Als ich ins Hauptquartier von Facebook nach Palo Alto zum Interview mit Mark Zuckerberg fuhr, habe ich meinen Sohn Jake mitgenommen. Während wir gerade den Konferenzraum mit seinen gläsernen Wänden betraten, kam Zuckerberg eilig hereingerannt und sagte, er müsse jetzt erst mal das Whiteboard löschen. Ich verfluchte mich, weil ich nicht gelesen hatte, was draufstand. Jetzt waren Zuckerbergs Geheimnisse wirklich sicher vor mir. Solche Widersprüche findet man reichlich. Facebook möchte zwar, dass wir uns alle öffnen, ist aber selbst sehr verschlossen. Mark Zuckerberg möchte, dass wir alle sozial sind, aber er selbst ist »asozial«, wie einer seiner Bekannten mal scherzhaft sagte. Das Geheimnis des Facebook-Gründers besteht nicht darin, dass er so öffentlich, sondern darin, dass er so geheimnisvoll ist. Er ist ein Enigma, das sich in einem Nerd versteckt hat und zum Netz-Mogul wurde.
Während er löschte, was auf dem Whiteboard zu lesen war, betrachtete ich ein Gebirge von überdimensionierten Bildschirmen. Einer davon stand etwas abseits. Er zeigte eine große rote »45«, darunter lief ein Stunden-Minuten-Sekunden-Countdown. Was denn in fünfundvierzig Tagen passieren soll, fragte ich. »Ach, da lassen wir ein paar Sachen vom Stapel«, sagte Zuckerberg unverbindlich. Er hat ein Talent, so wenig wie möglich zu sagen. Mit Vergnügen habe ich ihn bei hochrangigen Podiumsdiskussionen während des Weltwirtschaftsforums in Davos und in Rupert Murdochs Firmenanwesen in Monterey beobachtet.25 Zuckerberg sagte immer nur, was er wollte, kein Wort mehr. Er versuchte nicht, die Zeit mit Geplapper oder Public-Relations-Blüten zu füllen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auch versuchte er nicht, die Fragesteller oder das einflussreiche Publikum zu bezaubern. Er war immer ganz direkt, höflich, aber unverblümt, noch von keinem Medientraining verdorben. Ich glaube, er war auch etwas eingeschüchtert vom Scheinwerferlicht, zumindest machte es ihm keinen Spaß. Was er zu sagen hatte, wurde er los, dann wollte er weitermachen. Das war der Grund, weshalb er bald den Ruf hatte, ein Geek26 zu sein, der versehentlich ins Scheinwerferlicht geraten war. Hinzu kam sein »Laserblick«. Manche haben sogar das Asperger-Syndrom bei ihm diagnostizieren wollen.27 Selbst wenn ich fachlich dazu in der Lage wäre, würde ich das nicht tun, denn Zuckerberg hat sich seither verändert. Unter vier Augen ist er auf subtile Weise äußerst charmant. Er denkt daran, dass man ab und zu lächeln muss. In größeren Gruppen scheint er sich wohler zu fühlen, und es macht ihm nichts aus, mit Barack Obama zu reden. Trotzdem, über diese Uhr konnte ich nichts aus ihm herauskriegen.
Nachdem ich das Rätsel mit der Uhr auf Twitter gestellt hatte, erhielt ich von besseren Detektiven, als ich einer bin, die richtige Antwort: In fünfundvierzig Tagen war die Premiere des Films The Social Network (2010) über Zuckerberg und sein Unternehmen. Der Film selbst hat mir nicht besonders gefallen. Ich habe ihn als Angriff auf Zuckerberg, Computerfreaks, Unternehmer, das Internet und jede Form von Veränderung im Allgemeinen empfunden: eine Retourkutsche auf den Angriff der Nerds. Aaron Sorkin, der Verfasser des Drehbuchs, gab offen zu, dass er nicht viel über Facebook wusste und ihn die Fakten nicht interessierten. »Ich will keine Wahrheiten verkünden, sondern eine Geschichte erzählen«, sagte er dem New York Magazine. Der Film war denn auch bloß eine Geschichte, die uns einzureden versuchte, diese Internetsache sei keine Revolution, sondern bloß die Erfindung irgendwelcher verrückter Computer-Fuzzis, solcher Typen, die wir an der Uni nicht leiden konnten. Oder, wie Mark Harris sich ausgedrückt hat: The Social Network war »ein gezieltes Foul der alten Medien gegen die neuen«.28
Mein Sohn war anderer Ansicht. Als er das Kino verließ, wollte er gleich eine neue Firma gründen. Eine zufällige Umfrage unter meinen Bekannten war fast wie ein Rorschach-Test: Leute in meinem Alter mochten den Film, fanden Zuckerberg aber unsympathisch, die Leute im Alter meines Sohnes Jake dagegen mochten den Film und sahen Zuckerberg als einen Sieger. Ich stand irgendwo in der Mitte: Den Film mochte ich gar nicht, aber ich bewundere Zuckerberg. Er hat, glaube ich, eine Vision von einer vernetzten, zusammenhängenden Welt und besitzt die Fähigkeit und Entschlossenheit, sie zu verwirklichen. Das Motiv entscheidet. Wenn er, wie der Film behauptet, nur seine eigenen zynischen Ziele verfolgen würde, es ihm nur um Aufmerksamkeit ginge, er nur reich werden und jede Menge Sex haben wollte, dann wäre es womöglich Ausbeutung, wenn er uns auffordert, uns vor aller Welt bloßzustellen. Hat er aber ein höheres Ziel, will er uns helfen, miteinander zu kommunizieren und in Verbindung zu treten und die Welt dabei offener machen, dann ist es leichter, ihn so zu respektieren, wie Jake und ich das tun.
