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E-Book

Balzac

Eine Biographie

AutorStefan Zweig
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheGesammelte Werke in Einzelbänden 
Seitenanzahl577 Seiten
ISBN9783104001807
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Mit den Autorenporträts aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Seit 30 Jahren habe ich ihn gelesen und immer wieder gelesen, ohne meine Bewunderung zu verlieren.« Mit seinem »großen Balzac«, wie er selbst ihn nannte, wollte Stefan Zweig die Summe seiner schriftstellerischen Erfahrung ziehen, Biographie und Kritik in einem schreiben, »etwas Gültiges hinterlassen, ein Werk, das einige Jahrzehnte überdauert«. Er hat diesen als magnum opus angelegten Lebensroman allerdings nie abschließen können - Richard Friedenthal, der Freund, bearbeitete posthum mit großem Einfühlungsvermögen und gewissenhafter Akribie das »in allen wesentlichen Teilen fertige Buch« für die Veröffentlichung 1946 im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

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Leseprobe

Erstes Buch

Jugend und erste Anfänge


Erstes Kapitel

Tragödie einer Kindheit


Ein Mann von dem Genie Balzacs, der kraft einer überschwenglichen Phantasie einen vollkommenen zweiten Kosmos neben den irdischen zu stellen vermag, wird nur selten fähig sein, bei belanglosen Episoden seiner privaten Existenz sich immer streng an die nüchterne Wahrheit zu halten; alles wird sich bei ihm der souveränen umformenden Willkür seines Willens unterordnen. Diese selbstherrliche Transformierung vieler seiner Lebensepisoden setzt charakteristischerweise schon bei der – sonst unveränderlichen – Grundtatsache einer bürgerlichen Existenz ein: bei seinem Namen. Eines Tages, etwa in seinem dreißigsten Jahr, entdeckt Balzac der Welt, daß er nicht Honoré Balzac, sondern Honoré de Balzac heiße, und mehr noch, er behauptet, nach Fug und Recht von je zur Führung dieser Adelspartikel befugt gewesen zu sein. Während sein eigener Vater nur zum Spaß und im allerengsten Familienkreise von der Möglichkeit geflunkert hatte, der altgallischen Ritterfamilie der Balzac d’Entrague vielleicht entfernt verwandt zu sein, erhebt der phantasiemächtige Sohn diese windige Vermutung herausfordernd zur unbestreitbaren Tatsache. Er unterzeichnet seine Briefe, seine Bücher mit »de« Balzac, er läßt sogar das Wappen der d’Entragues auf seine Reisekalesche nach Wien aufmontieren. Verspottet wegen dieser eitlen Selbstadelung von den unfreundlichen Kollegen, antwortet er frank und frech den Journalen, sein Vater hätte diese adelige Herkunft längst vor seiner Geburt schon in amtlichen Dokumenten festgestellt; das Adelsprädikat in seinem Geburtsschein wäre darum nicht minder gültig als jenes Montaignes oder Montesquieus.

Leider besteht nun in unserer unfreundlichen Welt eine gehässig-nachspürende Feindschaft der dürren Dokumente gegen die blühendsten Legenden der Dichter; peinlicherweise ist jene von Balzac triumphierend zitierte Geburtsurkunde in den Archiven der Stadt Tours erhalten, aber bei seinem Namen kein Buchstabe von jenem aristokratischen »de« zu finden. Der Amtsschreiber von Tours verzeichnet unter dem Datum des 21. Mai 1799 kalt und klar:

Heute, am zweiten Prärial des siebenten Jahres der Französischen Republik, erschien vor mir, Pierre-Jacques Duvivier, unterzeichnetem Standesbeamten, der Bürger Bernard-François Balzac, Eigentümer, wohnhaft am hiesigen Orte, rue de l’Armée d’Italie, Sektion du Chardonnet Nr. 25, um die Geburt eines Sohnes anzumelden. Der besagte Balzac erklärte, daß das Kind den Namen Honoré Balzac erhält, und daß es gestern morgen um elf Uhr geboren wurde, im Hause des Anmeldenden.

