschiedenheit das Schlimmste von den Kindern und mir abgewendet. Hätte, hätte, hätte – den Konjunktiv gewöhnte ich mir schnell ab.
Mit kühlem Kopf und flatterndem Herzen leitete ich sofort das Nötigste in die Wege: Wechsel der Krankenkasse, Anträge auf Ermäßigung beim Kindergarten und der Schule. Bitten um Aufschub bei der Begleichung von Telefon-, Gas-, Wasser-, Stromrechnungen. Kündigen sämtlicher Abonnements, sogar Abmeldung der Papier- und Wertstofftonne. Musikschule, Sportverein, Kinderballett, Malkurs – alles musste abgestellt werden. Die wöchentliche Lieferkiste mit Bio-Gemüse und Frischmilch? Weg damit. Einkaufen bei Kaisers? Die nächsten fünf Jahre sollte ich keinen Fuß mehr in diesen Supermarkt setzen. Aldi war angesagt, und dort konnte ich auch nur das Nötigste einkaufen. Die nächsten Friseurtermine? Konnte ich knicken. (Ich wurde dann halt Haar-Modell für die Azubis, um kein Geld fürs Haareschneiden mehr ausgeben zu müssen. Allerdings fielen mir nach einigen Monaten vor lauter Stress die Haare in Büscheln aus, so dass ich als Übungsobjekt nicht mehr in Frage kam. Die neue Friseurin, zu der ich später ging, fragte mich bei meinem ersten Besuch teilnahmsvoll, ob ich die Chemo gut vertragen hätte.)
Wie kam der Herr am Telefon nun gerade auf mich? Hatte da jemand, der von meiner misslichen Lage etwas mitbekommen hatte, dem Unternehmen einen Tipp gegeben? Das wäre ja nett, aber warum gab dieser Jemand seinen Namen nicht preis?
Während ich noch zwischen Misstrauen und Freude über die Empfehlung schwankte, sortierte ich schnell die in Frage kommenden Personen im Kopf. Aus dem Kontext der Schule? Nein, dort waren alle peinlich berührt vom Lauf der Dinge. Gemeinde? Niemand wusste es, vielleicht ahnte die Gemeindereferentin etwas; die hatte zwar einen guten Draht zum lieben Gott, ganz bestimmt jedoch nicht zur Versicherungswirtschaft. Eine Freundin? Hätte sie mir gesagt. Wollte einfach jemand, dass ich endlich den Sprung zurück ins Berufsleben schaffte?
Als junge Studienabsolventin war ich nach nur zwei Jahren Vollzeit-Berufsleben bereits Mutter geworden. Mein Ansatz zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie war damals sehr pragmatisch: Baby in die Krippe und weiterarbeiten. Schon in weniger als zwei Jahren war das zweite Kind da. Ich fand eine patente Tagesmutter, die beide Kinder betreute. Dann kündigte sich das dritte Kind an, es wurde langsam eng. Ich reduzierte auf eine Zweidrittelstelle, hatte jedoch nicht mit einem Säugling gerechnet, der viel schrie und ständig krank war.
Mit drei kleinen Kindern und sporadischem Arbeiten auf Stundenbasis vollzog sich ein schleichender Wandel von der gut ausgebildeten, praxisorientierten Geisteswissenschaftlerin hin zu einer jungen Mutter, die von ihrer Umgebung, ihrem Mann und von sich selbst (!) immer mehr auf Kinder, Küche, Kirche reduziert wurde. Meine Mutter, die selbst immer für ihre berufliche Eigenständigkeit in ihrer Ehe gekämpft hatte, bezeichnete all dies treffend als »Frauenfalle«. Als das vierte Kind auf die Welt kam, war ich komplett weggeschlossen, und im Rückblick weiß ich: Ich fühlte mich unendlich einsam. Wenn ich herauskam, dann als Begleitung des Ehemannes. Meine Fähigkeiten lagen völlig brach – mal von meinem von den Frauen mütterlicherseits an mich weitergegebenen Talent, Kinder zu erziehen, abgesehen.
Wenn ich mich auf Ausstellungseröffnungen, Einweihungen oder Botschafter-Dinners in Diskussionen einbringen wollte, hörte mir niemand richtig zu. Stumm beobachtete ich das Aufplustern und Angeben der Männer rings um mich herum, und machte ich einmal eine scharfe treffende Bemerkung, schien sie niemand wahrzunehmen. Mir war eine bestimmte Rolle zugedacht, und nach einigen erfolglosen Anläufen, andere Facetten meiner Person zu leben, wagte ich es schließlich nicht mehr, über den sorgfältig um mich herum gebauten – zweifelsohne hübschen und soliden – Zaun zu klettern.
