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Uwe Timms Roman 'Der Schlangenbaum'. Zum Umgang mit kultureller Alterität in postkolonialen Gesellschaften

AutorBjörn Hochmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl142 Seiten
ISBN9783640255979
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, 190 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Examensarbeit untersucht die Repräsentation des Eigenen und Fremden in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Roman 'Der Schlangenbaum' (1986) von UWE TIMM, in dem der Autor einen aktuellen Brennpunkt des Kulturkontakts aufgreift. Es soll an diesem Roman exemplarisch untersucht werden, welches Verhältnis das Eigene zum Fremden hat, wie mit kultureller Alterität in postkolonialen Gesellschaften umgegangen wird. Dabei sollen auch die dargstellten politischen Verhältnisse im Roman (Postkolonialismus, Nationalsozialismus in Südamerika, Militärdiktatur, Entwicklungshilfe, Eurozentrik etc.) die eng mit Autorität und Einflussnahme auf das Andere verbunden sind, in die Analyse miteinbezogen werden. Außerdem geht diese Arbeit auf das intertextuelle Verweissystem (Intertextualität) im 'Schlangenbaum' ein. Dazu gehören u. a. Romane wie 'Homo Faber' (Max Frisch) 'Morenga' (Uwe Timm), 'Herz der Finsternis' (Joseph Conrad) 'Die Buddenbrooks' (Thomas Mann) oder 'Ruyuela, Himmel und Hölle' (Julio Cortázar).

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Leseprobe

2. Zu Inhalt und Form des Romans


 

2.1 Inhaltsüberblick


 

Hauptfigur in Uwe Timms Roman Der Schlangenbaum (1986) ist der Bauingenieur Wagner. Im Auftrag eines Düsseldorfer Großkonzerns übernimmt er die Bauleitung einer Papierfabrik in einem südamerikanischen Staat. Wagner befindet sich in einer Lebenskrise. In seinem tristen Ehe- und Alltagsleben kommt ihm das Angebot seiner Firma, nach Südamerika zu gehen, sehr gelegen. Wagner lässt Frau und Kind in Hamburg zurück und flieht vor der alltäglichen Routine, vor dem Absterben seiner Wünsche in den lateinamerikanischen Dschungel. Die privat bedingte Krise seines Selbstverständnisses führt durch seine Erfahrung mit den postkolonialen Verhältnissen in Südamerika zu einer umfassenden Erschütterung seines Selbst- und Weltverständnisses.

 

Wagner versucht in Südamerika die nach seinen Maßstäben offenkundigen Missstände auf der Baustelle der Papierfabrik zu beseitigen, indem er die Arbeitsmoral der einheimischen Arbeiter und Ingenieure sowie die Qualität der Baustatik und des Betons an europäische Qualitätsstandards anzupassen bemüht ist. Wagner muss aber schnell erkennen, dass seine gewohnten Denk- und Handlungsweisen in Südamerika nicht zum gewünschten Ergebnis führen, weil er dort mit zahlreichen Problemen konfrontiert wird: Der morastige Baugrund, die wuchernde tropische Natur, die Mentalität der Menschen, die archaischen Strukturen auf der Baustelle, die politischen Verhältnisse, das interessenbedingte, nach Profit strebende Bündnis zwischen der regierenden Militärjunta und den Vertretern der ausländischen Firmen, zu den auch der kaufmännische Leiter des Projekts, Bredow, zählt, stellen Wagner vor eine kaum zu lösende Aufgabe. Die kleine herrschende Führungsschicht im Land, die aus leitenden Militärs und Ausländern besteht, lebt scharf getrennt von der übrigen Bevölkerung auf dem so genannten „grünen Hügel“ über der Stadt. Diese Führungselite ist durch das Kaschieren von Schlamperei, Unrecht und Korruption miteinander verquickt.