Ebensowenig tun die andern Dokumente, weder die Todesanzeige des Vaters noch die Vermählungsanzeige der ersten Tochter, dieses Adelstitels Erwähnung, der sich demnach mit all seinen genealogischen Exkursen als glattes Wunschprodukt des großen Romanciers erweist.

Aber behalten die Dokumente auch buchstabenmäßig recht gegen Balzac, so hat doch sein Wille – sein schöpferischer glühender Wille – glorreich recht behalten gegen die kalten Papiere; immer siegt trotz aller nachträglichen Berichtigungen Dichtung über die Geschichte. Obwohl kein französischer König ihm oder einem seiner Ahnen je einen Adelsbrief unterzeichnet hatte, nennt die Nachwelt auf die Frage nach dem Namen des größten französischen Epikers dennoch, ihm gehorsam: Honoré de Balzac, und nicht etwa Honoré Balzac oder gar Honoré Balssa.

Denn Balssa, nicht Balzac und schon gar nicht de Balzac lautet der richtige Familienname seiner proletarischen Ahnen; sie besitzen keine Schlösser und führen keinerlei Wappenschild, das der dichterische Nachfahr an die Karosse malen kann; sie reiten nicht aus in blinkendem Harnisch und fechten keine romantischen Turniere, sondern sie treiben tagtäglich die Kühe zur Tränke und roden in hartem Schweiße die Erde des Languedoc. In einer armseligen Steinhütte des Weilers La Nougayrié bei Cannezac ist Balzacs Vater, Bernard-François, als einer der vielen dort ansässigen Balssas am 22. Juni 1746 geboren. Und die einzige Notorietät, die sich jemals einer dieser Balssas erworben hat, war eine äußerst bedenkliche; im selben Jahre 1819, da Honoré die Universität verläßt, wird der vierundfünfzigjährige Bruder seines Vaters verhaftet unter dem Verdacht, ein schwangeres Dorfmädchen ermordet zu haben, und nach einem aufsehenerregenden Prozeß im nächsten Jahre guillotiniert. Vielleicht bot gerade das Verlangen, sich weitmöglichst von diesem anrüchigen Vatersbruder zu distanzieren, Balzac den ersten Anstoß, sich zu nobilitieren und sich eine andere Herkunft zu erfinden.

Bernard-François, Balzacs Vater, wird als ältestes von elf Kindern von seinem Vater, einem ganz gewöhnlichen Landarbeiter, zum geistlichen Berufe bestimmt; der Dorfpfarrer lehrt ihn lesen und schreiben und sogar etwas Latein. Aber der kräftige, vitale und ehrgeizige Junge zeigt wenig Neigung, sich eine Tonsur scheren und das Keuschheitsgelübde abnötigen zu lassen. Eine Zeitlang treibt er sich noch im heimischen Weiler herum, teils als Schreiber bei einem Notar aushelfend, teils zugreifend im Weinberg und hinter dem Pflug; aber mit zwanzig Jahren bricht er aus, um nicht wieder zurückzukehren. Mit jener zähen, unnachgiebigen Stoßkraft der Provinzialen, die sein Sohn in seinen Romanen in den großartigsten Varianten geschildert hat, bohrt er sich in Paris ein, zuerst unsichtbar und unter der Oberfläche als eben nur einer der unzähligen jungen Leute, die in Paris Karriere machen wollen, ohne selbst zu wissen, auf welche Weise und in welchem Beruf. Daß er – wie er später als arrivierte Provinzgröße behauptet – unter Ludwig xvi. Sekretär im Conseil du Roi oder gar Avocat du Roi gewesen sei, ist längst als Gaskonade des erzählfreudigen alten Herren durch die Tatsache entlarvt, daß keiner der Almanachs du Roi weder einen Balzac noch Balssa in ähnlichem Amte erwähnt. Erst die Revolution schwemmt diesen Proletariersohn wie so viele hoch, und er fungiert – eine Stellung, von der sich der spätere Armeekommissar hütet, viel zu erzählen – als Beamter in dem Pariser revolutionären Stadtrat. Dort scheint er sich Verbindungen geschaffen zu haben, und mit dem leidenschaftlichen Instinkt für Geld, den er seinem Sohne vererben wird, sucht er sich in der Kriegszeit die Abteilung der Armee aus, wo man am besten verdient: Verpflegung und Kriegslieferung. Von der Verpflegungsbranche einer Armee führen wiederum unweigerlich goldene Fäden hinüber zu Geldleihern und Bankiers. Eines Tages schaltet nach dreißig Jahren dunkler Berufe und Geschäfte Bernard-François noch einmal um und taucht als erster Sekretär im Bankhaus Daniel Doumerc in Paris auf.

