2. Einstieg in The Work
Was Sie in diesem Kapitel erwartet
Im ersten Kapitel habe ich aufgezeigt, wie machtvoll unsere Gedanken sind und welchen Einfluss sie auf unsere Lebensqualität haben. Ich stelle Ihnen jetzt eine Methode vor, die eine sehr nützliche Gebrauchsanweisung für unseren Verstand ist, denn sie hilft uns, unsere stressauslösenden Gedanken zu erkennen und zu hinterfragen – The Work von Byron Katie.
2.1 Die Kakerlaken-Lady
The Work wurde von einer amerikanischen Geschäftsfrau entwickelt, die vordergründig von Psychologie und Stressmanagement keine Ahnung hatte und die in ihrem Leben vielleicht auch noch nie ein Selbsthilfebuch in den Händen gehalten hatte, bevor sie selbst einige davon verfasste. Wieso sollte eine Methode, die von einer ehemaligen Immobilienmaklerin kommt, die jahrelang massive psychische Probleme hatte, etwas Hilfreiches für andere Menschen bereithalten? Byron Katie hat zwar keinen Doktortitel in Psychologie und ist auch nicht als Coach ausgebildet, dafür hat sie aber handfeste Erfahrungen mit psychischen Abgründen. In ihren Dreißigern durchlief sie eine mehrere Jahre währende Depression inklusive Panikattacken, Übergewicht und Jähzorn, der sich auf jeden entlud, der ihr in die Quere kam.
Irgendwann entschied sie sich, in eine Einrichtung für Frauen mit Essstörungen zu gehen – die einzige Einrichtung, für die ihre Krankenkasse bereit war die Kosten zu übernehmen. Dort verbannte man sie auf den Speicher, weil alle anderen Frauen Angst vor ihren Wutausbrüchen hatten. Katie erzählte, dass sie sich nicht für würdig empfunden habe, in ihrem Bett zu schlafen. So lag sie auf dem Boden und irgendwann krabbelte eine Kakerlake über ihren Fuß. Dieses profane Ereignis löste ganz unerwartet ein völlig neues Bewusstsein in ihr aus: Sie konnte plötzlich die Welt um sich herum ohne Konzepte, ohne Geschichten wahrnehmen. Jegliche Labels, auch über sie selbst, lösten sich in diesem Moment auf. Sie empfand sich nicht mehr als „Ich“ und wurde zu einem unpersönlichen „Es“. Und sie erkannte, dass dieses „Es“ geatmet wurde und auch gedacht wurde. Sie empfand keinerlei Trennung zu den anderen und der Welt und es gab in diesem Moment nichts, das sie nicht liebte. Byron Katie kam zu der Einsicht, dass sie, sobald sie Schmerz verspürte, in Widerstreit mit der Realität geriet: „Das Leben sollte einfach anders sein, als es ist.“ (Mitchell, 2002, S.10). Um diesem stressauslösenden Grundgedanken in all seinen Ausprägungen zu begegnen, entwickelte sie die vier Fragen und die Umkehrungen, die die Methode The Work ausmachen. Jetzt, 26 Jahre später, begegnet einem eine strahlende, herzliche und humorvolle Frau, die sehr engagiert und aktiv in der Weltgeschichte herumreist, um den Menschen The Work näherzubringen. Wie konnte es zu so einer weitreichenden Veränderung bei ihr kommen? Sie sagt, indem sie jeden stressvollen Satz hinterfragt hat, der in ihrem Verstand aufgetaucht ist.
2.2 The Work nach Byron Katie
„Das Glück deines Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab.“
Marc Aurel
Stellen Sie sich folgende Szenerie vor: Sie sitzen in Ihrem Auto und fahren ganz entspannt auf einer Autobahn. Das Wetter ist traumhaft, die Sonne scheint und Sie fahren gemächlich auf der freien Straße. Nebenbei hören sie vielleicht noch Musik im Radio. Als auf der rechten Fahrbahnseite eine Karawane von Lastwagenfahrern auftaucht, fahren Sie auf die linke Fahrbahn, um zu überholen. Während Sie überholen, sehen Sie im Rückspiegel, wie ein Auto mit Lichthupe in großer Geschwindigkeit auf Sie zugerast kommt. Sie können nicht rechts einscheren, also fahren Sie weiter auf der linken Spur. Der BMW-Fahrer, wie Sie jetzt erkennen, rückt gefährlich nahe an Ihre Stoßstange heran und gibt Ihnen mit seiner Lichthupe deutlich zu verstehen, dass Sie Platz machen sollen. Welche Gefühle und Gedanken haben Sie wohl in diesem Moment?
The Work wird auch Überprüfung oder Selbstbefragung genannt. Diese beiden Begriffe deuten schon an, worum es geht – die Überprüfung stressvoller Gedanken durch eine Befragung des eigenen Selbst, genauer gesagt, des Verstandes. Genau dies geschieht bei dieser einfachen und übersichtlichen Methode. The Work ist dabei sehr strukturiert und folgt einem klaren, vorgegebenen Ablauf, den ich Ihnen in diesem Kapitel näherbringen möchte. Erwachsene wie Kinder können die Befragung anwenden, um ihre stressauslösenden Gedanken zu überprüfen. Mit stressauslösend sind generell all die unangenehmen Gefühlsreaktionen gemeint, die ein Gedanke auslösen kann. In dem obigen Beispiel könnte der Gedanke lauten: „Der BMW-Fahrer sollte mich nicht so bedrängen.“ Gefühle, die dieser Gedanke auslöst, sind z. B. Wut, Unbehagen oder Angst. Das ist mit stressvollem Gedanken gemeint, ein Gedanke also, der einen unangenehmen Impuls im Körper auslöst. Vielleicht krampft sich der Magen zusammen oder Sie würden am liebsten flüchten oder Sie spüren, wie sich dabei Ihre Schultern anspannen. Genau diese Qualität von Gedanken brauchen wir für The Work, sie sind das ideale Ausgangsmaterial für die Befragung.
