Vorwort
Das ganze Leben ist ein ewiges
Wiederanfangen.
Hugo von Hofmannsthal
Die Vormittage gehören André Heller allein. An Vormittagen nimmt er keine Anrufe entgegen, vereinbart er keine Termine, sagt nicht Bescheid, wo er ist. Manchmal arbeitet er, manchmal liest er ein Buch, manchmal, wenn es abends spät geworden ist oder der Schlaf sich nicht wie gewünscht einstellen wollte, bleibt er im Bett. Die Nächte, sagt Heller, sind ruhiger geworden, seit er das so hält. Selbst wenn er, ein schweres Kissen auf den Füßen, auf dem Rücken liegt und an die Decke seines Schlafzimmers starrt, weiß er, dass er den nächsten Tag erst beginnen muss, wenn er sich ausgeschlafen und ein Bad genommen hat, seine Gedanken ordnen konnte und bereit ist, mit der Arbeit zu beginnen. An den Vormittagen ist André Heller eine private Person, aber das ist natürlich nur die andere Seite der Geschichte.
Dieses Buch ist die Biografie des Mannes der vielen Eigenschaften. Der schlampige Ausdruck »Multimediakünstler«, mit dem Franz André Heller oft bedacht wird, resultiert aus dem Unvermögen, seine vielen Talente in einen passenden Begriff zu packen. Natürlich ist Heller kein Multimediakünstler oder jedenfalls nicht das, was landläufig darunter verstanden wird, nämlich jemand, der irgendwas mit Video und Tonspuren macht. Das macht Heller notfalls auch, aber nicht nur. Er ist Schriftsteller und Theaterautor, Regisseur und Bühnenbildner, Maler und Impresario, Dokumentarfilmer und Schauspieler, Zirkusdirektor und Sänger, politischer Aktivist und Lebensberater, Weltreisender und Gartenkünstler, Showdirigent und Geschäftsmann, Ausstellungsmacher und Bildhauer, Komponist und Feuerwerker, Vater und Liebhaber und darüber hinaus noch so manches, was sich aus der Kombination oder Neuerfindung all dieser Berufe und Leidenschaften ergibt.
Die Lebensbeschreibung so einer Person gerät zwangsläufig in dramaturgische Turbulenzen. André Hellers Biografie verweigert sich der natürlichen Ordnung der Chronologie. Es gab und gibt Zeiten in Hellers Leben, die so dicht mit Aktivitäten belegt sind, dass es einem Geschicklichkeitsspiel gleichkommt, die Fäden zu entwirren und den Resultaten, zu denen sie führen, zuzuordnen.
Die Dramaturgie dieser Biografie ist dem Überschwang an Resultaten, oder wie Heller gern sagt, »Verwirklichungen« geschuldet. Ihre Kapitel fassen eher Themenbereiche als genaue Zeitabschnitte zusammen. Manchmal – wie in den Abschnitten über Musik, Literatur oder Politik werden Entwicklungen so dargestellt, dass die Draufsicht Zusammenhänge klarmacht und dafür das darunterliegende Raster der Chronologie sprengt. Es empfiehlt sich, die Biografie von vorne nach hinten zu lesen, aber genauso gut ist es möglich, sich der Person André Heller nach Themengebieten zu nähern. Wobei: kaum ein Thema steht für sich allein, und Heller ist nur in der Gesamtheit seiner unzähligen Hervorbringungen und Motive wirklich zu verstehen.
André Heller ist ein Mensch, der sich sein Leben nach den eigenen Vorlieben möbliert. In seinen Wohnsitzen ist das buchstäblich zu sehen. Heller besitzt drei. Ein Palais in Wien, eine Villa am Gardasee, einen Landsitz in Marokko.
In Wien zog Heller Ende der neunziger Jahre von Hietzing, wo er in der von Adolf Loos umgebauten und eingerichteten Familienvilla in der Elßlergasse gewohnt hatte, in den ersten Bezirk, wo er im Palais Windischgrätz die Beletage übernahm und nach seinen Bedürfnissen umgestaltete. Der über hundert Quadratmeter große Salon wirkt auf den ersten Blick wie ein Museum. An den Wänden zahlreiche Bilder unterschiedlicher Epochen, ein Selbstporträt von Picasso, ein Ölbild von Braque, ein besonders schöner Chagall, ein Basquiat, ein Navratil, ein Hockney, ein Walla, eine meterhohe Vitrine, in der eine Skulptur von Keith Haring steht, Tierfiguren, Kultgegenstände, afrikanische Möbel, bodenlange, seidene Vorhänge, Unmengen von Büchern. Hier trifft Heller seine Gäste, Freunde und Mitarbeiter, hält Besprechungen ab, gibt Interviews, führt seine Geschäfte.
Die prächtige Ausstattung der Wohnung ist einerseits eine Visitenkarte Hellers, mit der er jedem Besucher sofort vermitteln kann, wer ihn da empfängt: ein Gastgeber, dem man Weltläufigkeit und Geschmack nicht buchstabieren muss. Andererseits hat Heller ein so starkes Bedürfnis nach der von ihm selbst geprägten Ästhetik, dass er sich nur im Ausnahmefall an andere Orte begibt, die seinen Vorstellungen von Licht, Geruch, Diskretion und Großzügigkeit nicht entsprechen. Oft huscht er nachmittags in eines der nahe gelegenen Restaurants, um im leeren Lokal einen Fisch oder einen Teller Pasta zu essen, und kehrt im Anschluss daran sofort nach Hause zurück. Die eklektizistische, pittoreske Pracht, mit der er sich umhüllt, ist sein Kokon.
