Anstatt einer Einleitung – Lernen und Veränderung in Unternehmen
Was wären wir ohne Lernen? Wir sind geprägt von Ideen, Konzepten und Grundannahmen über die Welt und haben diese auf verschiedenste Weise gelernt – in Familie, Kindergarten und Schule, von Freunden und an der Universität, in Unternehmen und Gesellschaft. Peter M. Senge spricht hier von mentalen Modellen. Manche Modelle sind uns bewusst, die meisten sind es nicht oder nicht mehr. Auf jeden Fall beeinflussen sie aber unser Denken, Fühlen und Handeln entscheidend.
Das gilt auch für die Vorstellungen, die wir etwa von Strategie, Management oder Erfolg, von Organisationen oder Lernen, Change und Transformation in Unternehmen haben. Wer aber in Unternehmen arbeitet, entscheidet und Verantwortung trägt, für den lohnt es sich, immer einmal wieder zu hinterfragen, welche gedanklichen Konzepte sein Handeln leiten. So praktisch automatisierte Denk- und Handlungsmuster oft sein mögen: Manager und Mitarbeiter sollten ihnen nicht allzu lange unreflektiert ausgeliefert sein – um sie gegebenenfalls rechtzeitig ändern zu können. Denn schneller Wandel stellt bislang Bewährtes heute noch schneller infrage als früher. Das gilt in besonderer Weise für Unternehmen.
Immer schon, mehr noch aber in Zeiten großer Veränderungen, wie wir sie seit den Neunzigerjahren durch rasant fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung erlebt haben, wird nach neuen, prägenden Managementkonzepten gerufen. Die Erwartungen an sie sind meist immens: Sie sollen den Unternehmen, ihren Managern und Mitarbeitern einfache Rezepte an die Hand geben, um den Wandel zu managen und nachhaltig Wettbewerbsvorteile zu sichern. Der Ruf nach einfachen Lösungen erklingt dabei umso lauter, je komplizierter und komplexer die Welt erscheint – und in der Tat erleben wir diese, wer will es bezweifeln, derzeit als immer komplexer werdend und schwieriger zu gestalten.
Manchmal werden diese einfach scheinenden Konzepte zu veritablen Moden. Alle wollen sie dann plötzlich verstehen und nutzen. Berater, Trainer und Weiterbildungsanbieter verdienen an ihnen – bis irgendwann Katerstimmung aufkommt: bei Managern auf allen Ebenen und bei Mitarbeitern, die in Schulungen und Trainings auf das Neue eingestimmt werden sollen. Große Hoffnungen und große Konzeptverheißungen ziehen also – auch in der Welt der Unternehmen – nicht selten große Enttäuschungen nach sich.
Lernen als entscheidender Wettbewerbsvorteil
Manchmal aber wirken neue Managementkonzepte breit, lang und – vermeintlich – vor allem positiv. Doch selbst dann lohnt es sich genau hinzuschauen, ob sie wirklich einlösen, was sie einst versprachen. Häufig nämlich scheint es nur so. Manchmal haben sie sich überlebt, ohne dass es so richtig bewusst ist. Manchmal sind sie zu einer Sammlung von mythisch daherkommenden Schlagworten und Glaubenssätzen verkommen, die wir wie selbstverständlich hinnehmen, die aber bei näherer Betrachtung im Widerspruch zu betrieblichen Realitäten stehen.
So zum Beispiel das Konzept und die Begriffswelt von Peter M. Senge, der 1990 mit seinem Buch Die fünfte Disziplin ein neues Denkmodell prägte, das seither Entscheidungsträger in Unternehmen und auch Wissenschaftler nicht mehr loslässt: das der »lernenden Organisation«. Senge versteht sie – damals neu – als ein lernendes System, das seine Fähigkeit, die eigene Zukunft zu gestalten, laufend verbessert. Er versteht sie als einen Ort, »an dem die Menschen kontinuierlich entdecken, dass sie ihre Realität selbst erschaffen. Und dass sie sie verändern können«. Alle Manager und Mitarbeiter sollten dafür, so fordert er, in die Lage versetzt werden, eigene Fähigkeiten, eigene Kompetenzen und eigenes Wissen zum Nutzen des Gesamtunternehmens permanent weiterzuentwickeln. Individuelles lebenslanges Lernen, das Erkennen und Infragestellen von Denkmodellen, die Entwicklung verbindender gemeinsamer Visionen und das Teamlernen stehen dabei als vier Disziplinen neben der sie verbindenden fünften Disziplin: dem Systemdenken, verstanden als »Rahmen zum Aufspüren wechselseitiger Beziehungen anstelle linearer Kausalketten und zum Erkennen von Prozessen des Wandels anstelle statischer Schnappschüsse«.
Was sich heute für manchen vertraut, sympathisch oder zumindest theoretisch plausibel anhört, war vor mehr als zwanzig Jahren in der von Senge unprätentiös und gründlich vorgetragenen Weise neu. Doch das gilt für viele erstmals verkündete Managementkonzepte. Kaum ein Vordenker der jüngeren Zeit aber war so nachhaltig einflussreich wie Senge. Sein besonderer Verdienst: Er rückte die Idee des Lernens in das Blickfeld, ja in das Zentrum der theoretischen Managementforschung und des betrieblichen Alltags. »Schneller und besser zu lernen als die Konkurrenz ist der ultimative Wettbewerbsvorteil der neunziger Jahre – das ist die Botschaft von Peter Senges Buch«, schrieb Praxisvordenker Thomas Sattelberger, viele Jahre Personalvorstand in mehreren Dax-Unternehmen, in einer Lobpreisung vor gut fünfzehn Jahren.
