Der 20. Oktober 2009 kann wohl als Ausgangspunkt für die europäische Schuldenkrise genommen werden. An jenem Tag sah sich der damalige Finanzminister der neu ins Amt gewählten griechischen Regierung, Giorgos Papakonstantinou, dazu gezwungen, die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der griechischen Schuldenmisere zu unterrichten. Die Finanzmärkte reagierten auf die ans Licht gekommene Täuschung mit einem massiven Vertrauensverlust. Anfang Dezember 2009 stufte Fitch Ratings die Kreditwürdigkeit Griechenlands von A- auf BBB+ herab, die beiden anderen großen amerikanischen Ratingagenturen Standard & Poor’s sowie Moody’s zogen kurz darauf nach. In den darauffolgenden vier Monaten büßten griechische Staatspapiere bis zu 40 % ihres Wertes ein, die Risikoaufschläge, welche das Land verglichen zu solideren Schuldnern zu begleichen hatte, schossen förmlich in die Höhe und am Markt für Kreditausfallversicherungen (CDS) erreichten die Absicherungskosten gegen einen Zahlungsausfall einen historischen Höchststand. [198] Am 27. April 2010 spitze sich die Lage weiter zu, als Standard & Poor’s sein Rating für griechische Staatsanleihen auf Ramschniveau (BB+) reduzierte und damit einem Zahlungsausfall des Schuldners hohe Wahrscheinlichkeit zukommen ließ, Ausblick negativ. [199] Die Athener Börse rutschte daraufhin auf ein Jahrestief ab, auch andere europäische Börsen verzeichneten starke Kursverluste und selbst an der Wall Street waren Ausläufer dieses Bebens zu spüren.[200] Die Renditen für zehnjährige Staatspapiere in Griechenland kletterten am Folgetag über die 10 % Hürde, zweijährige Anleihen verzeichneten sogar eine Rendite von 38 %. [201] Binnen weniger Tage kulminierte der Vertrauensschwund. Ende der ersten Maiwoche war schließlich ein vorläufiger Höhepunkt erreicht, die Zinssätze langfristiger Schuldverschreibungen stiegen auf über 12 % und es zeichnete sich ab, dass sich Griechenland an den Märkten nicht weiter finanzieren konnte. [202] Schaubild 10 zeigt die Zinsentwicklung auf den Anleihenmärkten in den letzten eineinhalb Jahren und bietet einen guten Überblick über die etappenweise Zuspitzung der Krise in Europas Peripheriestaaten. Den Vertrauensschwund, welchen die GIPS-Länder, allen voran Griechenland Anfang Mai 2010 sowie in der Folge erfuhren, lässt sich anhand der steigenden Renditen festmachen.
Grafik 10: Renditeentwicklung zehnjähriger Staatsanleihen seit Januar 2010
Zurück zur Lage Athens. Dieses benötigte dringend Kapital, wurden doch bereits im Juni Anleihen im Umfang eines zweistelligen Milliardenbetrages fällig. Zeitgleich beschleunigten sich daher die politischen Ereignisse. Hatte man bereits im Februar Griechenland formlos politische Unterstützung zugesichert und sich in den beiden Folgemonaten innerhalb der Eurogruppe auf finanzielle Hilfen verständigt, einigten sich die Finanzminister der Eurozone am 2. Mai 2010 darauf, ein 110 Mrd. Euro schweres Rettungspaket für den Ägäisstaat zu aktivieren, das noch in der folgenden Woche auf den Weg gebracht wurde und an ein Sanierungsprogramm, entworfen von IWF, EU-Kommission und EZB gekoppelt war. [203] Letztere teilte darüber hinaus mit, dass sie griechische Anleihen unabhängig ihres Ratings als Sicherheit für Kapitalzuschüsse akzeptieren werde. Die erste Tranche der Liquiditätshilfen, 14,5 Mrd. Euro, wurde am 18. Mai an Athen überwiesen, wodurch das Land seine zwei Tage später fällig werdenden Schulden vorerst bedienen konnte, weitere Hilfszahlungen folgten im August 2010. [204]
Ausgehend von dem Epizentrum Griechenland hatte sich die Nervosität an den Märkten jedoch weiter ausgebreitet, sodass auch andere Länder der Euro-Zone, die gewisse Ähnlichkeiten zu der Mittelmeerrepublik aufweisen konnten, ins Wanken geraten waren und nicht mehr als zuverlässige Schuldner eingeschätzt wurden. Wenn auch insgesamt weniger dramatisch waren in der Tendenz zu Griechenland ähnliche Entwicklungen in Irland und Portugal sowie in abgeschwächter Form in Spanien und Italien zu beobachten. Getrieben von Abstufungen der Ratingagenturen stiegen die Risikospreads auch dieser Länder nahezu kontinuierlich an, wobei immer neue Sparprogrammankündigungen kaum für Beruhigung sorgen konnten.[205] Die täglichen Kursschwankungen an den Anleihemärkten nahmen seit April 2010 deutlich zu, ebenso erhöhte sich die Volatilität am Aktien- und am Geldmarkt, was Zeugnis über die Unsicherheit der Finanzakteure ablegt. Plötzlich, so schien es, war aus dem scheinbar ökonomisch unbedeutenden Griechenland ein systemisches Risiko geworden und das griechische Schuldenproblem zur europäischen Krise mutiert.[206]
