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Sozialisation türkischer Jungen und ihr (Miss-)Erfolg im deutschen Schulsystem

AutorStephan Çakir
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl114 Seiten
ISBN9783640839292
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Interkulturelle Pädagogik, Note: 1,0, Universität Potsdam, Sprache: Deutsch, Abstract: '... absolut abfallend sind die türkische Gruppe und die Araber. Auch in der dritten Generation haben sehr viele keine vernünftigen Deutschkenntnisse, viele gar keinen Schulabschluss, und nur ein kleiner Teil schafft es bis zum Abitur.' (Sarrazin/Berberich 2009, S.200) Die Fragen, die Sarrazin´s Interview zweifellos aufgeworfen, durch verschiedene Medien weitergetragen und zu einer regen Diskussion in allen Gesellschaftsschichten geführt haben, sollen nachfolgend in dieser Arbeit differenziert betrachtet werden, auch wenn sie nicht als entscheidender Ausgangspunkt für das Thema der Arbeit angesehen werden können (siehe Vorwort). Steht es erstens um Deutschlands Integrationsbemühungen, den dazugehörigen Angeboten sowie deren Nutzung seitens ethnischer Minderheiten wirklich so schlecht, so dass sich die Hälfte der Bevölkerung der Meinung Sarrazins anschließt, nach der türkischstämmige (und arabischstämmige) Menschen weder integrationsfähig noch integrationswillig sind? Stimmt es zum zweiten weiterhin, dass Türken unterdurchschnittliche Bildungserfolge erzielen, wenn sie mit deutschen Schülern oder aber anderen Migrantengruppen verglichen werden? Und drittens: Welche Erfolge und Versäumnisse kann die Integration in Deutschland vorweisen, welche Bedingungen finden Migranten im Bildungssystem vor und welchen Benachteiligungen sehen sie sich ausgesetzt? Diese drei zentralen Fragen sollen als Leitfaden dienen, an dem sich die vorliegende Arbeit orientiert. Ausgehend von soziologischen Theorielinien, die jeweils verkürzt erläutert werden, versuche ich mithilfe empirischer Daten und wissenschaftlicher Beiträge einen differenzierten Blickwinkel zur Sozialisation türkischer Jungen einzunehmen. Am Ende der jeweiligen Teilabschnitte fasst ein Resümee die Zusammenhänge jeweils zusammen, die sich dann am Ende der Arbeit im vierten Kapitel zu einem Fazit bündeln lassen. Hier soll aus den vorher gesammelten Informationen gefolgert werden, wie sich die Sozialisation türkischer Jungen auf einen (Miss-)Erfolg im deutschen Schulsystem auswirkt und wie dieser gedeutet werden kann.

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Leseprobe

3 Sozialisation


 

Sozialisation als Begriff genau zu bestimmen, ist nicht ganz einfach. Denn hinter diesem Begriff hat sich mittlerweile ein ziemlich großes Feld an theoretischen Fragestellungen aufgetan. Ganz allgemein könnte man die Frage stellen, wie und v.a. warum sich ein neugeborenes Kind im Laufe seines Lebens zu einem gesellschaftsfähigen Mitglied entwickelt. Oder aber man fragt wie Peter Zimmermann in seiner Einführung danach, „wie [...] die Welt ins Individuum (kommt)?“ (Zimmerman 2006, S. 12).

 

