Vorwort – Die reine Essenz
Als das Olivenöl die Temperatur von 28 Grad Celsius erreicht hatte, bei der seine Aromastoffe flüchtig werden, hoben die acht Verkoster die Deckel von den Gläsern mit der ersten Ölprobe, versenkten ihre Nasen darin und begannen – manche mit geschlossenen Augen – geräuschvoll zu schnuppern. Sie gehörten zur Prüfergruppe der Corporazione Mastri Oleari in Mailand – der Innung der Olivenmeister, einem der angesehensten privaten Olivenölverbände. Bei der Degustation saß jeder Prüfer für sich in einer Kabine aus weißem Formica, ausgestattet mit einem Spülbecken, einem Stift und einem Stapel Formulare für die Profilbeschreibung sowie einem Joghurtbereiter mit Thermostat, auf dem sechs tulpenförmige Probiergläser mit Ölproben standen. Die Gruppe war bunt gemischt – ein 33-jähriger Landwirt vom Gardasee, eine 47-jährige toskanische marchesa, sonst als private Motivationstrainerin tätig, ein 66-jähriger Mailänder Geschäftsmann. Die ersten Prüfer waren gegen neun Uhr eingetrudelt – unüberhörbar frustriert, weil sie sich den Kaffee und die Morgenzigarette verkneifen mussten. Diese Genüsse sind vor der Degustation verboten, weil sie die Sinneswahrnehmungen verfälschen. Inzwischen saßen die Tester schweigend in ihren Kabinen und wirkten voll konzentriert und versunken, wie Chemiker im Labor oder Professoren in der Bibliothek. Auf den Regalen ringsum an den Wänden standen hunderte Flaschen Olivenöl und daneben sechzehn braune Laborflaschen, die fein säuberlich mit weißen Etiketten versehen waren und Aufschriften trugen wie »modrig-feucht«, »stichig«, »ranzig«, »wein-/essigartig«, »gurkig«, »schlammig« und weitere Adjektive, die unangenehme Geruchserlebnisse verhießen – die offiziellen Mängel von Olivenöl. Die Sinne der acht Prüfer waren darauf trainiert, schon die geringste Spur davon zu entdecken.
Die Verkoster probierten die sechs Öle nach einer strengen Verfahrensvorschrift, die – ebenso wie die Ausstattung des Degustationsraums – von italienischem und europäischem Recht vorgeschrieben war. Mit ihrer Hand umfingen sie die Gläser wie Cognacschwenker, damit das Öl warm blieb, berochen es ausgiebig und notierten jeden wahrgenommenen Dufteindruck. Sie nahmen einen Schluck Öl in den Mund und verfielen prompt der Reihe nach in eine Art Ölkrampf: Durch die Mundwinkel saugten sie heftig Luft an – eine Technik, die strippaggio genannt wird und die Geschmacksknospen mit einer Emulsion aus Öl und Speichel überzieht, sodass die Aromen des Öls in die Nasengänge hinaufziehen können. Nach den ersten heftigen Luftzügen wurden die strippaggi weicher, meditativer und individueller – keuchend, ja beinahe wehmütig bei der marchesa, tief und rasselnd bei dem Mailänder Geschäftsmann, fast als würde er mit Bittersalz gurgeln. Nachdem sie jedes Öl 10 bis 15 Minuten lang wiederholt verkostet und den Gaumen zwischendurch immer wieder mit Mineralwasser gespült hatten, hielten sie ihre Eindrücke von Geschmack, Aroma, Intensität, Beschaffenheit und anderen Merkmalen auf einem Bewertungsbogen fest.
Eineinhalb Stunden lang waren die Verkoster in ihren Kabinen zugange, schnupperten, schlürften und sinnierten über die Öle. Als die letzte Probe bewertet war, erhoben sie sich schließlich, streckten sich, als wären sie gerade aufgewacht, und versammelten sich um den Besprechungstisch in der Mitte des Raums. Dort sogen sie genussvoll an lang ersehnten Zigaretten und nippten an Kaffeetassen, während der Leiter des Gremiums, Alfredo Mancianti, die Profilbeschreibungen auswertete. »Die Verkoster selbst bewerten kein Öl«, erklärte mir der Mailänder Geschäftsmann Flavio Zaramella, seines Zeichens Vorsitzender von Mastri Oleari. »Sie geben nur ihre Eindrücke von den Proben wieder und quantifizieren diese. Die Wertung für das Öl nimmt der Leiter der Prüfergruppe vor, indem er die acht Einschätzungen mit Hilfe belastbarer statistischer Methoden zusammenführt.«
Als ich dem obersten Olivenmeister bei der Arbeit über die Schulter schaute, sah ich, dass die Urteile der acht Prüfer erstaunlich übereinstimmend ausgefallen waren. Sie beschrieben die Beschaffenheit und den Charakter jedes Öls sehr ähnlich und entdeckten dieselben hintergründigen Geschmacks- und Duftnoten darin – Artischocke, frisch gemähtes Gras, grüne Tomaten, Kiwi.
»Das Tonda Iblea aus Südsizilien fiel durch Artischocke und grüne Tomate im Abgang auf«, erklärte Zaramella seinen Kollegen. »Aber das beste, körperreichste Öl war insgesamt wohl Marcinase DOP Terra di Bari aus Apulien, denke ich.« Die anderen nickten beifällig. Eine Dame merkte allerdings an, dass sie das Villa Magra Gran Cru aus der Toskana bevorzuge, weil es ausgewogener und harmonischer sei.
