2. DIE DRAMENTHEORIE VON GOTTSCHED BIS LESSING (FRÜH- UND HOCHAUFKLÄRUNG)
2.1. Johann Christoph Gottsched (1700-1766):
2.1.1. Zur Person und Situation Gottscheds
GOTTSCHED, Professor in Leipzig, war insbesondere zwischen 1730 und 1740 in allen Bereichen des literarischen Lebens die tonangebende Figur in Deutschland. Zu Recht gilt er als der „Literaturpapst“ der Frühaufklärung; er selbst bezeichnete sich als „praeceptor germaniae“ (Lehrmeister der Deutschen)
Seine wichtigsten Veröffentlichungen:
Gottsched war Herausgeber zweier Wochenschriften – „die vernünftigen Tandlerinnen“ (1725/26); „der Biedermann“ (1727/29) – Übersetzer einer Vielzahl französischer Stücke ins Deutsche sowie führendes Mitglied der „deutschen Gesellschaft“, deren vorrangiges Ziel die Pflege der deutschen Sprache war und die sich daher dafür einsetzte, deutsch als Wissenschaftssprache zu etablieren.
Gottscheds Bedeutung gründet sich jedoch v. a. auf sein poetologisches Hauptwerk „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ (1730) und das darauf folgende, damals äußerst erfolgreiche Musterstück „Der sterbende Cato“ (1731/32)
Darüber hinaus hatte Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ (1748) großen Einfluss auf die endgültige Festlegung der deutschen Schriftsprache.
Eine Theaterkultur wie in Frankreich oder England gab es in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht („Nullpunktsituation“). Was es gab, waren niveaulose Wanderbühnen, die auf Jahrmärkten auftraten („Pöbeltheater“), und das feudale Hoftheater, das zur Unterhaltung der privilegierten Hofgesellschaft diente (Repräsentationsth.). Beide Theaterformen hatten mit den Idealen der Aufklärung nichts zu tun. Eines der Hauptziele Gottscheds war es daher, das deutsche Theater zu reformieren bzw. so etwas wie ein deutsches Theater überhaupt erst ins Leben zu rufen.
Gottsched orientierte sich dabei vor allem am Theater der Antike (ARISTOTELES, HORAZ) und den Stücken des französischen Klassizismus (CORNEILLE, RACINE, MOLIÈRE); die philosophische Grundlage seiner Poetologie bildet der Rationalismus (LEIBNIZ, WOLFF).
Wie Leibniz und Wolff geht auch Gottsched davon aus, dass das Universum geordnet ist und klaren Regeln folgt. Wahr und gut kann daher nur das sein, was vernünftig ist und nachvollziehbaren Regeln folgt. In seiner „Critischen Dichtkunst“ überträgt Gottsched diese Postulate auf die Kunst.
2.1.2. Gottscheds normative Regelpoetik in der „Critischen Dichtkunst“ von 1730:
In seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) stellt Gottsched eine normative Regelpoetik auf, deren Ziel es ist, den Weg zu einer deutschen Nationalliteratur zu weisen (s.o.); einen besonderen Schwerpunkt legt er dabei auf das Theater, das er zu einer öffentlichen Bildungsinstitution umgestalten will.
Getragen wird seine Poetologie vor allem von zwei Leitmotiven:
1) Die Literatur bzw. das Theater muss klaren und vernünftigen Regeln folgen.
2) Hauptziel muss es sein, den Menschen zu einem vernünftigen und sittlichen Leben zu erziehen.
Beide Regeln sind typisch für das Denken der Frühaufklärung! Gottsched wendet sich mit ihnen nicht zuletzt gegen die Tradition des Barock.
Mimesis und poetische Wahrscheinlichkeit: Im Zentrum der „Critischen Dichtkunst“ steht ARISTOTELES’ Mimesis-Konzept, demzufolge Poesie nichts anderes ist als die „Nachahmung der Natur“ – bzw., auf das Drama bezogen, die „Nachahmung handelnder Menschen“. Gottsched nimmt diesen Gedanken auf und leitet daraus das Prinzip der poetischen Wahrscheinlichkeit ab: Dargestellt werden darf nur das, was wahrscheinlich bzw. glaubwürdig und in diesem Sinn vernünftig ist. Irrationales und Wunderbares dagegen muss unter allen Umständen vermieden werden.
Wenn Gottsched die Kunst als „Nachahmung der Natur“ versteht, meint er demnach also nicht, dass sie mit dieser identisch ist, sondern lediglich, dass sie ihr „ähnlich“ sein sollte.
Regelmäßigkeit: Sofern sich die Kunst an der Natur zu orientieren hat, die aus Sicht des Rationalismus v. a. durch ihre Gesetzmäßigkeit gekennzeichnet ist, ist Literatur nach Gottsched nur dann gut bzw. schön, sofern auch sie nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten folgt. Die betreffenden Gesetzmäßigkeiten bzw. Regeln aufzuzeigen, ist das Anliegen seiner Poetologie. Prinzipiell gilt dabei, dass sich in der Kunst die Ordnung der Schöpfung widerzuspiegeln hat.