Alarmiert von den zunehmenden Marktturbulenzen, sahen sich die politischen Entscheidungsträger in Brüssel folglich nur eine Woche nach der Verabschiedung des griechischen Hilfspakets dazu genötigt, zu einem groß angelegten Gegenschlag auszuholen. Das Ergebnis bildet der während der Nacht vom 9. auf den 10. Mai in geradezu panisch anmutender Weise beschlossene Euro-Rettungsfonds. Mit einem Gesamtvolumen von 750 Mrd. Euro sollte der zunächst für drei Jahre aufgespannte Schutzschirm bedürftigen Krisenstaaten im Ernstfall finanzielle Mittel zu günstigen Konditionen gewähren, zeitgleich begann die EZB mit ihrer Intervention am Rentenmarkt. [207] Vor allem erhoffte man sich dadurch, die Investoren zu beruhigen und das verlorene Vertrauen in die Märkte zurückzugewinnen. Doch dieser Plan ging nicht auf, der großzügige Finanzbeistand konnte nur vorübergehend die Renditeforderungen gegenüber den Krisenstaaten senken. Bereits gut vier Monate nach der Verabschiedung des Rettungsprogramms wurden die zwischenzeitlichen Höchststände vom 7. Mai 2010 bei zehnjährigen Staatsanleihen für Portugal und Irland übertroffen. Irland sah sich daher am 29. November 2010 gezwungen, Finanzhilfen im Umfang von 67,5 Mrd. Euro aus dem Rettungsfonds in Anspruch zu nehmen. [208] Auch ein Ende März 2011 vom Europäischen Rat verabschiedetes Reformpaket für die Währungsunion, das unter anderem die Umwandlung des Rettungsschirms in einen dauerhaften Krisenfonds Mitte 2013 vorsieht und die effektive Kreditvergabekapazität nochmals erhöhen soll, brachte keine nachhaltige Stabilisierung. [209] Im Gegenteil, insbesondere die Märkte für griechische, portugiesische und irische Staatspapiere gerieten seit dem Jahreswechsel zusehends stärker unter Druck, sodass Anfang April auch Portugal unter den Schutzschirm flüchtete. Ende desselben Monats, knapp ein Jahr nach der Verabschiedung der ersten Hilfsmaßnahmen, erreichten die Renditen dieser drei Länder neue Rekordhöhen, Tendenz weiter steigend.[210]
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kommen Europas Schuldenstaaten nicht zur Ruhe. Portugal kämpft ebenso wie Griechenland mit einem untragbar hohen Leistungsbilanz- und Budgetdefizit, wobei die Sorge um ein zweites Rettungspaket die Märkte weiter beunruhigt. Spanien, tief in der Rezession verharrend, belasten vor allem strukturelle Probleme, wie es auch die hohen Arbeitslosenzahlen des Landes zum Ausdruck bringen. Irland verfügt dank einer grundsätzlich gesunden Wirtschaft zwar unter den GIPS-Staaten über das größte Wachstums- und Konsolidierungspotenzial, dem „keltischen Tiger“ macht aber immer noch sein marodes und mittlerweile staatlich garantiertes Bankensystem zu schaffen, sodass auch hier ungewiss ist, ob das Land wie geplant 2012 an die Kapitalmärkte zurückkehren kann. [211] Gleichzeitig häufen sich die Anzeichen, dass ein Staatsbankrott Griechenlands trotz Rettungspaket und Sparkurs nicht mehr zu vermeiden ist. Derzeit wächst der Schuldenberg des Landes trotz Sparmaßnahmen weiter an, für 2011 wurde das Haushaltsdefizit um zwei Prozentpunkte auf 9,5 % nach oben korrigiert, 2012 wird ein Schuldenstand von über 166 % des BIP erwartet. [212] Dabei muss Athen wegen der anhaltenden Rezession allein noch in diesem Jahr 6,4 Mrd. Euro einsparen, um bei seinen Haushaltszielen auf Kurs zu bleiben, bis 2015 sind es gar 78 Mrd. Euro und das bei steigenden Arbeitslosenzahlen, streikenden Gewerkschaften und dem wachsenden Unmut der Bevölkerung, der sich zunehmend in gewaltsamen Ausschreitungen entlädt.[213]
Auch die Ratingagenturen sehen wenig Grund zur Annahme, dass die Hellenen ihre Schuldenprobleme ohne Umschuldung in den Griff bekommen. So senkten im Juni sowohl Moody’s als auch Standard & Poor’s die Bonitätsnoten für Griechenland gleich um drei Stufen (von B1 auf Caa1 bzw. von B auf CCC) ab, womit sich griechische Staatspapiere sieben Stufen tief im Ramschstatus befinden, Ausblick weiter negativ. [214] Seit Anfang Juli gelten auch portugiesische Anleihen als „junkbonds“. Moody‘s setzte die Kreditwürdigkeit des Landes gleich um vier Stufen (von Baa1 auf Ba2) herab und rät von einem Investment in langfristige Staatspapiere ab.[215] Die EZB reagierte prompt und hob, nachdem Gleiches bereits für griechische und irische Anleihen beschlossen worden war, auch für portugiesische Staatspapiere die Mindestanforderung Investment Grade auf.[216] Unter europäischen Politikern beschwor die Entscheidung der Ratingagentur einen Sturm der Entrüstung herauf. Neben dem Vorschlag, die Kreditratings für Länder unter dem Rettungsschirm generell auszusetzen, wurden - wie bereits nach der Finanzkrise - Forderungen nach einer europäischen Ratingagentur laut. [217] Tatsächlich befinden sich die drei großen amerikanischen...