Der Begriff der Sozialisation ist maßgeblich durch die Soziologie geprägt, auch wenn die Erkenntnis, dass der Mensch durch die Umwelt beeinflusst wird, nicht exklusiv von den Soziologen erschlossen wurde - denn alle Erziehung basiert auf dieser Annahme. Im Gegensatz zum pädagogisch gefärbten Begriff der Erziehung, der nach Emile Durkheim als zielorientierte und methodische Sozialisation zu verstehen ist (ebd., S.13), richtet sich der Fokus der Sozialwissenschaft auf alle sozialen Situationen, die bewusst und/oder unbewusst zur Sozialisation beitragen, und schließt damit selbstverständlich die Erziehung mit ein. Durkheim (1858-1917) selbst war es auch, der zuerst den Begriff Sozialisation in der Soziologie verwendete und er verstand darunter alle „Einwirkungen der Erwachsenengenerationen auf diejenigen, die noch nicht reif sind für das Leben in der Gesellschaft“ (Durkheim 1972 zit. n. Scherr in Korte & Schäfers 2006, S. 46). In der älteren Sozialisationsforschung war man weitestgehend der Auffassung, dass sich das Individuum die Werte, Normen, Handlungsorientierungen oder ganz allgemein die gesellschaftlichen Gepflogenheiten in einem einseitigen Prozess aneignen würde. Natürlich untersuchte man demzufolge auch die Frage, wie Individuen zu Mitgliedern der Gesellschaft werden und wie deren Regeln an die nachwachsenden Generationen weitergegeben werden können. Man erkannte aber auch, dass die Erklärungen einem umfassenden Sozialisationsbegriff nicht ausreichend zur Seite stehen konnten. Denn nicht nur die Gesellschaft oder die soziale Gruppe übt einen Einfluss auf das Individuum aus: Das Individuum selbst setzt sich aktiv mit seiner Umwelt auseinander, verwendet dabei die von der Gesellschaft erworbenen Handlungsmuster und verändert diese, wenn sie seinem Absichten, Bedürfnissen oder Fähigkeiten widersprechen. Klaus Hurrelmann fasst das aktuelle Verständnis von Sozialisation dann auch entsprechend als wechselseitigen Prozess auf und schlägt eine Definition wie folgt vor:

 

„Unter dem Begriff Sozialisation wird in der Fachliteratur der Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit der inneren (Körper und Psyche) und der äußeren Realität (sozialer und ökologischer Umwelt) verstanden. Die Persönlichkeitsentwicklung wird hier konzipiert als die individuelle, in Interaktion und Kommunikation mit Dingen wie mit Menschen erworbene Organisation von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen, Handlungskompetenzen und Selbstwahrnehmungen eines Menschen auf der Basis der natürlichen Anlagen als Ergebnis der Bewältigung von Entwicklungs- und Lebensaufgaben zu jedem Zeitpunkt der Lebensgeschichte“ (Hurrelmann 1994, S. 53).

 

Unverkennbar ist damit ein interaktiver Prozess gemeint, in dem die Entwicklung einer Persönlichkeit sich aus der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt ergibt. Die Vermittlung zwischen innerer und äußerer Realität vollzieht sich wesentlich in Form von Interaktionen, Kommunikation und Tätigkeiten. Dabei zeigt sich dem Einzelnen jedoch nie die gesamte äußere Realität (die Gesellschaft), sondern man interagiert in kleineren, konkreten Sozialisationskontexten wie z.B. in der Familie und erfährt in vielen Einzelwelten den größeren Zusammenhang einer komplexen Gesellschaft.

 

Wie die Vermittlungswege eines Sozialisationsprozesses sich darstellen, zeigt ein grobes Strukturierungsmodell, das nach Tillmann in vier Ebenen unterteilt werden kann (vgl.Abb. 12)

 

 

Abbildung 12 - Strukturmodell von Sozialisationsbedingungen (n. Tillmann 1989, in Zimmermann 2006, S. 16)

 

Die erste Ebene kennzeichnet die Bildung der Persönlichkeitsmerkmale. Über die Interaktion mit anderen Menschen gelangt das Individuum zur eigenen Persönlichkeit mit individuellen Fähigkeiten, die maßgeblich durch Erfahrungen, emotionale Strukturen, Wissen und den kognitiven Fähigkeiten die Einstellung des Individuums beeinflusst sind.

 

In der zweiten Ebene lassen sich Voraussetzungen für eine persönlichkeitsentwickelnde Entfaltung des Individuums als Ebene der Interaktionen und Tätigkeiten zusammenfassen. An die primären sozialen Erfahrungen in der Familie anschließend nehmen die Interaktion in der Schule und die Kommunikation mit Gleichaltrigen bei zunehmendem Alter an Bedeutung zu.

 

Während die zweite Ebene z.T. unbewusst zur Sozialisation beiträgt, sind Institutionen auf der dritten Ebene genau zu diesem Zweck installiert worden. Sie sollen ihren Beitrag leisten, damit das Individuum einen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann.

 

Die eben skizzierten Bedingungen einer Sozialisation geschehen alle auf der Basis der vierten Ebene - der Gesamtgesellschaft.

