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Die Wahrheit über die Lüge

Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben

AutorWolf Schneider
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644020412
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Die Wahrheit», sagt Wolf Schneider, «ist oft verletzend und meistens unbequem. Wir haben recht, sie nicht zu mögen. Es ist die Lüge, die uns wärmt.» Und wir alle lügen immerfort und überall: fast täglich im Büro, oft auf der Party und manchmal im Bett. Wir lügen mit Worten und mit Gesten, viele auch mit Botox oder Silicon. Dass wir die Wahrheit verfälschen, verhehlen und sie meist auch gar nicht hören wollen, ist indessen nur einer der zwei Gründe, warum sie eine so geringe Rolle spielt auf Erden. Die andere, die noch häufigere Ursache dafür lautet: Wir haben zwar nichts gegen die Wahrheit, aber wir kennen sie nicht; wir taumeln durch die Sümpfe der Ahnungslosigkeit - vom schieren Aberglauben bis zu der fröhlichen Lebenslüge, wir hätten eine realistische Chance, per Lotto Millionär zu werden. Das Irren und das Lügen, sie sind Teil unseres Wesens, sozialer Kitt und Motor des kulturellen Fortschritts. Sie können die Welt verändern, gewollt oder ungewollt. Und sind doch nicht zuletzt der vom Autor mit Sympathie beschriebene Versuch von uns bedrängten Menschen, uns glimpflich durch dieses gefährliche Leben zu mogeln. «Weh dem, der nicht lügt», sagt Wolf Schneider. Wie immer kurzweilig und seriös in einem entfaltet der Bestsellerautor Schritt für Schritt die Wahrheit über die Lüge - ein unterhaltsamer Gang durch das Reich des ungewollten und fast gewollten Irrtums, an dessen Ende ein neuer Blick dafür entsteht, was eigentlich Wahrheit für uns ist.

Wolf Schneider, geboren am 07. Mai 1925 und gestorben am 11. November 2022, hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, darunter große, erzählende Bücher ebenso wie Standardwerke zu Sprache, Stil und Journalismus. Er war Soldat von 1943 bis 1945, Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in Washington, Verlagsleiter des «Stern», Chefredakteur der «Welt», Moderator der «NDR-Talk-Show» und 16 Jahre lang Leiter der Hamburger Journalistenschule. 2011 erhielt er den Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk, 2012 wurde er vom «Medium Magazin» als Journalist des Jahres für sein Lebenswerk geehrt. Zuletzt erschienen bei Rowohlt «Der Soldat. Ein Nachruf» (2013) und «Denkt endlich an die Enkel! Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist» (2019). Er lebte in Starnberg.

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Leseprobe

Die beliebtesten Irrtümer


2
«Die Sterne lügen nicht»


Warum sollten sie auch? Sie sagen ja nichts.

Die Astrologie ist die Stiefmutter aller Wissenschaften – auch derer, die wir heute so nennen. Sie ist fast 5000 Jahre alt, und anders als die primitiven Formen des Aberglaubens setzte sie bei unstreitigen Tatsachen an. Auf ihre Typologie («Typisch Widder!») vertrauen ganz unironisch viele Millionen, und selbst das Tageshoroskop («Folgen Sie Ihrer inneren Stimme», was ja nie ganz falsch sein kann) wird millionenfach gelesen, beschmunzelt, geglaubt. Die Astrologie ist der älteste kodifizierte, der am aufwendigsten gepflegte, der am hartnäckigsten verteidigte, der bis heute populärste Irrtum der Menschheit.

Es waren die Sumerer im alten Babylonien, denen im 3. Jahrtausend v. Chr. auffiel, dass sich unter den rund 5000 Himmelskörpern, die mit bloßem Auge sichtbar sind, fünf befanden, die sich übers Firmament bewegen, «Wandelsterne» also, die damals bekannten Planeten (Kapitel 14). Sollten das fünf Götter sein? Müssen wir ihnen nicht huldigen, ihren Willen zu erforschen versuchen, also ihren Weg berechnen?

Das war der Anfang aller Astronomie. Dass die etwas anderes als die Astrologie sein könnte, fiel bis ins 4. Jahrhundert nach Christus keinem ein. Für die Astrologie, schreibt Nietzsche, sei vielleicht «mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden als bisher für irgendeine wirkliche Wissenschaft».