Auch in Gardone, wo Heller eine Villa im venezianischen Stil bewohnt, wurde fast das gesamte Erdgeschoss in einen Salon verwandelt, wo Heller wie in Wien Gäste und Geschäftspartner empfängt. In Gardone sind die Tage durch die Mahlzeiten, die von der Köchin bereitet werden, getaktet. Punkt vierzehn Uhr gibt es Mittagessen, eine Glocke läutet die stets zahlreich anwesenden Gäste an den großen Tisch neben der Küche oder, wenn das Wetter danach ist, in den Garten unter das Sonnendach. Heller lässt mit Vorliebe Vor- und Hauptspeisen gleichzeitig servieren, ihm gefällt das appetitliche Durcheinander, wie man es von arabischen Tischen kennt. Er geht großzügig mit Einladungen nach Gardone um, so dass sich beim Essen oft eine unkonventionelle Mischung von Menschen trifft: Künstler, Politiker, Unternehmer, Esoteriker, Freunde von Freunden, Runden, die so vielfältig sind wie die Interessen André Hellers.
In Marrakesch hat er ein ganzes Haus bauen lassen, das den Gästen in seinem neuen, riesigen Garten als Salon dienen kann. Vor den Gästehäusern, die wie ein kleines Dorf zusammengewürfelt sind, befindet sich so etwas wie ein Dorfplatz, mit Steinen gepflastert, in den Stufen eingelassen sind, wo abends Musikanten sitzen und den Platz vor der weiten Landschaft mit orientalischen Melodien füllen.
Hellers Wohnsitze ähneln einander, weil sie an allen drei Orten dieselben Funktionen erfüllen. Überall gibt es mehr zu schauen, als man sich bei einem einzigen Besuch merken könnte, nur der Maßstab ist unterschiedlich. Was in Gardone schon weitläufig wirkt, ist in Marokko zehnmal so groß. Wenn sich Heller in Wien in den hinteren privaten Trakt der Beletage zurückzieht, hat er dafür in Gardone einen ganzen Stock und in Marokko ein eigenes Haus.
Seit 2008 arbeitete ich mit André Heller an dieser Biografie. Wir führten Gespräche in Wien, Gardone und Marrakesch, die insgesamt hunderte Stunden dauerten. Nachdem sich Heller entschieden hatte, mir für die Arbeit an seiner Lebensgeschichte zur Verfügung zu stehen, unterstützte er das Projekt nach Kräften. Er öffnete mir sein Adressbuch und informierte seine Freunde und Wegbegleiter darüber, dass sie mir ohne Einschränkungen Auskunft über ihn geben sollten. Er ermunterte mich, auch bei Gegnern seiner Arbeit und seiner Person Auskünfte einzuholen, erwies sich jedoch in unseren Gesprächen in seiner Selbstkritik schärfer als die meisten seiner Kritiker mit ihren Anwürfen.
Heller und ich kennen einander seit 1995. Als Chefredakteur des Nachrichtenmagazins profil und der Kulturzeitschrift du traf ich ihn regelmäßig und schrieb über einige seiner Bücher, Projekte, Filme und Platten.
Meinen ersten Artikel über André Heller hatte ich freilich schon viel früher verfasst, 1989 als Beitrag für die Tageszeitung Der Standard, die für ihre Wochenendausgabe ein »Pro und contra André Heller« plante und verzweifelt nach jemandem suchte, der den Pro-Part übernahm.
1989 war meine Meinung zu André Heller indifferent. Ich mochte seine Musik, aber zu singen hatte er ja schon ein paar Jahre davor aufgehört. Ich war 1982 als Maturant in einem seiner beiden Abschiedskonzerte im Wiener Konzerthaus gewesen und erinnere mich an das Bedauern, mit dem ich das Haus verließ, weil ich mir mehr von diesem gescheiten, koketten, weltwienerischen Performer gewünscht hätte. Aber er wollte ja nicht mehr.
Sagen wir so: Es war 1989 keine Mehrheitsposition, André Heller gut zu finden. Seine Unberechenbarkeit als Künstler, vor allem aber seine öffentliche Selbststilisierung, die damals sein vielleicht wichtigster Kommunikationskanal war, reizte entweder zur Verehrung oder aber zum Widerspruch, erzeugte bei vielen aber bloß blanke Antipathie. Die populären Künste, denen sich Heller verschrieben hatte, waren noch nicht kanonisiert. Den Kulturredakteuren der großen Zeitungen galt es bereits als mutiger Akt, ein neues Popalbum auf die Aufmacherseite zu rücken, und Heller hatte sich ja vom Pop verabschiedet, um noch populärere, noch weniger kanonisierte Disziplinen auszuprobieren und neu zu erfinden. Zirkus, Varieté oder Feuerwerk standen aber noch weniger auf der Speisekarte der Rezensenten, die es sich im Elfenbeinturm der Hochkultur eingerichtet hatten.
Gemessen daran, was Heller von den Kritikern verlangte, bekam er erstaunlich viele Ermunterungen. Aber er kämpfte auch um sein Leben. Gute Kritiken motivierten nicht nur den Erfinder und Impresario Heller, sondern auch die, die ihm Geld für seine großen Projekte geben sollten, die Produzenten und Gönner. Wenn Heller während seiner ganzen Karriere mit besonderer Aufmerksamkeit darauf bedacht war, zu vermitteln, was er tat, und dafür Lesarten anbot, die er als begnadeter Formulierer gleich mitlieferte, dann war das die direkte Folge seiner Angst, das Scheitern eines Projektes...