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Der Gral. Mythos und Literatur

Mertens, Volker - Entwicklung einer Legende - 1., Aufl.

AutorVolker Mertens
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2003
ReiheReclam Literaturstudium 
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783159503066
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Der Gral ist der faszinierendste, fruchtbarste der aus dem Mittelalter überkommenen Mythen. Sein Ursprung verliert sich im Dunkel der keltischen Vorzeit, was folgte, war eine jahrhundertlange Rezeption, die bis heute andauert - von Chrétien und Wolfram über Wagner bis zu Monty Python und Indiana Jones. Was genau sich hinter dem 'Gral' verbirgt? Fest steht nur: 'Man kann ihn nicht besitzen. Man muss ihn suchen.'

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Leseprobe

6. Kapitel

Der Gral als höchstes Abenteuer: Heinrich von dem Türlin Diu Crône
(S. 125-126)

Um 1250 bindet Heinrich von dem Türlin den Gral völlig in die Artuswelt ein und macht damit die Außenstellung rückgängig, die Wolfram ihm gegeben hatte. Er behält zwar seine Position als höchstes Abenteuer, vermittelt jedoch keine spirituelle oder politische Bedeutung mehr, was im Zusammenhang mit dem Sinnloswerden der Abenteuerwelt schlechthin in der Crône zu sehen ist. Die Lektüre des (nur in einer vollständigen Handschrift überlieferten) Werkes bietet ein von tieferen Sinndimensionen entlastetes Vergnügen, das Erzähltempo ist durchweg recht schnell, der Bezug auf Gawein hält die Handlung zusammen, die durch die regelmäßige Rückkehr an den Artushof gegliedert wird. In der abstrusen Bildfülle der Wunderketten übertrifft Heinrich alle Vorgänger weit; die Blässe der Gralszenen soll eine wohl kalkulierte Enttäuschung bewirken, da der Autor einen Anti-Gralroman verfassen wollte.

Gerade vor dem Hintergrund der religiösen Bedeutungsaufladung in der Queste erweist sich die Crône als buntes Abenteuerspektakel von erzählerischem Reiz, in dem die Öffnung eines phantastischen Raums neben der Realität in Überbietung der herkömmlichen Aventiurenszenen diesen tatsächlich die »Krone« aufsetzt und sie damit als halbherzig bloßstellt, sobald man die Erfindung von anderen Welten als Erzählprinzip akzeptiert. Sie beginnt als Artusroman mit einem ausführlichen Preis des Königs im Prolog und der Ankündigung, von Artus’ Jugend zu erzählen. Der erste Teil zeigt ihn als König mit Schwächen, der auf seinen besten Ritter Gawein angewiesen bleibt. Diese Schwächen sind jedoch nicht ethisch-moralischer Art, sondern liegen im Bereich der herrscherlich-kämpferischen Dimension. Das wird zu Beginn mit einer Tugendprobe gezeigt: nur die sind vollkommen, die aus einem Becher trinken können, ohne zu verschütten. Keine Dame besteht, von den Rittern ist es allein Artus, der damit als würdiger Protagonist eingeführt wird. Doch er ist gefährdet: bei der Winterjagd trifft er auf einen minnesingenden Ritter, Gasozein, der Anspruch auf die Königin erhebt.

Er kann den Begleiter des Königs besiegen, der Kampf aber mit Artus selbst wird abgebrochen und an den Artushof verlagert. Damit ist die Bühne bereit für den besten Ritter des Königs, Gawein, der diese Rolle bereits in den vorhergehenden Romanen gespielt hatte; er ist der vollkommene Ritter, ohne dass Bewährungsproben nötig wären. Er wird um Hilfe gebeten und löst sein Versprechen nach einer Reihe von Aventiuren auf dem Weg dorthin auch ein, zu denen die Liebesbeziehung zu Amurfina gehört, die er erst infolge eines Vergessenheitstranks eingeht, aber bereits nach fünfzehn Tagen wieder aufgibt. Auf dem Hoftag von König Artus soll Ginover selbst entscheiden, wem sie folgen will, Artur oder Gasozein. Sie entscheidet sich für den König, damit also für die Stabilität der Institution der Ehe und implizit für die Herrschaft. Gawein befreit daraufhin die von Gasozein entführte Königin, Gasozein widerruft nach einem schweren Kampf seinen Anspruch auf sie, wieder kommt es zu einem Fest. Solche Feste gliedern den Roman, der nicht einer typischen arthurischen Bedeutungsstruktur folgt, in vier Handlungskomplexe. Der nächste Abenteuerkomplex ist um den Erbstreit zweier Schwestern zentriert, eingelagert sind eine Reihe von klassischen Aventiuren wie das Überwinden einer Schwertbrücke und das sog. Kopfabschlagespiel mit dem Zauberer Gansguoter: Gawein darf ihm den Kopf abschlagen, muss dafür jedoch die gleiche Probe bestehen.

Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Vorwort7
Christliches Heilssymbol oder keltischer Herrschaftsmythos?9
Den Gral erzählen: Chrétien de Troyes25
Den Gral erklären – und relativieren: Wolfram von Eschenbach51
Sakralisierung und Historisierung: Robert de Boron83
Liebessünder und Ritterheiliger vor dem Gral: Lancelot und Galahad104
Der Gral als höchstes Abenteuer: Heinrich von dem Türlin Diu Crone125
Der Gral der Artuswelt: das Brackenseil134
Der Gral am Ende des Mittelalters148
"Von der Pforte des tötlichen Vergessens": der Gral im 18. Jahrhundert158
Vom Menschengedicht zum Mythos: der Gral in der Romantik164
Der ferne Gral: Richard Wagners Lohengrin173
Der Gral als Bühnentableau: Parsifal186
Der Gral in England: Tennyson, Burne- Jones, Eliot202
Der Gral im frühen 20. Jahrhundert: Lyrik, Roman, Programmschrift, Drama und der Parsifal212
Der Gral verschwindet: Dorst, Handke und Muschg244
Gralkino: Syberberg, Rohmer, Boorman, Gilliam254
Epilog267
Literaturhinweise269
Zum Autor279

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