Geschmack ist vor diesem Hintergrund nichts Subjektives, sondern etwas Objektives: Was bestimmten Regeln folgt, ist vernünftig und per se schön; Unregelmäßiges dagegen ist unvernünftig und löst daher bei demjenigen, der Geschmack hat, missfallen aus. In diesem Sinn gilt: „die Regeln sind nichts anderes als Vorschriften, wie man es machen muss, wenn man gefallen will.“
Mechanistischer Schaffensprozess: Dass auch die Entstehung eines literarischen Werks nach Gottsched klaren Regeln zu folgen hat, kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern. Ausgangspunkt ist ihm zufolge immer ein „moralischer Lehrsatz“. Diesen Lehrsatz gilt es in einem zweiten Schritt in eine Fabel zu kleiden, die dazu geeignet ist, den betreffenden Satz möglichst anschaulich zu vermitteln (Der Begriff Fabel bezieht sich dabei nicht auf die gleichnamige Gattung, sondern ist im Sinne eines Handlungsverlaufs bzw. „Plots“ zu verstehen). Abschließend gilt es, die erdachte „Fabel“ ins Historische zu projizieren, um die Handlung „umso wahrscheinlicher“ erscheinen zu lassen, wie Gottsched sagt.
Wölfel spricht in diesem Zusammenhang von einer „potenzierten Einkleidung“ (Lehrsatz => Fabel => Geschichtlicher Kontext) und weist darauf hin, dass die Notwendigkeit der historischen Einkleidung von Gottsched nicht hinreichend plausibel gemacht werden kann. Anstatt sich aus seiner eigenen Theorie zu ergeben, wird sie von ihm unter dem fadenscheinigen Argument erhöhter „Wahrscheinlichkeit“ aus der barocken Tradition übernommen.
Form: Was die Form betrifft, hält sich Gottsched streng an die Aristotelische Poetik und den französischen Klassizismus: 5-Akte; gebundene Rede (Alexandriner); geschlossene Form
„Prodesse et delectare“: Die Aufgabe der Literatur ist nach Gottsched, der sich dabei auf HORAZ bezieht, eine zweifache: sie soll einerseits Nutzen bringen, andererseits unterhalten bzw. erfreuen („Prodesse er delectare“). Den Schwerpunkt legt Gottsched jedoch eindeutig auf den Nutzen: Während die moralische Erziehung des Menschen ihm zufolge der Zweck von Literatur ist, erscheint deren unterhaltsame Gestaltung lediglich als ein Mittel, diesen Zweck möglichst effektiv umzusetzen.
Heißt: Die künstlerische Einkleidung eines literarischen Werkes hat vor allem die Funktion, die Aufnahme der enthaltenen Lehre zu forcieren bzw. Zu „versüßen“. (eine Poetik des Nutzens; negativ formuliert: moral-didaktische Funktionalisierung der Poesie)
Die 3 Einheiten: Eine der wichtigsten Regeln, die Gottsched in Anlehnung an Aristoteles propagiert, betrifft die Einhaltung der 3 Einheiten. Die Einheit des Ortes und der Zeit begründet er dabei v. a. mit dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Sofern Zeitsprünge und Ortswechsel auf der Bühne dem zeitlichen und räumlichen Erleben im Zuschauerraum widersprechen, widersprechen sie zugleich der Forderung nach Wahrscheinlichkeit und sind daher zu vermeiden. So heißt es etwa zur Einheit des Ortes: „Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.“ Aus demselben Grund sind auch Monologe nach Gottsched zu vermeiden. Da sie unnatürlich wirken, sind sie nicht mit der Forderung nach Mimesis, wie Gottsched sie versteht, in Einklang zu bringen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Handlung ergibt sich für Gottsched aus der Tatsache, dass jedem Drama ein bestimmter moralischer Lehrsatz zugrunde liegt, von dem Nebenhandlungen nur ablenken würden.
Unterscheidung Komödie / Tragödie: Die Tragödie unterscheidet sich nach Gottsched vor allem in zweifacher Hinsicht von der Komödie:
Während in der Tragödie beim Zuschauer Schrecken („phobos“) und Mitleid („eleos“) ausgelöst werden sollen, geht es in der Komödie darum, Lasterhaftes zu verlachen, um sich auf diese Weise davon zu lösen.
Der zweite Unterschied betrifft die Ständeklausel. Während in der Tragödie nur „vornehme Leute“, heißt: Könige, Fürsten und andere Personen von hohem Stand zu zeigen sind, gilt für die Komödie das Umgekehrte.
Gottsched begründet diese Klausel mit dem Argument der „Fallhöhe“: Je höher die tragischen Figuren stehen, desto erschütternder und unvermeidlicher erscheint ihr Niedergang, wodurch die Wirkung des Stückes gesteigert wird.
Eng damit einher geht Gottscheds Forderung, dass die...