1.
Lucien Febvre und die Emotionsgeschichte
Am Anfang der Emotionsgeschichte stand ein einziger Mann: Lucien Febvre (1878–1956). So haben es zumindest die meisten Historisierungsversuche der Emotionsgeschichte gesehen.1 Febvre begründete zusammen mit Marc Bloch 1929 die Fachzeitschrift Annales d’histoire économique et sociale, um die sich eine der wichtigsten Schulen der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts entwickelte. Die Annales-Historiker holten die Geschichte aus der Sphäre der hohen Politik, der Könige und Diplomatie, hinunter in die Welt der kleinen Leute, der Bauern und Handwerker; sie erdeten die Geschichte also, indem sie Umwelt, Demographie, Wirtschaft, Gesellschaft und mentale Einstellungen in den Blick nahmen. Kein Wunder, dass es ein Annaliste war, der sich als einer der Ersten den Gefühlen zuwandte.
Febvre, der sich mit Studien über Martin Luther und über die Geschichte des Rheins einen Namen gemacht hatte, nahm im Juni 1938 an einer von Henri Berr organisierten Tagung zum Thema »Sensibilität in Mensch und Natur« teil. Sein Manuskript veröffentlichte er 1941 unter dem Titel Sensibilität und Geschichte: Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen als Aufsatz in den Annales. 2 Darin appellierte er an seine Fachkollegen, Emotionen ins Zentrum historischer Forschung zu stellen und die Scheu gegenüber der Psychologie bei der Untersuchung vergangener Gefühle zu überwinden. Wie sollte das aussehen? »Ich sprach vom Tod«, schrieb Febvre.
»Nehmen wir doch den 9. Band von Henri Brémonds Literaturgeschichte des religiösen Gefühls in Frankreich zur Hand [...] und öffnen wir diese beim Kapitel L’Art de Mourir. Nicht einmal dreihundert Jahre sind vergangen; aber welch ein Abgrund zwischen den Sitten und Gefühlen der Menschen jener Zeit und den unsrigen.«3
Dieses Abgrunds zwischen dem Damals und dem Heute gewahr zu werden und dann eine Sprache für seine Vermessung zu finden war für Febvre Ausgangspunkt aller Emotionsgeschichte.
Febvres Aufsatz ist zunächst einmal ein Plädoyer für die Untersuchung von Emotionen – kritischen Einwürfen zum Trotz. Denn allen, die der Emotionsgeschichte ihre Existenzberechtigung absprachen, hielt Febvre entgegen, sie schrieben ihre Geschichte ohnehin unter Einbeziehung von Emotionen, nur täten sie dies unbewusst und anachronistisch, indem sie die Emotionsvorstellungen ihrer eigenen Zeit vergangenen Zeiten überstülpten, ohne nach einem möglichen Wandel in der Konzeption eines Gefühls zu fragen.4 Mit beißendem Spott nahm Febvre die psychologisierende Populargeschichtsschreibung seiner Zeit aufs Korn:
»Wenn wir Psychologie sagen, hören wir Bouvard und Pécuchet, wie sie im Vollbesitz all der Erfahrungen, die sie aus dem Umgang mit den Putzmacherinnen und Krämerinnen ihres Viertels geschöpft haben, die Gefühle von Agnes Sorel für Karl VII. oder von Ludwig XIV. für die Montespan so zurechtbiegen, dass ihre Verwandten und Freunde beim Lesen ausrufen: ›Genauso war es!‹«5
Febvre fragte: »Wenn der Historiker uns sagt: ›Napoleon hatte einen Wutanfall‹, oder aber: ›Er erlebte einen Moment großer Freude‹ – ist seine Aufgabe damit nicht beendet?«6 Das ist sie natürlich nicht, denn damit ist noch lange nicht gesagt, was »Wut« in Napoleons Zeit bedeutete und wie ein öffentlicher Wutausbruch aussah.
Im Einzelnen forderte Febvre die Analyse von schriftlichen und bildlichen Gefühlsdarstellungen im zeitlichen Längsschnitt. Hierzu gehörte, was wir heute eine »Begriffsgeschichte« der Emotionen nennen würden, also die Beschreibung der Bedeutungsverschiebungen von Emotionsbegriffen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg.7 Febvre war der Erste, der die Konturen jener Forschungsfelder umriss, deren Bearbeitung einen großen Anteil zukünftiger Emotionsgeschichte ausmachen wird. Hochaktuell ist auch, dass Febvre die Schwierigkeit thematisierte, Gefühle voneinander abzugrenzen, und dass er die Ambivalenz und Vielschichtigkeit von Gefühlen betonte. Denn in seinen Augen treten oft mehrere Emotionen gleichzeitig auf, ja manchmal sogar diametral entgegengesetzte Gefühle in einem Individuum.8
Bei alledem stand für Febvre viel auf dem Spiel. »Wir haben keine Geschichte der Liebe, keine Geschichte des Todes.« Dies sei fatal, denn »solange sie uns fehlen, wird es Geschichte im emphatischen Sinn nicht geben«9. Doch woher kam diese Dringlichkeit, und warum war eine Geschichte der Emotionen in Febvres Augen so fundamental wichtig?
