Die Kinder von Saga
Ich erinnere mich an einen klaren Tagesanbruch während der Trockenzeit in dem kleinen Dorf Saga, etwa 100 Kilometer südlich von Niamey, im Niger. Die ganze Region ist notleidend. Dabei wirken mehrere Faktoren zusammen: eine Hitze, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hat, bis zu 47,5 Grad im Schatten, eine seit zwei Jahren herrschende Dürre, eine schlechte Hirseernte, zur Neige gehende Futtervorräte für das Vieh, eine Überbrückungszeit1 von mehr als vier Monaten und sogar eine Heuschreckenplage. Die Mauern der Hütten aus Banco2, die Strohdächer, die Böden sind glühend heiß. Die Kinder werden von der Malaria, von Fieberanfällen und Schüttelfrost gepeinigt. Menschen und Tiere leiden unter Hunger und Durst.
Ich warte vor dem Ambulatorium der Schwestern der Mutter Teresa. Den Termin hat der Vertreter des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Niamey verabredet.
Drei weiße Gebäude mit Wellblechdächern. Ein Hof mit einem riesigen Affenbrotbaum in der Mitte. Eine Kapelle, Lagerschuppen und rund herum eine Betonmauer mit einem Eisentor.
Ich warte vor dem Tor, inmitten der Menge, von Müttern umgeben.
Der Himmel ist rot. Die große, purpurfarbene Sonnenscheibe schiebt sich langsam über den Horizont.
Vor dem grauen Eisentor drängen sich die Frauen, Angst ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Einige mit hektischen Bewegungen, andere dagegen mit leeren Augen und unendlicher Mutlosigkeit. Alle halten sie ein Kind im Arm, manchmal zwei, mit Lumpen bedeckt. Diese Stoffbündel heben sich im Rhythmus des Atmens. Viele Frauen sind die ganze Nacht gegangen, manche sogar mehrere Tage. Sie kommen aus Dörfern, über die die Heuschrecken hergefallen sind, 30 bis 50 Kilometer entfernt. Offensichtlich sind sie erschöpft. Vor dem hartnäckig verschlossenen Tor können sie sich kaum aufrecht halten. Die kleinen, zum Skelett abgemagerten Geschöpfe, die sie in ihren Armen halten, scheinen ihnen eine unverhältnismäßige Last zu sein. Fliegen umschwirren die Lumpen. Trotz der frühen Stunde ist die Hitze drückend. Ein Hund läuft vorbei und wirbelt eine Staubwolke auf. Schweißgeruch hängt in der Luft.
Dutzende Frauen haben eine oder mehrere Nächte in Löchern verbracht, die sie mit bloßen Händen in den harten Savannenboden gegraben haben. Am Vortag oder am Tag davor zurückgewiesen, versuchen sie an diesem Morgen ihr Glück mit unendlicher Geduld von neuem.
Endlich höre ich Schritte im Hof. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss.
Eine Schwester europäischer Herkunft mit schönen, ernsten Augen erscheint und öffnet das Tor einen Spalt weit. Die Menschentraube gerät in Bewegung, vibriert, drängt nach vorn, klebt am Tor.
Die Schwester nimmt einen Stofffetzen hoch, dann noch einen und noch einen. Mit einem raschen Blick versucht sie, die Kinder herauszufinden, die noch eine Überlebenschance haben.
Leise, in perfektem Hausa, spricht sie zu den verängstigten Müttern. Schließlich werden etwa fünfzehn Kinder und ihre Mütter hereingelassen. Die deutsche Ordensschwester hat Tränen in den Augen. Die etwa hundert Frauen, die an diesem Tag abgewiesen werden, bleiben stumm, würdevoll, aber völlig verzweifelt zurück.
In der Stille bildet sich eine Kolonne. Diese Mütter geben den Kampf auf. Sie gehen wieder in die Savanne. Sie kehren in ihr Dorf zurück, in dem es noch immer keine Nahrung gibt.
Eine kleine Gruppe beschließt, sich nicht von der Stelle zu rühren, in diesen mit ein paar Zweigen oder einem Stück Plastik gegen die Sonne geschützten Löchern auszuharren.
Die nächste Morgendämmerung wird kommen. Ein neuer Tag wird beginnen. Das Tor wird sich wieder einen Spalt und einen Augenblick lang öffnen. Und sie werden abermals ihr Glück versuchen.
Bei den Schwestern der Mutter Teresa in Saga braucht ein Kind, das unter schwerer Unter- und Mangelernährung leidet, höchstens zwölf Tage für seine Genesung. Auf einer Matte liegend, wird es in regelmäßigen Abständen intravenös mit einer Nährlösung versorgt. Unermüdlich verjagt seine fürsorgliche Mutter, im Schneidersitz an seiner Seite, die großen glänzenden Fliegen, die in den Baracken umherschwirren.
Die Schwestern sind freundlich, sanft und rücksichtsvoll. Sie tragen einen Sari und das weiße, mit drei blauen Streifen geschmückte Kopftuch, das durch Mutter Teresa, die in Kalkutta wirkende Gründerin des Ordens der Missionarinnen der Nächstenliebe, bekannt wurde.
Das Alter der Kinder liegt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Die meisten sind zu Skeletten abgemagert. Unter der Haut zeichnen sich die Knochen ab, und bei einigen sieht man das rötlich-bräunliche Haar und den aufgeblähten Bauch des Kwashiorkor – neben Noma eine der schlimmsten durch Unterernährung hervorgerufenen Krankheiten.