Auch Lern- und Change-Prozesse verändern sich
Er hatte recht. Mehr noch als damals gilt diese Aussage angepasst auch heute. Unternehmen, denen es nicht gelingt zu ermöglichen, dass ihre Mitarbeiter schneller und besser lernen als jene in Konkurrenzunternehmen, haben mittel- bis langfristig keine Chance, auf dem Markt erfolgreich zu bleiben. Der Unterschied zu den Neunzigerjahren und auch zum ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ist lediglich, dass heute noch schneller und noch besser gelernt werden muss. Und es liegt auf der Hand, dass von der Idee des lernenden Unternehmens die Ideen des betrieblichen Wandels und der Transformation nicht zu trennen sind. Alles ist im Fluss – aber wie kann man den Fluss des Unternehmens und des Marktes verstehen? Wie seine Richtung beeinflussen? Wie unnötige Überschwemmungen verhindern und nützliche – etwa zur Landgewinnung – zulassen? Wie gegebenenfalls den Fluss vergrößern, wo begradigen und wo renaturieren?
Wachsende Komplexität und Handlungsdruck angesichts rasanten Wandels bedeuten nicht die Aufforderung, in Panik zu verfallen – auch wenn es manchmal so scheint, dass Aktionismus und immer neue Initiativen Unternehmensentwicklungen kaum zum Besten beeinflussen. Komplexität und Handlungsdruck sensibilisieren vielmehr dafür, wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Vor allem bedeuten sie den Aufruf zu verstehen, welche Herausforderungen Unternehmen heute grundsätzlich bewältigen müssen und wie sie gestaltet werden können.
Dies ist ein Buch über das Lernen und den damit verknüpften erfolgreich gestalteten Wandel in Organisationen. In meiner Zeit bei Accenture habe ich mich ausgiebig mit den Themen Lernen, Bildung und Wandel in Unternehmen befasst. Ich habe Manager und Mitarbeiter in vielen renommierten Unternehmen bei komplexen und anhaltenden Lern- und Change-Prozessen begleiten dürfen – und meine Teams und ich waren dabei geprägt von der Sengeschen Idee der lernenden Organisation, die wir mit neueren Forschungserkenntnissen aus verschiedensten Fachdisziplinen laufend anreicherten und zusammen mit unseren Kunden anpassten und weiterentwickelten. Dabei waren auch in den begleiteten Unternehmen die Konzepte, Gedanken und Rhetorik Peter Senges in verschiedensten Formen mehr oder weniger bekannt oder unbewusst präsent, insbesondere bei Personal- und Change-Managern.
In vielen Lern- und Change-Projekten waren wir erfolgreich – in anderen waren wir es etwas weniger. Doch da fängt es schon an: Wann ist ein Projekt, in dem es um Lernen und die Befähigung zu Wandel und erfolgreichem Handeln geht, überhaupt erfolgreich? Wenn auf den »Happy Sheets« am Ende steht: »Die Trainer waren exzellent«, »Die Erwartungen wurden übertroffen«, »Ich fühle mich gut«?
Und worum geht es bei solchen Fragen? Um Qualitätsbeurteilungen am Ende eines Seminars oder Projekts? Um Stimmungen? Um die Möglichkeit, jene, die ein Lern- oder Change-Projekt aufgesetzt und begleitet haben, »nach oben« zu rechtfertigen und abzusichern?
Wie kann oder wie sollte man den Erfolg von Lern- und Change-Projekten am besten erfassen und einordnen? Was sollte gelernt werden? Wie sollte das genau organisiert sein, welche Methoden sollten verwendet werden? Und dahinterstehend: Welche gedanklichen Konzepte sollten die Lern- und Change-Prozesse grundieren und begleiten?
Das alles sind Leitfragen für dieses Buch. Es ist einerseits aus meiner praktischen Erfahrung als Lern- und Change-Experte gewachsen. Andererseits reflektiert es diese Erfahrung auch selbstkritisch und blickt darüber hinaus, möchte Wegweiser sein für ein neues Verständnis von Lernen und gestaltetem Wandel in Unternehmen.
Gerade meine erste berufliche Tätigkeit als Erzieher im Kinderheim und auch meine persönliche Entwicklung über den zweiten Bildungsweg haben mir früh verdeutlicht, wie wichtig richtiges Lernen und sinnvolle Veränderung für die Chancen eines Menschen sind. Und das Gleiche gilt für Organisationen. Das bedeutet nicht, dass Lernen und Wandel – als Einzelner, als Team oder als Unternehmen – immer nur pure Freude bereiten. Im Prozess des Lernens und Veränderns tut manches auch weh, führt an Grenzen, derer wir uns nicht bewusst waren, und manchmal sogar darüber hinaus. So freudvoll sinnvoll organisierte Lernprozesse sein können – ohne Mühe geht es häufig nicht.
Vertrautes hinterfragen und neu denken
Das gilt gerade dann, wenn wir uns der Aufgabe widmen, zu hinterfragen, welche Denkmodelle uns in unserem...