Es gibt natürlich auch andere Gedanken wie z. B. „Ich liebe meinen Partner“ oder „Ich genieße es, meinen Körper durch Yoga zu bewegen“. Diese Gedanken sind wunderbar und ich hoffe, Sie haben viele Gedanken dieser Art in Ihrem Leben, denn davon kann man gar nicht genug haben. Sie bewirken ebenso wie die stressauslösenden Gedanken einen Impuls im Körper, ein Gefühl, mit dem Unterschied, dass sie keinen Stress, sondern Harmonie und Wohlempfinden auslösen. Aber zurück zu den negativen Gedanken: Wir Menschen wollen diese Art von Gedanken normalerweise nicht haben und versuchen sie mit verschiedenen Methoden zu eliminieren: Arbeit, Computer und Internet, Shopping, Fernsehen, Alkohol, Zigarette, Essen ... mit wenig Erfolg. Gedanken lassen sich langfristig nicht übertünchen oder ausrotten, sie geschehen einfach, so wie Atmung geschieht oder Regen passiert. Ich zeige Ihnen in diesem Kapitel eine Methode, mit der Sie auf kluge Weise mit Ihren stressvollen Gedanken Frieden schließen können.
2.3 Gedanken festmachen
Unser Verstand ist flink wie ein Wiesel, vielleicht ist Ihnen auch schon mal aufgefallen, wie er von einem Thema zum nächsten hüpft, er schlägt förmlich innerlich Kapriolen und produziert Gedanken als Massenware. Wie kann ich da überhaupt einen einzelnen stressvollen Gedanken identifizieren? Es hat sich in meiner Praxis als Coach und Begleiterin bei The Work sehr bewährt, zuerst eine Art Bestandsaufnahme über ein Stress-Thema zu machen und unzensiert alle Gedanken dazu aufs Papier zu bringen. Der Vorteil vom Festhalten auf Papier ist, dass man es nachher schwarz auf weiß hat, oft vergisst man nämlich wie bei einer Teilamnesie die Sätze, die einem noch vor fünf Minuten unter den Fingernägeln gebrannt haben. Die Gedanken aufzuschreiben unterstützt den Verstand dabei, sich auf ein Thema zu fokussieren. Und die Gedanken festzuhalten ist auch ein Nachhaltigkeits-Check, ob The Work langfristig etwas gebracht hat. So, wie wir unsere stressvollen Gedanken schnell wieder aus den Augen verlieren, so vergessen wir auch schnell mal, dass wir überhaupt so einen Gedanken je gehabt haben. Wenn Sie Ihre Gedanken schriftlich fixieren und am besten noch an einem Ort, z. B. Ihrem persönlichen Gedankenbuch, dann haben Sie immer wieder die Möglichkeit, darin zu blättern und zu prüfen, was aus all den stressvollen Gedanken in Ihrem Leben geworden ist. Womöglich huscht ein Lächeln über Ihre Lippen, wenn Sie sehen, welchen Gedanken Sie vor einem Jahr noch Glauben geschenkt haben.
The Work ist eine Erfahrung und die lässt sich am besten machen, wenn man sie selbst erlebt. Ich rege Sie in diesem Buch immer wieder an, The Work auszuprobieren und für sich selbst zu testen. Theoretisch darüber zu reflektieren ist das eine, es am eigenen Leib zu spüren nochmal etwas ganz anderes. Byron Katie sagt oft, „Glauben Sie mir nichts – testen Sie es für sich selbst“; dem schließe ich mich gerne an.
(Für die folgende Übung empfiehlt es sich, dafür zu sorgen, diese in Papierform vorliegen zu haben.)
Übung
Stressauslösende Gedanken finden
Ich lade Sie jetzt ein, Ihren stressvollen Gedanken über einen anderen Menschen auf die Spur zu kommen. Welcher Mensch ärgert Sie mit seinem Verhalten oder Ansichten? Wer drückt so richtig Ihre Knöpfe, wer hat Sie enttäuscht, Ihnen wehgetan und Sie verletzt durch sein Verhalten? Beginnen Sie, indem Sie an diese eine Situation denken, in der Sie Stress empfunden haben. Es kann ein einmaliges Ereignis sein oder eine Situation, die sich schon öfters wiederholt hat und wenn es auch nur in Ihren Gedanken war. Gehen Sie gedanklich in diese Situation zurück und nehmen Sie die Person wahr, die noch an der Situation beteiligt ist. Lassen Sie die Gefühle hochkommen, die in dieser Situation durch diese Person entstehen. Nehmen Sie wahr, welche Gefühlsregungen geschehen und welche Gedanken über die Situation oder die anwesende Person auftauchen. Seien Sie ruhig kritisch mit dem anderen, lassen Sie ihm nichts durchgehen, nehmen Sie sich selbst nicht zurück, schreiben Sie das auf, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Seien Sie dabei ruhig kindisch, anklagend und überhaupt nicht weise und erwachsen.
Gedanken von mir über einen Kollegen in einer Arbeitsbesprechung lauteten z. B.:
„Ich bin sauer auf Peter, weil er mir nicht zuhört.“
„Ich bin genervt von Peter, weil er...