Vorwort – Die Aura des Bösen
Im April 1992 absolvierte ich als 27-jähriger Kriminalstudent mein zweites Fachpraktikum in Duisburg. Zu der Zeit war ich seit gut sieben Jahren bei der Polizei. Zu Beginn des Studiums hatte ich mir drei Dienststellen bei der Kripo aussuchen dürfen. Meine Wahl war dieses Mal auf das 2. Kriminalkommissariat gefallen, sachlich zuständig für Drogendelikte, Sexualstraftaten und Vermisstenfälle. Meine Aufgabe war es derzeit, Junkies und Dealern auf die Schliche zu kommen.
Der Anruf, der mein Leben verändern sollte, erreichte mich um 8 Uhr morgens in meinem Büro. Mein Chef war dran.
»Stephan, die vom 1. K. haben nach dir gefragt. Die haben wohl Bedarf. Hast du Lust?«
Ich zögerte keine Sekunde. »Natürlich. Worum geht es denn?«
»Da hat wohl einer ganz großen Mist gebaut. Genaueres weiß ich aber nicht.«
»Gut, ich nehme gleich Kontakt auf.«
Mein erstes Praktikum hatte ich vor einigen Monaten beim 1. Kriminalkommissariat absolviert – dort werden insbesondere sogenannte Todesermittlungsverfahren durchgeführt – und mitunter auch in einer Mordkommission (MK) ausgeholfen. Den Raubmord an einem Marokkaner hatten wir nach langwierigen und auch körperlich anstrengenden Ermittlungen zwar aufklären können, doch der Täter war nach wie vor flüchtig.
Nachdem ich die Verfahren mit unaufschiebbaren Ermittlungen, in Kürze durchzuführenden Vernehmungen oder noch zu vollstreckenden Durchsuchungsbeschlüssen für Wohnungen verschiedener Kleindealer meinem Vorgesetzten zurückgegeben hatte, ging ich eine Etage tiefer und stellte mich beim Leiter der Mordkommission »Gross« (benannt nach dem Opfer) vor, der zugleich Chef des 1. Kriminalkommissariats war.
Karl-Josef Röttgen, ein älterer, herzensguter Kollege, schaute zwar stets ziemlich mürrisch drein, führte das »1. K.« jedoch seit vielen Jahren erfolgreich an und wurde von seinen Mitarbeitern uneingeschränkt respektiert. Nach knapper Begrüßung riss er nur kurz an, worum es sich drehte, und sagte dann: »Aber was soll ich lange reden, nimm dir die Akten vor und lies dich ein. Wenn du damit fertig bist, kommst du wieder zu mir. Dann schauen wir weiter.«
Also ging ich zum Aktenführer, der mir empfahl, den ersten Zwischenbericht des MK-Leiters zu lesen, dann wäre ich auf dem Laufenden. Was ich in der nächsten halben Stunde erfuhr, überraschte und schockierte mich gleichermaßen – eine schier unglaubliche Geschichte, die mich sofort in ihren Bann zog.
Am 28. März kommt Jonas Brückner ins Präsidium, um seinen Stiefvater als vermisst zu melden. Dabei äußert er die Sorge, der alte Mann könnte sich das Leben genommen haben. Der 29-jährige Maurer gibt an, Hans-Martin Gross zuletzt in den späten Nachmittagsstunden des Vortages gesehen zu haben, als der 71-Jährige mit seinem Volvo 360 weggefahren sei, angeblich um ein Blumengebinde auf das Grab seiner Frau zu legen, die kürzlich an einem Herzinfarkt gestorben sei.
Erste Nachforschungen der Todesermittler ergeben jedoch, dass Hans-Martin Gross trotz des Trauerfalls auf nahe Verwandte, Freunde und Bekannte einen gefassten und keinesfalls deprimierten Eindruck gemacht habe, zumal er sich auf den Tod seiner Frau habe einstellen können. Überhaupt sei der rüstige Rentner ein optimistischer und lebensbejahender Mensch, dem ein Selbstmord nicht zuzutrauen sei.
Jonas Brückner wird als letzte Kontaktperson des Vermissten ausführlich und intensiv vernommen. Die Geschehnisse der vergangenen achtundvierzig Stunden sollen möglichst lückenlos rekonstruiert werden. In der Vernehmung behauptet Jonas Brückner unter anderem, das besagte Blumengebinde habe schon am Vormittag des 27. März im Wagen seines Stiefvaters gelegen. Er selbst habe nämlich den Volvo 360 durch eine Waschstraße gefahren, dabei seien ihm die Blumen aufgefallen.