 

In diesem Geflecht der Gegebenheiten erlebt Wagner zunehmend die Fragwürdigkeit seiner Erwartungen und des gesamten Bauprojekts. Vertieft und erweitert werden Wagners Erlebnisse durch die Suche nach seiner Spanischlehrerin Luisa, in die er sich verliebt hat und die nach einer gemeinsamen Nacht spurlos verschwunden ist. Der Erzählkontext legt nahe, dass die politisch links gerichtete Luisa von Anhängern der Militärjunta entführt bzw. verhaftet worden ist. Wagners Suche nach ihr bleibt erfolglos. Diese Suche führt Wagner unfreiwillig ins Landesinnere, wo er kurzzeitig in Untersuchungshaft kommt und endgültig die Verkehrtheit seiner Mission und der postkolonialen Strukturen des Landes erkennt. Nach seiner Rückkehr weigert er sich in einer zugespitzten äußeren Situation, den Spielregeln des Juntaoberst, des Betonfabrikanten und Bredows, der Allianz von Bestechung, Unterdrückung und Ausbeutung, zu folgen. Auf der Grenze zwischen den realen äußeren Ereignissen und einem Fieberzustand erlebt Wagner in apokalyptischen Bildern das Zurückschlagen der ausgebeuteten Natur und der Menschen. Der offene Schluss des Romans überlässt es dem Leser, Wagners möglichen Weg zu antizipieren, anhand von Signalen im Text und im Sinne eines interkulturellen Dialogs über Lösungsansätze einer postkolonialen Welt nachzudenken.

 

2.2 Zur Form des Romans


 

Der Formanalyse des Schlangenbaums sollen ein paar generelle Sätze zum Typ des Romans vorweggeschickt werden, da Uwe Timm mit diesem Roman auf einen bestimmten Typ Literatur rekurriert: Spätestens seit der Epoche der Aufklärung entwickelte sich in Europa eine neue Art von Literatur: Die Reiseliteratur. Diese Literaturform gehörte seitdem „zu den wesentlichen Medien aufgeklärter Welterfahrung.“[18] Sie hatte vielfältige Funktionen, wie u. a. geographische oder (mehr oder minder) naturwissenschaftliche Beschreibungen fremder Erdteile und Völker. Nach der Französischen Revolution und auch im Vormärz begann die Politisierung des Reisens. Es kam zu

 

Reisebildern, die den politischen Zustand in anderen Ländern dem eigenen Lande wie einen Spiegel vorhielten […]. Bis in 20. Jahrhundert hinein ist das Reisefeuilleton weiter differenziert worden. In den zwanziger Jahren setzte sich die Reportage durch, die vor allem auch politische Verhältnisse darstellen konnte und wollte.[19]

 

Uwe Timm benutzt die Form der Reiseliteratur aber nur noch als Schablone.[20] Die Hauptfigur Wagner nimmt die Fremde zunächst als „verstörtes literarisches Ich“[21] wahr (vgl. 5.2), was den Topos der Reiseliteratur, nämlich das Entdecken, in seinem Kern hinterfragt (vgl. 9).

 

Der Roman Der Schlangenbaum bietet bei genauerem Hinschauen eine ganze Palette von Untersuchungsgegenständen zum Thema Erzähltechnik oder Erzähltheorie. Deswegen sollen an dieser Stelle nur die auffälligsten und wichtigsten Merkmale des Textes untersucht werden, zu denen die Erzählsituation, die Zeitstruktur der Erzählung, die Figurenrede, deren graphische Kennzeichnung im Text, die Sprache sowie der Stil gehören. Damit verbunden soll auch ein Einblick in Uwe Timms  Auffassung der Ästhetik des Erzählens gewährt werden, um ein tieferes Verständnis des Erzählten zu ermöglichen.