 

Das vereinfacht dargestellte Strukturierungsmodell erlaubt einerseits die Sicht auf eine Verknüpfung der Persönlichkeitsentwicklung im gesellschaftlichen Zusammenhang, andererseits aber wirft es auch Fragen danach auf, wie die persönlichkeitsbildenden Prozesse in den vielen kleinen Einzelwelten mit den Prozessen der großen Gesamtwelt verbunden sind. Zimmermann sieht daher auch ein Grundproblem der Sozialisationsforschung darin begründet, die „Frage nach den Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen (zu beantworten). Wie hängen kulturelle Werte, sozialökologische Einflüsse, Erziehungsverhalten, konkrete Erfahrungen einerseits mit der Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung andererseits zusammen?“ (Zimmermann 2006, S. 18).

 

Eine Theorie der Sozialisation muss daher zu erklären versuchen, wie sich Individuen aufgrund ihrer Kompetenzen und der in sozialen Situationen gesammelten Erfahrungen im Laufe ihres Lebens verändern und welchen Einfluss dabei Kultur, soziale Umwelt, Erziehung und gesellschaftliche Institutionen haben bzw. wie sie sich gegenseitig beeinflussen?

 

3.1 Theorien zur Sozialisation


 

Um es vorwegzunehmen: Eine einzige Theorie zur Erklärung von Sozialisation gibt es nicht. Vielmehr gibt es verschiedene Ansätze, die eine Vergesellschaftung des Individuums aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Peter Zimmermann macht dies anhand einer anschaulichen Metapher deutlich, wenn er theoretische Konzepte mit der Verwendung einer Brille vergleicht: „Wie eine Brille je nach Form und Stärke des Glases beeinflusst oder auch bestimmt, wie wir sehen, so bestimmt eine Theorie, wie und unter welchen Aspekten die Wirklichkeit gesehen, d.h. erklärt wird“ (Zimmermann 2006, S. 19). An diesem Beispiel soll deutlich werden, dass es erstens keine Brille für alle Augen geben kann, die uns die Wirklichkeit und somit die Komplexität von Sozialisationsprozessen erklärt und dass zweitens verschiedene Brillen aufgesetzt werden, die ihrerseits durch die Stärke und Form den Zugang zum Phänomen Sozialisation weiten oder einengen. Es kann an dieser Stelle nicht auf die alle Theorielinien eingegangen werden, jedoch können die wichtigsten Überlegungen grob unter vier Grundannahmen zusammengefasst werden. Zunächst lassen sich alle Theorien unter der Annahme bündeln, die Umwelt stelle den Ausgangspunkt für das Verhalten und die Veränderung einer Person dar. Umgekehrt sind es die Überlegungen, die das Subjekt selbst in den Mittelpunkt der Persönlichkeitsentfaltung stellen, welches sich durch aktives Aneignen und Verarbeiten von Reizen entwickelt. Schließlich lassen sich alle Überlegungen gruppieren, deren Grundannahme vorherige Theorien verbinden, was bedeutet, dass Subjekt und Umwelt sich gegenseitig beeinflussen und gleichsam veränderlich sind. Als letzte Sortierung, an die wechselseitige Beeinflussung durch Individuum und Umwelt anschließende Theorie, lässt sich die Vorstellung fassen, das Subjekt interagiere bewusst - seiner Entwicklungsmöglichkeiten gewahr - mit der Umwelt.

 

3.1.1 Strukturfunktionalistischer und rollen theoretischer Ansatz


 

Ein viel zitiertes, durchaus erklärungskräftiges Konzept zur Sozialisation steht in dem rollentheoretischen Ansatz zur Verfügung, den der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902-1972) maßgeblich geprägt hat. Mitte der 1950er Jahre systematisierte er die bis dahin schon vorhandene Vorstellung von Sozialisation als Rollenvorgabe und deren Übernahme durch die Mitglieder der Gesellschaft. Von der Grundfrage nach dem Zusammenleben in einer Gesellschaft geleitet, verstand Parsons die Gesellschaft als Zusammenschluss mehrerer Systeme (Wirtschaft, Politik, Bildungsinstitutionen), die jeweils eine bestimmte Funktion zu erfüllen haben, damit die Struktur des Gesamtsystems erhalten und gesichert bleibt. Hierfür haben die Menschen als Individuen, als eigene Systeme eine besondere Bedeutung: Sie sind für die Übernahme von verschiedenen funktionalen Rollen innerhalb der Teilsysteme vorzubereiten, um in den systemerhaltenden Bereichen handlungsfähig sein zu können und somit der Fortbestand der Gesellschaft aufrecht erhalten bleibt.

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