Und nun dieser Anruf, der mir, nur mir galt. Weil ich die Wunschkandidatin des Unternehmens sei. Kein Wunder, dass ich mich von dem Anrufer, der mich angeblich gezielt meiner Fähigkeiten wegen ausgesucht hatte, geschmeichelt fühlte. Meine Sehnsucht, mich endlich ungebremst entfalten zu können, war riesig – die perfekte Antriebsfeder in einer fast ausweglosen, chaotischen Situation kurz vor der Zwangsräumung der Villa. Andere wären an meiner Stelle vielleicht einfach nur zusammengebrochen.
»Frau van Laak, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie kommen in unser Berliner Büro, und wir besprechen alles Weitere. Dann kann ich Ihnen auch den Namen der Person sagen, die Sie uns wärmstens empfohlen hat.«
Das klang sehr vernünftig, fand ich. Die Aussicht auf einen gutbezahlten Job war wunderbar. Nun musste ich nur noch genauer wissen, um was für ein Versicherungsunternehmen es sich handelte. Der Anrufer reagierte etwas ausweichend, nannte dann schließlich nach meinem mehrmaligen Nachfragen den Namen des Mutterkonzerns – es handelte sich um eine traditionsreiche, große, deutsche Lebensversicherung. Gut, ich war beruhigt. Die kannte ich, Reklame aus der Kindheit blitzte in meinem Gedächtnis auf, ich freute mich auf den Termin.
Zwei Tage später stand ich an einem Vormittag – die Kinder wusste ich gut in Kindergarten und Schule versorgt – vor einem achtstöckigen Bürogebäude in der Kurfürstenstraße. Draußen fanden sich keine Schilder, ich ging erst einmal hinein in das kleine Foyer. Grauer glänzender Marmor, seltsam anonym, ein überdimensionierter Handlauf aus poliertem Metall. Auf dem Firmenwegweiser aus Plexiglas gab es viele Lücken, ganz oben stand der Name des Versicherungsunternehmens und daneben drei große Buchstaben. Über dem letzten Buchstaben schwebte eine glänzende goldene Kugel. Ein Zettel flatterte an der Wand neben dem Aufzug: »Bewerber bitte im 7. OG melden«. Der Lift schoss mit mir hinauf und entließ mich in einen dunklen, kleinen Vorraum. Zwei Meter weiter befand sich eine Glastür, rechts davon eine Klingel. Durch die Scheiben sah ich einen großen Flur, durch den ständig schwarze und graue junge Anzugmänner huschten. Die Anzüge wirkten vollkommen identisch auf mich, handelte es sich um Arbeitsuniformen? Der graue Nadelfilz dämpfte das energische Klack-Klack der schwarzen Schuhe, die geschickt mehrere kleine Vitrinen auf hüfthohen Sockeln umschifften. Die Vitrinen waren wie Kundenstopper an allen möglichen Stellen im Flur aufgestellt. Nirgends sah ich eine Frau.
Ich klingelte. Keiner der Anzugmänner schaute auf, stattdessen bog aus einer offenen Bürotür links ein weiterer Anzugmensch hervor. Er war etwa Mitte fünfzig und machte sich schnell seinen Sakko-Knopf zu, bevor er mir die Tür öffnete. Er strahlte mich an, die Jacke spannte heftig über seinem Bauch.
»Frau van Laak, wie schön, dass Sie zu uns gefunden haben! Schuster mein Name, kommen Sie, kommen Sie, wir gehen gleich hier hinein. Herr Franken kommt auch gleich. Kaffee? Weiß oder schwarz?«
Ich folgte dem kleinen rundlichen Mann die wenigen Meter in das Büro. 08/15-Einrichtung, Kalender an der Wand, keine Grünpflanzen, spartanisch und praktisch eingerichtet. In der Ecke stand ein verschließbarer Aktenschrank. Auf der grauen Schreibtischfläche stand ein goldfarbenes Modellauto, ein Mercedes Cabriolet, so viel konnte ich erkennen.
Ich nahm Platz und bekam einen lauwarmen Kaffee in einem braunen Plastikbecher, der sofort einknickte, als ich ihn in die Hand nahm. Vorsichtig stellte ich ihn wieder ab. Herr Schuster saß mir gegenüber und wirkte fahrig auf mich, seine kleinen Augen purzelten...