 

2.2.1 Die Erzählsituation


 

Die im Roman dargestellten Ereignisse werden von einem personalen Er-Erzähler berichtet, der (meist) die Position der Hauptfigur Wagners einnimmt und das Geschehen nicht kommentiert. Durch diese Erzählsituation entsteht – wie bei jedem personalem Erzählen – der Eindruck der Unmittelbarkeit, weil die Romanfigur denkt, fühlt und handelt, aber nicht, wie ein allwissender Erzähler zum Leser spricht.[22] Der Erzähler ist eine Art Reflektor, weil die Ereignisse aus der Sicht dieser Figur geschildert und reflektiert werden und die umfassende Sicht eines Erzählers nicht mehr vorhanden ist.[23] Sachverhalte,  die der Erzähler nicht wissen kann, die für ihn unwichtig sind, werden im Text nicht wiedergegeben. Szenen werden so geschildert, wie sie die Figur wahrnimmt. Dies ist besonders wichtig, wenn unter 5.2 die Sichtweise und Einstellung Wagners zum Fremden untersucht wird.

 

2.2.2 Zeitstruktur und Figurenrede


 

Das Romangeschehen umfasst eine Zeitspanne von sechzehn Tagen, die auf 309 Seiten, der hier zu Grunde liegenden Taschenbuchausgabe (dtv-Ausgabe, 2005), erzählt werden. Damit ergibt sich ein Erzähltempo (Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit) von etwa  1 Stunde und 15 Minuten pro Seite. Solche Rechnungen sind natürlich nur bedingt aussagefähig, weil Erzählungen mit einer Autofahrt einen starken Tempowechsel gemein haben.[24] Trotzdem lässt sich dadurch ein erster Eindruck des Erzähltempos vermitteln: Es liegt ein zeitraffendes Erzählen mit einem relativ hohen Erzähltempo vor, das durch eine Fülle dargestellter Ereignisse unterstrichen wird.[25] Der Roman wird eigentlich synthetisch erzählt, d. h. sukzessiv chronologisch. Allerdings erfolgen immer wieder Rückblenden auf Wagners Leben in Deutschland. Diese so genannten Analepsen, die sowohl eingeschoben als auch auflösend[26] auftreten können, sind für das letztendliche Verständnis der Vorgänge sehr entscheidend und sie entsprechen ganz und gar Timms Ästhetik des Erzählens: Timm sagt, dass Erzählungen für den Leser[27] erst dann interessant werden,

 

wenn bestimmte Dinge hervorgehoben werden, das heißt auch sprachlich besonders und neu gekennzeichnet werden, wenn der Zeitlauf nicht dem realen Vorkommnis entsprechend linear nacherzählt wird, sondern Umkehrungen stattfinden, wodurch wiederum neu und anders interpretiert wird. Das Erzählen löst die Chronologie auf, die im alltäglichen Geschehen unumstößlich ist. Sie löst sie auf, um die vergangene Zeit zu einer neuen erzählten Zeit wieder zusammenzubauen. Dieser zeitliche Umbau setzt ganz wesentliche interpretierende Akzente. So werden die alltäglichen Dinge und Ereignisse aus ihrem Zu-Fall durch das Erzählen herausgehoben und neu gedeutet.[28]

 

So werden z. B. auch die zuvor im Text entstandenen Leerstellen (z. B. das eigentliche Verhältnis zwischen Wagner und Renate) durch solche Rückgriffe gefüllt. Andere Leerstellen hingegen (z. B. das Verschwinden Luisas) werden nicht aufgelöst, so dass ein starker Rezeptionsimpuls entsteht. An diesen Nullpositionen ist der aktive Leser gefordert, die Leerstellen zu füllen. Leerstellen sind also keineswegs ein Manko im literarischen Text. Erst durch sie wird dem Leser „ein Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens“[29] gewährt. Neben solchen Rückblenden kommen auch Vorausdeutungen (Prolepsen) im Geschehen vor, wie z. B. die Prophezeiung des Ertrinkens (vgl. 5.2, 6.2), die ähnlich wie die Leerstellen spannungserzeugende Momente hervorrufen.

 

Wenn man sich die Figurenrede[30] im Schlangenbaum näher ansieht, fällt dem Leser sofort die fast vollkommen fehlende typografische Kennzeichnung auf. Es fehlen sowohl Anführungszeichen als auch Kursivschrift o. ä., wie folgendes Beispiel zeigt:

 

Frau Klein kam und brachte Whisky.

 

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