Der nächste Schritt der Sumerer war, den Planeten «Bedeutungen» zuzuweisen, dann ihre Stellung zur Stunde der Geburt eines Menschen zu berechnen (sein Horoskop) und daraus eine Beschreibung seines Charakters abzuleiten, ja eine Prognose für seinen Lebenslauf. Da hatten sie ihre durchaus respektable junge Wissenschaft hemmungslos mit dem schieren Aberwitz vermählt: Was die Venus angeblich bedeutet und bewirkt, das ging ja aus ihrer Position und ihrer Bewegung schlechthin nicht hervor. Doch hatte man die Planeten nach Göttern benannt – und so stand Mars, der Gott des Krieges, für Aktivität, Merkur, der Gott des Handels, für Klugheit, Saturn, der Gott der Ernte, für Erfahrung. Eine vierstufige Phantasterei also: Wir denken uns Götter mit bestimmten Eigenschaften aus, stülpen deren Namen den unschuldigen Planeten über, schreiben denen dann die Wirkungen zu, die wir für die Götter ersonnen haben – und bilden uns ein, diese Wirkungen könnten sie ausüben über Millionen Kilometer hin.

Im 3. Jahrhundert v. Chr. war die Astrologie in Griechenland populär: Da wurden günstige und verhängnisvolle Konstellationen definiert, vorteilhafte Zeitpunkte für Feldzüge und Eheschließungen ermittelt, der Ausgang von Kriegen vorhergesagt – auch nicht phantastischer, als das Orakel von Delphi (Kapitel 9) es vermochte.

Im 2. Jahrhundert n. Chr. milderte Ptolemäus von Alexandria, der die Kugelgestalt der Erde verkündete (Kapitel 13), ein verbreitetes Misstrauen gegen die Astrologie, indem er eine Weisheit in Umlauf setzte, auf die Astrologiegläubige sich noch heute gern berufen: «Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt» – und es stehe in der Macht des Individuums, gegen diese Neigung anzuarbeiten. So war ein Horoskop nicht mehr zu widerlegen; ja, es war zu rühmen als Anstoß, auch und gerade gegen die Versuchung, durch die Sterne sein Schicksal zu meistern.

Anders wäre überdies gar nicht erklärbar, was in einem Flugzeug geschieht, wenn das Horoskop dem Piloten prophezeite: «Heute wird Sie ein großes Unglück heimsuchen.» Würden die Sterne ihn zwingen, müsste er abstürzen – und damit die vermutlich anders lautenden Horoskope seiner 200 Passagiere zur Farce machen; eine astrologische Katastrophe. Doch natürlich setzt sich der Pilot zur Wehr gegen die Geneigtmachung durch die Sterne, stürzt nicht ab und verhilft so den anderen 200 Horoskopen («Ein Kollege wird heute besonders nett zu Ihnen sein») zur Gültigkeit.

Die römischen Priester blieben misstrauisch gegenüber den Sterndeutern, schon um ihre eigene Methode der unfehlbaren Prognose, die Vogelschau, nicht zu gefährden – ja, Cicero unternahm 44 v. Chr. in seinem Buch «Von der Weissagung» einen Generalangriff auf die Astrologie: Sollten denn wirklich alle Menschen, die in derselben Minute geboren wurden, den gleichen Charakter und das gleiche Schicksal haben?, fragte er. (Auf die sieben Milliarden Menschen von heute bezogen, ist die Rechnung in der Tat kurios: 800 000 von ihnen müssen in derselben Stunde, 13 000 in derselben Minute, 222 in derselben Sekunde geboren sein.)

Und Cicero ging weiter: Er verglich das Horoskop dreier großer Römer, denen ein glorreiches Alter vorausgesagt worden war, mit ihrem Schicksal: Crassus wurde 53 v. Chr., 62 Jahre alt, im Krieg erschlagen; Pompejus, 58 Jahre alt, ermordet; und Cäsar war, 55-jährig, gerade kurz vor Erscheinen des Buches ermordet worden.

Im 4. Jahrhundert n. Chr. entschloss sich die christliche Kirche, das Erstellen von Horoskopen zu verbieten: In der Bibel kamen sie nicht vor, an Gottes unerforschlichem Ratschluss durfte nicht gerüttelt werden – und was blieb vom freien Willen eines Christenmenschen übrig, wenn alles in den Sternen stand? Wozu sollte er noch beten? Der oströmische Kaiser Justinian (gestorben 565 n. Chr.) nannte die Astrologie «Giftmischerei» und ließ auf das kirchliche Verbot das weltliche folgen.