Gewiss: Grundsätzlich, langfristig und unterschwellig wurde Febvre von den Werken französischer Ethnologen und Psychologen der 1920er und 1930er Jahre beeinflusst; darunter La mentalité primitive (1922) von Lucien Lévy-Bruhl, Introduction à la psychologie collective (1928) von Charles Blondel und ein Artikel über Emotionen von Henri Wallon in der von Febvre herausgegebenen Encyclopédie française (1938).10 Doch spricht viel dafür, dass es in erster Linie die Ausbreitung des Faschismus in Europa war, die Febvre zu seinem Vortrag und dem Aufsatz veranlasste.11 Denn erstens ist sein Emotionskonzept ein zutiefst intersubjektives, in welchem die Emotionen der einen die Emotionen der anderen hervorrufen und sich beide gegenseitig bedingen, oder, wie es bei Febvre heißt, »Emotionen sind ansteckend«12. Die Überlegungen des damals immer noch einflussreichen Theoretikers der Menschenmenge, Gustave Le Bon, schwingen hier sicher mit, und doch lassen sich hinter solchen Zitaten unschwer die verzückten Gesichter der Massen bei den Reichsparteitagen jenseits des Rheins ausmachen.13 Zweitens sah Febvre das historische Großnarrativ eines Linearprozesses des »mehr oder weniger langsamen Zurückdrängens der emotionalen durch die intellektuellen Tätigkeiten« durch »die jüngste Geschichte« und ihre »wieder durchgebrochenen primitiven Gefühle« erschüttert. 14 Zu diesem Rückfall von der ratio in die emotio gehörte die bestürzende Erfahrung, dass »die Emotionalität in jedem von uns lebt, stets bereit, die Intellektualität zu überfluten und in der evolutiven Entwicklung, auf die wir so stolz waren, der vom Gefühl zum Denken, von der emotionalen zur artikulierten Rede, eine plötzliche Umkehr herbeizuführen«15. Drittens sind die Gefühle, die Febvre zu untersuchen vorschlug, vornehmlich negative: »die Geschichte des Hasses, die Geschichte der Angst, die Geschichte der Grausamkeit«. Sorgenvoll fragte Febvre: »Werden sie die Welt morgen in ein stinkendes Leichenhaus verwandeln?« 16 Die Bedrohung durch den europäischen Faschismus und das emotionale Verführungspotential des Nationalsozialismus waren also ein Auslöser für Febvres Ansatz.17 So gesehen standen am Anfang der Emotionsgeschichte nicht ein, sondern mindestens drei Männer: Lucien Febvre, Benito Mussolini und Adolf Hitler.
2.
Emotionsgeschichte vor Febvre
Aber waren Febvre, Mussolini und Hitler wirklich am Anfang? Heroische Männerursprungserzählungen oder die Suche nach einer Stunde null – sie überzeugen heute nur noch wenige. So wie wir am Schluss dieses Buches an den vorerst letzten Enden der Emotionsgeschichte dröseln werden, so wollen wir uns jetzt den vorerst ersten Anfängen zuwenden.18 »Vorerst ersten«, weil eine systematische Durchforstung der Historiographie, insbesondere vor dem 20. Jahrhundert, nach Emotionen noch aussteht. Daher muss die folgende Beschreibung zwangsläufig punktuell bleiben; muss sich das Nachzeichnen von Emotionen in historischen Studien vor Febvre auf einige wenige Stationen beschränken.
Werfen wir zunächst einen Blick auf eine frühe Station. Für den Historiker Thukydides (454 – ca. 399 v. Chr.) waren Emotionen eine, wenn nicht die Antriebskraft des Handelns von Menschen in der Vergangenheit. Zorn, Furcht und eine Reihe anderer starker Gefühle ließen die Athener und Spartaner das tun, was sie einander zwischen 431 und 404 v. Chr. im Peloponnesischen Krieg antaten. So fassten die Spartaner »den Beschluss, dass der Friede gebrochen, und Krieg anzufangen sei, [...] aus Furcht vor den Athenern, diese möchten ihre Macht zu sehr vergrößern«, und die Korinther handelten »aus Hass gegen die Kerkyrer«.19 Für den Althistoriker Ramsay MacMullen (*1928), von dem ein Panorama antiker Emotionsgeschichte stammt, sind es bei Thukydides die Gefühle, die »Leute dazu [bringen] aus ihrer Routine auszubrechen, den Status quo zu zerstören. Gefühle sind aber nicht irrational.«20 Sie fungieren als Grundlage »vernünftigen Verhaltens – ›vernünftig‹ in dem Sinne, dass [Thukydides] und seine Leser, oder die Menschen überhaupt, es leicht verstehen können«21.
Für andere antike Historiker, die nach Thukydides kamen, waren laut MacMullen Gefühle lediglich ein rhetorisches Stilmittel, um die Leser zu fesseln oder zu überzeugen. Erst bei Polybios (ca. 200 – ca. 120 v. Chr.) waren Emotionen wieder ein Movens für menschliches Entscheidungshandeln. Dabei war die Gefühlswelt der Könige besonders folgenreich – »persönliche Gefühle werden bei Königen zu Geschichte« –, gleichzeitig hielt Polybios sie aber für schwer zugänglich und fragte sich immer wieder, wie etwa eine Monarchie in die Tyrannei abgleiten konnte.22 Bei Kollektivakteuren wie dem römischen Senat oder den Karthagern seien Emotionen wie Hoffnung,...