»Ich gehöre zur ersten Generation, die wirklich mit dem Internet aufgewachsen ist«, sagt Zuckerberg mir im Gespräch. »Google kam heraus, als ich vierzehn war und in die Mittelschule ging. Dann kamen Amazon, Wikipedia, iTunes und Napster. Jedes Jahr gab es neue Möglichkeiten, an Informationen zu kommen. Inzwischen kann man alles nachschlagen, was man will. Man kann tolle Belege, Zitate und Material finden. Man kann sich jeden beliebigen Song herunterladen. Man kann Routen nach überall hin finden. Mit jedem Jahr ist die Welt besser geworden.«
In seinen Worten spiegelt sich der Optimismus, von dem er lebt: dass die Welt immer besser wird, wenn man die richtigen Werkzeuge hat und die Macht in den richtigen Händen liegt. »Alles in allem ist es eine gute Sache, die Welt weiter zu öffnen«, sagt Zuckerberg. »Es ist unsere Aufgabe, die Welt offener und vernetzter zu machen.« Der Optimist muss an seine Mitmenschen glauben, er muss sich wünschen, sie zu stärken, statt sich vor ihnen zu schützen. Zuckerberg glaubt, er trage dazu bei, dass wir uns mitteilen können, dass die Welt öffentlicher wird, was zu mehr Transparenz, Vertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Integrität führt. Deshalb hat er Facebook geschaffen und nicht, weil er eine Freundin gesucht hat (er hatte längst eine, dieselbe Frau, die er im Mai 2012 geheiratet hat, Priscilla Chan). Es ging ihm auch nicht darum, uns Öffentlichkeit aufzuzwingen, wie manche Leute behaupten. Er habe, so versichert er, lediglich ein Werkzeug geschaffen, mit dessen Hilfe die Leute das tun können, was sie von Natur aus schon immer wollten, bisher aber nicht konnten. Aus seiner Sicht verändert er die menschliche Natur nicht, sondern schaltet sie nur frei.
»Ehe das Internet und Dinge wie Facebook aufkamen«, sagt Zuckerberg, »gab es sehr viel Privatsphäre durch Dunkelheit.« Über die heutigen Möglichkeiten verfügten wir gar nicht: »Wir hatten eine Kultur, in der man entweder Produzent oder Konsument war. Es war eine zweigleisige Gesellschaft – irgendwie unnatürlich.« Das heißt, die Mittel der Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, lagen in den Händen von wenigen; jetzt sind sie in den Händen aller. »Die Frage lautet nicht mehr: Bist du vollkommen privat? Sondern: Was möchtest du mit anderen teilen und was nicht?«
Zuckerberg will den Facebook-Nutzern die Kontrolle darüber ermöglichen, was öffentlich und was privat ist. Wenn dem allerdings so ist, warum hat er dann dauernd Ärger mit dem Datenschutz? Dafür gibt es verschiedene Gründe: Manche Leute sagen, es gebe nicht genug Datenschutzkontrollen bei Facebook. Also schafft das Unternehmen mehr Kontrollmöglichkeiten. Dann wieder beschweren sich die Leute, die persönlichen Sicherheitseinstellungen seien zu kompliziert. Wenn sie zu kompliziert sind, machen die Nutzer sich oft nicht die Mühe, die Kontrollen auch den eigenen Bedürfnissen anzupassen, und verlassen sich einfach auf die Standardeinstellungen. Bei diesen allerdings hat Facebook die Nutzer immer wieder mit Änderungen überrascht, im Zuge derer plötzlich mehr öffentlich wurde, als die Nutzer wussten oder erwartet hatten. Facebook hat nicht immer besonders gut mit den eigenen Nutzern kommuniziert. Als ich Zuckerberg erzähle, welche These ich in diesem Buch vertrete und wie nützlich ich es finde, sich mitzuteilen, sagt er: »Ich hoffe, Sie haben mit diesem Argument mehr Glück, als wir gehabt haben. Wir machen, glaube ich, ganz gute Produkte, die tatsächlich die Bedürfnisse der Menschen treffen, aber wir sind wohl nicht sonderlich begabt, in schlichtem Englisch mitzuteilen, worin das Bedürfnis besteht.« Manche würden das ein Understatement nennen.
Oft genug haut Facebook ein neues Produkt raus und setzt sich erst später damit auseinander, welche Probleme es schafft. Dann hat man den Ärger der Nutzer am Hals und muss das Programm nachträglich ändern und oder ganz zurückziehen. Das ist keine Beta-Methode, bei der ein Stück nach dem anderen veröffentlicht wird, sondern die Kalte-Wasser-Methode, bei der man alle Nutzer ins kalte Wasser schmeißt und dann schaut, wer sich beschwert. So war es etwa bei der Einführung des sogenannten Newsfeed, bei dem die Updates von Freunden, die man erhielt, auf die Seiten anderer Freunde weitergeleitet wurden – der erste große Facebook-Skandal 2006. Einige Nutzer kriegten eine höllische Angst und waren stinksauer. Obwohl jedes neue Update für die Mitglieder eines Netzwerks schon sichtbar war, wenn sie von einem Freund zum nächsten klickten, überraschte und empörte es die Nutzer doch sehr, dass all diese Schnipsel automatisch gesammelt und wieder neu ausgegeben wurden. Ihr Beziehungsstatus und ihre Gespräche wurden plötzlich als Neuigkeiten in die Welt...