Viele Astrologen flohen nach Persien. Mit den Kreuzrittern kamen sie wieder – und nun erst begann in Europa die große Zeit der Sterndeutung. Im 14. Jahrhundert wurden an den Universitäten von Bologna, Florenz und Paris Lehrstühle für Astrologie eingerichtet, in der Meinung, eben sie sei die perfekte Verschmelzung von Religion und Wissenschaft. Seit Julius II. (Papst von 1503 bis 1513) hielten sich mehrere Päpste einen Astrologen; die Sternkunde ließ sich ja auch christlich deuten: als Ausdruck der Harmonie der Schöpfung, im Geist des achten Psalms: «Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?»

Paracelsus (gestorben 1541) lehrte, der menschliche Körper sei ein Abbild des Firmaments und das Horoskop des Kranken begünstige die Diagnose und die Therapie. Luther wandte sich gegen die Astrologie und überwarf sich darin mit seinem engsten Mitstreiter, Philipp Melanchthon (1497 bis 1560), der sie an Universitäten lehrte; er mit der Begründung, sie entspringe dem Wunsch, den Willen Gottes vorauszusehen; sie sei also ein weiterer Weg zu Gott, dem Schöpfer der Gestirne.

Noch einmal waren Astrologie und Astronomie vereinigt in der Person des Johannes Kepler, der die Gesetze der Planetenbewegung entdeckte, insofern Kopernikus berichtigte und als Erzvater der modernen Astronomie betrachtet wird. Stets in Geldnot, gab er bei Bedarf den Astrologen. Kaiser Ferdinand II. empfahl ihn 1628 dem Feldherrn Wallenstein, dem er offenbar Kriegsglück verkündete. Schon im Jahr darauf zog Wallenstein ihm den italienischen Astrologen Seni vor. Der erteilte dem großen Mann, wenigstens bei Schiller, den realistischen Rat: «Flieh, Hoheit, eh’ der Tag anbricht! Die Zeichen stehen grausenhaft – lies es selbst in dem Planetenstand!»

Im 18. Jahrhundert ebbte die Begeisterung für Horoskope ab. Doch mit Horoskopen in Tausenden von Zeitungen und Zeitschriften, auch mit eigenen Publikationen haben die zeitgenössischen Astrologen einen größeren Markt als zu Zeiten Wallensteins. Und es ist ergreifend zu lesen, was da alles prophezeit und angeraten wird.

Zum einen brillieren sie mit der tausendfachen Produktion von Aphorismen zur Lebensweisheit: «Schauen Sie nach vorn, statt Ihre Kräfte in eine verlorene Sache zu stecken»/​«Lassen Sie in der Partnerschaft keine Routine aufkommen»/​«Eine Diät im richtigen Augenblick kann Wunder wirken». Wie wahr! Warnungen verbreiten sie ebenfalls: «Kein Tag für große Investitionen» zum Beispiel oder «Ein Kollege wartet, dass Ihnen ein Fehler unterläuft». Auch rätselhafte Diagnosen lassen sie durchgehen: «Sie verfügen im Juni über einen scharfen Verstand.» (Und worüber im Juli?) Dem Widder versprechen sie: «Ihre Lustpartner sind Stier, Jungfrau und Steinbock – Ihre Frustpartner Zwillinge, Schütze und Fische.»

In den Fachzeitschriften (die gibt es!) drucken sie ganzseitige Kästen mit 144 Kästchen für den Umgang jedes der zwölf Tierkreiszeichen mit den anderen (Wolken, Regen, Sonnenschein), ja mit 900 Kästchen für das Horoskop des Wassermanns an den nächsten 30 Kalendertagen, unterteilt nach den 30 möglichen Tagen seiner Geburt.

Und gern geben sie sich wissenschaftlich, immer noch: «Merkur steht in Konjunktion zum Mars. Zur gleichen Zeit läuft die Venus im Löwen ins Trigon zu Jupiter und Uranus. Dieses Mega-Kosmos-Setting weckt die Sinnlichkeit, eine Konstellation für reines Liebesglück.» Ein astrologisches Viagra! Schon im folgenden Monat aber drohen «durch das Quadrat zu Pluto im Steinbock große Fehlschläge (Jupiter – Pluto) und Massenkatastrophen (Uranus – Pluto)» – ein wahrhaft bedrohliches «Aspektgefüge».

Woher wissen sie das eigentlich? Erklären...

Blick ins Buch

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