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Theorie der Unbildung

Die Irrtümer der Wissensgesellschaft

AutorKonrad Paul Liessmann
VerlagPaul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783552056251
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Was weiß die Wissensgesellschaft? Wer wird Millionär? Wirklich derjenige, der am meisten weiß? Wissen und Bildung sind, so heißt es, die wichtigsten Ressourcen des rohstoffarmen Europa. Debatten um mangelnde Qualität von Schulen und Studienbedingungen - Stichwort Pisa! - haben dennoch heute die Titelseiten erobert. In seinem hochaktuellen Buch entlarvt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann vieles, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert wird, als rhetorische Geste: Weniger um die Idee von Bildung gehe es dabei, als um handfeste politische und ökonomische Interessen. Eine fesselnde Streitschrift wider den Ungeist der Zeit.

Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien; Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, 2010 den Donauland-Sachbuchpreis und 2016 den Paul Watzlawick-Ehrenring. Im Zsolnay Verlag gibt er die Reihe Philosophicum Lech heraus. Seine Theorie der Unbildung (2006) war ein großer Erfolg und wurde in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen bei Zsolnay seine Bücher Das Universum der Dinge (2010), Lob der Grenze (2012) und Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (2014) sowie im Carl Hanser Verlag gemeinsam mit Michael Köhlmeier Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen (2016). Sein aktueller Essay-Band heißt Bildung als Provokation (2017).

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Leseprobe

2.
Was weiß die Wissensgesellschaft?


DER mittlerweile ubiquitär gewordene Gebrauch des Terminus »Wissensgesellschaft« zur Charakterisierung der Gegenwart könnte Anlaß zu Stolz und Freude sein. Eine Gesellschaft, die sich selbst durch das »Wissen« definiert, könnte als eine Sozietät gedacht werden, in der Vernunft und Einsicht, Abwägen und Vorsicht, langfristiges Denken und kluge Überlegung, wissenschaftliche Neugier und kritische Selbstreflexion, das Sammeln von Argumenten und Überprüfen von Hypothesen endlich die Oberhand über Irrationalität und Ideologie, Aberglaube und Einbildung, Gier und Geistlosigkeit gewonnen haben. Jeder Blick auf die rezente Gesellschaft aber zeigt, daß das Wissen dieser Gesellschaft nichts mit dem zu tun hat, was in der europäischen Tradition seit der Antike mit den Tugenden der Einsicht, lebenspraktischen Klugheit, letztlich mit Weisheit assoziiert wurde.

Die Wissensgesellschaft ist keine besonders kluge Gesellschaft. Die Irrtümer und Fehler, die in ihr gemacht werden, die Kurzsichtigkeit und Aggressivität, die in ihr herrschen, sind nicht geringer als in anderen Gesellschaften, und ob wenigstens der allgemeine Bildungsstand höher ist, erscheint durchaus fraglich. Das Ziel der Wissensgesellschaft ist nicht Weisheit, auch nicht Selbsterkenntnis im Sinne des griechischen Gnóthi seauton, nicht einmal die geistige Durchdringung der Welt, um sie und ihre Gesetze besser zu verstehen. Es gehört zu den Paradoxa der Wissensgesellschaft, daß sie das Ziel jedes Erkennens, die Wahrheit oder zumindest eine verbindliche Einsicht, nicht erreichen darf. In ihr, in dieser Gesellschaft lernt niemand mehr, um etwas zu wissen, sondern um des Lernens selbst willen. Denn alles Wissen, so das Credo ausgerechnet der Wissensgesellschaft, veraltet rasch und verliert seinen Wert.

Die Bewegung des Wissenserwerbs ersetzt, wie Günther Anders übrigens schon in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts diagnostizierte, das Ziel: Auf »lifelong learning« kommt es an, »nicht auf Wissen oder gar Weisheit«.10 Wenn es der Wissensgesellschaft aber weder um Weisheit noch um Erkenntnis, noch um Verstehen als zentrale Indikatoren für das, was diese Gesellschaft zusammenhält, geht, worum geht es ihr – neben den Simulationen permanenter Lernbereitschaft – dann?