Ich konnte mich kaum zurückhalten. Artischocke? Frisch geschnittenes Gras? Bei aller Liebe, hier ging es doch nicht um erlesene Weine aus dem Bordeaux, sondern um flüssiges Fett. Zweifelsohne waren diese Öle mit großem handwerklichem Geschick hergestellt worden, »kaltgepresst« und all das – aber Artischocke? Grüne Tomate? Kiwi?
Meine Skepsis stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben. Zaramella drückte seine Zigarette aus, sprang auf, packte mich am Arm und bugsierte mich in eine der Probierkabinen. »Was über so ein Öl gesagt wird, hört sich komplett hirnrissig an, bis man erstmals ein richtig gutes Öl im Mund gehabt hat«, meinte er. Dann goss er Ölproben in tulpenförmige Gläser und setzte sie zum Erwärmen neben mir auf das Gerät. Dabei deckte er sie mit dünnen Glasdeckeln ab, damit die Aromen nicht entweichen konnten. Als das Licht am Thermostat ausging und damit anzeigte, dass das Öl die gewünschte Temperatur von 28 Grad Celsius erreicht hatte, weihte mich Zaramella in das anerkannte Verfahren zur Prüfung von Olivenöl ein: Er zeigte mir, wie man eine Probe mehrmals intensiv beroch und versuchte, zwischen den Atemzügen den Kopf freizubekommen, wie man einen kleinen Schluck nahm und mit der Zunge im Mund herumrollen ließ, um die Mundschleimhaut zu benetzen, und wie man das geräuschvolle Schlürfen des strippaggio bewerkstelligte. Immer wieder wies er mich an, meinen Gaumen zwischendurch mit Mineralwasser oder durch einen Bissen Granny Smith zu reinigen.
In der nächsten Stunde wagte ich unter Zaramellas Anleitung meinen ersten zaghaften Vorstoß auf das weite, weitgehend unkartierte Feld des Olivenöls der Güteklasse »nativ extra« – wie ein Anfänger, der von einem Meister seines Fachs die erste Ballett-, Yoga- oder Geigenstunde bekommt. Ich erfuhr, dass Öle aus verschiedenen Olivensorten oder Oliven derselben Sorte, die an verschiedenen Standorten angebaut worden waren, genau so unterschiedlich sind wie Wein aus verschiedenen Trauben: Das strohfarbene Casaliva-Öl vom Gardasee schmeckte süßlich und ließ einen Hauch von Pinienkernen und Mandeln erahnen, während das smaragdgrüne Moraiolo aus der mittleren Toskana so pfeffrig war, dass es mir die Tränen in die Augen trieb und wohlig in der Kehle brannte. Und tatsächlich, das Tonda Iblea aus den Hügeln im Südosten Siziliens hatte eindeutig eine Anmutung von grünen Tomaten und Artischocken – genau wie Zaramella und seine Kollegen gesagt hatten. Die Verkostung dieser Öle war wie ein Spaziergang durch einen botanischen Garten, eine Führung durch eine Parfumfabrik und eine ausgedehnte Tour durch Frühlingswiesen im offenen Cabrio – und das alles auf einmal: zu gleichen Teilen wissenschaftliche Analyse und ungenierter, andächtig zelebrierter Hedonismus.
Ich griff nach der letzten Probe, die mir Zaramella eingeschenkt hatte, schnupperte flüchtig und nippte. Nach einem schwindelerregenden Moment der Verwirrung und rasch einsetzendem Ekel spuckte ich das Öl reflexartig in den Ausguss. Damit stimmte etwas ganz und gar nicht. Nach den feinen, intensiv frischen Aromen, die ich zuvor gekostet hatte, fühlte es sich in meinem Mund schleimig und derb an und schmeckte nach verfaultem Obst.
Zaramella lachte schroff. »Das Öl aus dem Supermarkt habe ich als Letztes eingeschenkt«, sagte er, »sonst wäre Ihr Gaumen so sicher für die hochwertigen Öle ruiniert gewesen, als hätte ich Sie mit Katzenpisse gurgeln lassen.«
Er holte die braunen Laborflaschen vom Wandregal und stellte sie in einer Reihe auf dem Besprechungstisch auf. »Jetzt kommt der unterhaltsame Teil«, erklärte er mir. »Sie müssen herausfinden, was mit diesem letzten Öl nicht in Ordnung ist. Wie ein Detektiv – oder ein Pathologe.«
Er öffnete eine Flasche nach der anderen und reichte sie mir, damit ich mir merkte, wie sie roch. Den Flaschen entströmte eine erstaunliche Vielzahl an strengen, unangenehmen und ekelerregenden Gerüchen, denen die Etiketten – »ranzig«, »stichig«, »wein-/essigartig«, »schlammig«, »metallisch«, »espartograsartig«, »modrig-feucht« – kaum gerecht wurden. Dann, nach mehreren Apfelschnitzen und vielen tiefen Atemzügen, um meinen Gaumen zu befreien, kostete ich das Öl erneut, schnupperte, nippte und versuchte, seine Unzulänglichkeiten näher zu bestimmen. Ich meinte, verschiedene Fehlnoten erkannt zu haben, und notierte sie auf einem Bewertungsblatt.
Als ich fertig war, entließ mich Zaramella aus meiner Kabine, setzte mich an den Besprechungstisch und nahm mir gegenüber Platz. Er zündete sich die nächste Zigarette an und nahm einen kräftigen Zug. Dann überflog er meine Notizen. »Gar nicht so schlecht«, brummte er und stieß dabei eine Rauchwolke aus, die kurzfristig den Raum verdunkelte. »›Ranzig‹ und ›stichig‹...