Einige haben die Kraft zu lächeln. Andere liegen zusammengekrümmt und stoßen ein leises, kaum hörbares Röcheln aus.
Über jedem hängt ein Plastikbeutel mit der Infusionslösung, die tropfenweise über einen dünnen Schlauch zur Kanüle in dem kleinen Arm gelangt.
Auf den Matten der drei Baracken sind rund sechzig Kinder in Dauerbehandlung.
»Sie werden fast alle gesund«, informiert mich voller Stolz eine junge Schwester aus Sri Lanka, die die Kinder auf der in der Mitte der Hauptbaracke hängenden Waage täglich wiegt.
Sie bemerkt meinen ungläubigen Blick.
Auf der anderen Seite des Hofs, am Fuß der kleinen weißen Kapelle, sind zahlreiche Gräber zu sehen.
Trotzdem beharrt sie: »In diesem Monat haben wir nur zwölf verloren, im letzten Monat acht.«
Als ich später im Süden durch Maradi komme, wo die Ärzte ohne Grenzen (MSF) gegen die Geißel der schweren Unter- und Mangelernährung im Kindesalter kämpfen, erfahre ich, dass die Sterblichkeitsziffer bei den Schwestern von Saga im Vergleich zum Landesdurchschnitt tatsächlich sehr niedrig ist.
Die Ordensschwestern arbeiten Tag und Nacht. Es ist deutlich zu erkennen, dass sich einige am Rande vollkommener Erschöpfung befinden.
Sie kennen keine Hierarchie. Jede geht ihrer Aufgabe nach. Keine übt irgendeine Befehlsgewalt aus. Es gibt weder Äbtissin noch Priorin.
Drückende Schwüle herrscht in der Baracke. Das Stromaggregat und die wenigen Ventilatoren, die es betreibt, sind ausgefallen.
Ich gehe in den Hof hinaus. Die Luft flirrt vor Hitze.
Aus der Küche unter freiem Himmel weht der Geruch des Hirsebreis herüber, den eine junge Schwester für das Mittagessen bereitet. Die Mütter der Kinder und die Schwestern sitzen auf den Matten der Mittelbaracke und essen gemeinsam.
Mich blendet das weiße Licht des Sahelmittags.
Unter dem Affenbrotbaum steht eine Bank. Erschöpft sitzt dort die deutsche Schwester, die ich am Morgen gesehen habe. Sie spricht in ihrer Muttersprache mit mir. Die anderen Schwestern sollen sie nicht verstehen. Sie befürchtet, sie zu entmutigen.
»Haben Sie gesehen?« fragt sie mich mit müder Stimme
»Habe ich.«
Sie schweigt, die Arme um ihre Knie geschlungen. Ich frage:
»Ich habe in jeder Baracke leere Matten gesehen … warum haben Sie heute Morgen nicht mehr Mütter und Kinder hereingelassen?«
»Die Infusionsbeutel sind teuer«, sagt sie. »Niamey ist weit. Und dann die schlechten Straßen. Die Lastwagenfahrer verlangen horrende Transportgebühren … Unsere Mittel sind begrenzt.«
Der jährliche Hungertod von mehreren zehn Millionen Männern, Frauen und Kindern ist der Skandal unseres Jahrhunderts.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Und das auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziert …
In ihrem augenblicklichen Zustand könnte die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, was gegenwärtig fast der doppelten Weltbevölkerung entspräche.
Insofern ist die Situation alles andere als unabwendbar.
Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.
Dieser Massenvernichtung begegnet die öffentliche Meinung des Westens mit eisiger Gleichgültigkeit. Allenfalls reagiert sie mit zerstreuter Aufmerksamkeit, wenn die Katastrophen besonders »sichtbar« werden – wie die Hungersnot, die seit dem Sommer 2011 für mehr als zwölf Millionen Menschen in fünf Ländern am Horn von Afrika eine tödliche Bedrohung darstellt.
Gestützt auf zahlreiche Statistiken, Diagramme, Berichte, Resolutionen und andere sorgfältige Studien der Vereinten Nationen, der UN-Sonderorganisationen, anderer Forschungsinstitute, aber auch etlicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs), widme ich mich im ersten Teil des Buchs der Aufgabe, die Katastrophe zu beschreiben, das Ausmaß der Massenvernichtung zu bestimmen.
Fast ein Drittel der 56 Millionen zivilen und militärischen Toten während des Zweiten Weltkriegs gehen auf das Konto des Hungers und seiner unmittelbaren Folgen.
1942/43 ist fast die Hälfte der weißrussischen Bevölkerung an der von den Nazis organisierten Hungersnot zugrunde gegangen.3 In ganz Europa starben Millionen Kinder, Männer und Frauen an Unterernährung, Tuberkulose und Anämie. In den Kirchen von Amsterdam, Rotterdam, Den Haag stapelten sich im Winter 1944/45 die Särge der Hungertoten.4 In Polen und Norwegen aßen die Menschen Ratten und Baumrinde,5 um zu überleben. Viele starben.
Wie die biblische Heuschreckenplage sind die Nazi-Plünderer über die besetzten Länder hergefallen und haben Lebensmittelvorräte, Ernten, Vieh...