Mit fünfzig Jahren ist Vater Balzac endlich die große Transformation gelungen – wie oft hat sein Sohn sie geschildert! –, die aus einem unruhigen, ehrgeizigen Habenichts endlich den wohlanständigen Bürger, das biedere oder bieder gewordene Mitglied der guten »Gesellschaft« macht. Jetzt erst, mit etwas erworbenem Kapital und einer gesicherten Stellung, kann er den nächsten notwendigen Schritt tun, um aus einem Kleinbürger ein Großbürger (und später aus dem Großbürger – letzte, ersehnteste Stufe – ein Rentier) zu werden: er wird heiraten, und zwar ein vermögendes Mädchen heiraten und aus guter bürgerlicher Familie. Mit einundfünfzig Jahren ein vollgesunder, stattlicher Mann, dazu ein gewandter Schwadroneur und geübter Herzensbrecher, richtet er seine Blicke auf die Tochter eines seiner Vorgesetzten in der Bank. Anne Charlotte Sallambier ist zwar um zwei- unddreißig Jahre jünger und hat etwas romantische Neigungen, aber als wohlerzogene, fromme Bürgerstochter unterwirft sie sich gehorsam dem Rate der Eltern, die den zwar bedeutend älteren, aber mit gutem Geldsinn begabten Balzac für eine solide Partie erklären. Kaum verheiratet, hält es Vater Balzac schon unter seiner Würde und auch zu wenig einträglich, bloßer Angestellter zu bleiben; unter einem Napoleon scheint ihm der Krieg eine viel raschere und ergiebigere Erwerbsquelle. So läßt er seine alten Verbindungen wieder spielen und übersiedelt, gesichert durch die Mitgift seiner Frau, als Verpflegungsleiter der 22. Division nach Tours.

Zu diesem Zeitpunkt, da ihnen der erste Sohn Honoré (am 20. Mai 1799) geboren wird, sind die Balzacs bereits vermögende Leute und werden als respektable Mitbürger in die Haute Bourgeoisie von Tours aufgenommen. Die Belieferungen Bernard-François’ scheinen gute Einkünfte abzuwerfen, denn die Familie, die unablässig gleichzeitig sparte und spekulierte, beginnt jetzt stattlich aufzutreten. Unmittelbar nach der Geburt Honorés übersiedeln sie aus der engen Rue de l’Armée d’Italie in ein eigenes Haus; sie gönnen sich bis 1814, solange die goldene Zeit der Napoleonischen Kriegszüge andauert, den Kleinstadtluxus eines Wagens und reichlicher Dienerschaft; die beste Gesellschaft, ja sogar die Aristokratie verkehrt ständig im Hause des Häuslersohnes und ehemaligen Mitglieds des blutroten Stadtrats: der Senator Clément de Ris, dessen mysteriöse Entführung Balzac später in der Ténébreuse Affaire [›Dunklen Affäre‹] ausführlich schildern wird, sowie der Baron von Pommereul und Monsieur de Margonne, die späterhin dem Dichter in seinen schwersten Zeiten Unterstand und Hilfe bieten werden. Sogar zu städtischer Wirksamkeit wird Vater Balzac herangezogen, er verwaltet das Hospital, und seine Meinung...

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