Wissen, so eine gängige Definition, ist eine mit Bedeutung versehene Information. Relativ sorglos wird deshalb auch in der politischen Rhetorik der Begriff der Wissensgesellschaft dem der Informationsgesellschaft gleichgesetzt. In der Regel wird letzterer noch stärker betont, weil Informationen noch unmittelbarer mit jenen digitalen Medien verschwistert scheinen, welche die neue Wissensgesellschaft auf Trab halten. Gegen die beliebte These, daß wir in einer Informations- und damit schon Wissensgesellschaft leben, läßt sich allerdings mit guten Gründen die These halten, daß wir in einer »Desinformationsgesellschaft« leben.

Das Bekannte, formulierte Hegel einmal, ist »darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt«.11 Informationen haben mit Wissen und Erkenntnis noch nichts zu tun. Unter den zahlreichen Definitionen für Information ist vielleicht die des amerikanischen Systemtheoretikers Gregory Bateson noch immer am erhellendsten: Information ist »irgendein Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied macht«12.

Vor der Folie dieser Begriffsbestimmung wird sofort klar, warum der Terminus Desinformationsgesellschaft zur Beschreibung unserer Gesellschaft wesentlich besser geeignet ist als der Begriff Informationsgesellschaft: Denn die Zunahme der Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die reine Fülle der als Information getarnten Eindrücke, Töne, Zahlen, Bilder, die auf einen durchschnittlichen Stadtbewohner heute einströmen, tendieren dazu, Unterschiede erst einmal verschwimmen zu lassen, und wenn sie doch sichtbar werden, machen sie keinen Unterschied in Hinblick auf ein späteres Ereignis, weil sie aus Kapazitätsgründen nur peripher wahrgenommen werden können und in der Regel auch sofort wieder vergessen werden müssen.

Überprüft man die zahllosen sogenannten Informationen, die ein moderner Mensch im Laufe eines Tages – auch unter dem offiziellen Titel »Nachrichten« – konsumiert, daraufhin, inwiefern danach eine Handlung gesetzt wird, die ohne die Nachricht unterblieben wäre, dann wird schlagartig klar, daß die meisten der sogenannten Nachrichten keine Nachrichten sind und daß Nachrichten, die einen Unterschied machen, also tatsächlich etwas mitzuteilen haben, selten sind und aus der Datenflut in der Regel erst mühsam herausgefiltert werden müssen. Was die allabendlichen Fernsehnachrichten betrifft, gibt es übrigens nur einen Block, der tatsächlich eine Information übermittelt, die für die nahe Zukunft eines fast jeden Zusehers einen Unterschied macht und der deshalb tatsächlich eine Bedeutung hat: der Wetterbericht. Alles andere, so ernst es sein mag, ist in der Regel Unterhaltung.

Wissen ist mehr als Information. Wissen erlaubt es nicht nur, aus einer Fülle von Daten jene herauszufiltern, die Informationswert haben, Wissen ist überhaupt eine Form der Durchdringung der Welt: erkennen, verstehen, begreifen. Im Gegensatz zur Information, deren Bedeutung in einer handlungsrelevanten Perspektive liegt, ist Wissen allerdings nicht eindeutig zweckorientiert. Wissen läßt sich viel, und ob dieses Wissen unnütz ist, entscheidet sich nie im Moment der Herstellung oder Aufnahme dieses Wissens. Im Gegensatz zur Information, die eine Interpretation von Daten in Hinblick auf Handlungsperspektiven darstellt, ließe sich Wissen als eine Interpretation von Daten in Hinblick auf ihren kausalen Zusammenhang und ihre innere Konsistenz beschreiben.

Man könnte es auch altmodisch formulieren: Wissen existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann. Wissen referiert auf Erkenntnis, die Frage nach der Wahrheit ist die Grundvoraussetzung für das Wissen. Seit der Antike wird so die Frage nach dem Wissen von der Frage nach der Nützlichkeit von Informationen aus systematischen Gründen zurecht getrennt. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens, sondern der Situation, in die man gerät. Es gab Zeiten – so lange sind sie noch nicht vorbei –, da galt Orientalistik als ein Orchideenfach, auf das so mancher Bildungsplaner glaubte verzichten zu können. Nach dem 11. September 2001 war alles anders, und Grundkenntnisse des Arabischen und der Geschichte des Vorderen Orient avancierten zu einer höchst begehrten Kompetenz.

Angesichts dessen allerdings, was gewußt werden könnte, weil es irgendwo gewußt wird, muß jeder Anspruch auf Wissen zur Verzweiflung führen. Schwanitz’ suggestiver Untertitel, Alles, was man wissen muß, versprach Trost in einer Situation, in der sich jeder durch die Datenfluten und Informationsangebote überfordert fühlen muß. Die Enthierarchisierung des Wissens und seine Darstellung als beliebig variierbares und erweiterbares Netz läßt keine Gestalt des Wissens mehr plausibel erscheinen. Angesichts der Unendlichkeit eines jederzeit zugänglichen potentiellen Wissens sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, faktisch Unwissende. Zwar war es noch nie so leicht, sich über eine Frage, ein Fachgebiet oder ein Phänomen einigermaßen umfassend zu informieren. Fast jede wissenschaftliche Disziplin ist mittlerweile durch öffentlichkeitswirksame Magazine und Zeitschriften vertreten, und über das Internet kann man sich von einfachen lexikalischen Zugängen bis zu komplexen Darstellungen alles herunterladen. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die quantitativen Möglichkeiten zu wissen, sich zu dem, was tatsächlich gewußt wird, nahezu verkehrt proportional verhalten. Möglich, daß gerade diese Leichtigkeit des Zugangs die Bildung von Wissen sabotiert. Ohne Durcharbeitung und verstehende Aneignung bleiben die meisten Informationen schlechterdings äußerlich. Nicht nur Studenten verwechseln zunehmend das mechanische Kopieren einer Seminararbeit aus dem Internet mit dem selbständigen Schreiben einer solchen Arbeit.

Angesichts der unendlichen Datenströme der Informationsmedien trösten wir uns gerne mit dem Satz, daß es nicht darauf ankomme, etwas zu wissen, sondern darauf, zu wissen, wo wir das Wissen finden. Wissen in der Wissensgesellschaft ist ausgelagertes Wissen. Aber: Wissen läßt sich nicht auslagern. Weder in den traditionellen Archiven und Bibliotheken noch in den modernen Datenbanken lagert Wissen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung besitzen auch Organisationen kein Wissen. Sie können höchstens Bedingungen bereitstellen, durch die das Wissen ihrer Akteure in eine Beziehung zueinander gebracht und weitergegeben werden kann. In keiner Datenbank, in keinem Medium, das unstrukturiert Daten akkumuliert, finden wir deshalb Wissen. Wissen bedeutet immer, eine Antwort auf die Frage geben zu können, was und warum etwas ist. Wissen kann deshalb nicht konsumiert werden, Bildungsstätten können keine Dienstleistungsunternehmen sein, und die Aneignung von Wissen kann nicht spielerisch erfolgen, weil es ohne die Mühe des Denkens schlicht und einfach nicht geht. Aus diesem Grund kann Wissen auch nicht gemanagt werden. Das Wissen selbst ist, solange es keine anderen sozialen und intelligiblen Akteure auf dieser Welt als Menschen gibt, bei diesen. Allem Wissen ist so der Makel der Subjektivität eingeschrieben, es ist stets lückenhaft, inkonsistent und in hohem Maße von Kontingenz geprägt.

Allerdings ist das Wissen des einzelnen nicht mit dem gleichzusetzen, was er im Kopf hat. Im Gedächtnis gespeicherte Daten welcher Art auch immer sind noch kein Wissen. Die...

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