Meine Kollegen werden misstrauisch, als sich wenig später herausstellt, dass die Blumen erst in den Abendstunden in den Wagen gelegt worden sind, und zwar nachweislich vom Vermissten selbst. Demzufolge muss die Fahrzeugreinigung an einem anderen Tag stattgefunden haben. Und Jonas Brückner hat zumindest in diesem Punkt gelogen.
Bald darauf kommt heraus, dass es im Umfeld von Jonas Brückner in der jüngeren Vergangenheit zwei weitere Vermisstenfälle gegeben hat: Am 30. September 1991 ist von dem Geographie-Studenten Peter Gundlach bei der Kripo in Bad Ems seine 28-jährige Frau Regina vermisst gemeldet worden. Deren entkleidete und augenscheinlich missbrauchte Leiche fand ein Pilzsammler schließlich am 14. November 1991 in einem Waldgebiet in der Nähe von Koblenz. Pikant daran ist, dass es sich bei Regina Gundlach um Jonas Brückners Stiefschwester handelt, mit der er jahrelang im selben Haus gewohnt hat. Und schließlich wird bereits seit dem 21. Juli 1991 erfolglos nach Bärbel Böttcher aus Oberhausen gefahndet, die 23-jährige Angestellte ist spurlos verschwunden. Das Besondere an diesem Fall: Die Vermisste zählt zu Jonas Brückners Ex-Freundinnen.
Am 5. April entdecken Schutzpolizisten das Auto von Hans-Martin Gross am Duisburger Hauptbahnhof. Die Blumen liegen noch auf dem Rücksitz des Wagens. Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten, sind zwar nicht festzustellen, doch erscheinen die Aussagen von Jonas Brückner jetzt noch dubioser. Meine Kollegen gehen nun fest davon aus, dass Hans-Martin Gross getötet wurde und sein Stiefsohn der Hauptverdächtige ist. Nur ein Motiv für die Tat lässt sich bislang nicht herleiten.
Zwei Tage nach der Sicherstellung des Fahrzeugs nehmen die Ermittlungen eine unerwartet dramatische Wendung, als eine 34-jährige Industriekauffrau den Kontakt zu meinen Kollegen sucht und sich als Lebensgefährtin von Jonas Brückner vorstellt. Was Claudia Frommelt aussagt, passt ins Bild: Bereits seit geraumer Zeit hegte sie den Verdacht, ihr Freund könnte etwas mit dem Mord an Regina Gundlach und dem Verschwinden von Bärbel Böttcher zu tun haben. Im Anschluss an die Todesnachricht wirkte er auf sie verändert und wich ihren ausgesprochen hartnäckigen Nachfragen stets aus.
Dann, vor zwei Tagen, ist sie mit Jonas Brückner mehrere Stunden spazieren gewesen – und unterwegs erzählte er ihr plötzlich, dass er gemeinsam mit einem Freund Hans-Martin Gross, Regina Gundlach und Bärbel Böttcher umgebracht habe. Einzelheiten der Taten verriet er ihr nicht, allerdings betonte er noch, die Leichen von Hans-Martin Gross und Bärbel Böttcher könnten nicht mehr gefunden werden. Auch sein Motiv hat er ihr genannt: Jonas Brückner habe durch die Morde an das Erbe seines vermögenden Stiefvaters gelangen und seinen Freund später entsprechend auszahlen wollen.
Bei dem mutmaßlichen Mittäter handelt es sich um Jürgen Broschat, einen 27-jährigen berufslosen Gelegenheitsarbeiter aus Gelsenkirchen, nicht unerheblich vorbestraft, unter anderem wegen Betruges und Körperverletzung. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, nach dem Mann wird bundesweit gefahndet.
Nachdem Claudia Frommelt ihre Aussage unterschrieben hat, wird Jonas Brückner festgenommen und mit den Tatvorwürfen konfrontiert. Es dauert nicht lange, bis der des Serienmordes Verdächtige auch meinen Kollegen gegenüber ein Geständnis ablegt. Das Geständnis ist glaubhaft, weil er darin Wissen offenbart, über das nur ein Täter verfügen kann.
Mord Nummer eins:
Jonas Brückner und sein Freund erzählen ab Mitte August 1991 Familienangehörigen und Freunden, dass sie Ende des Monats gemeinsam zwei Wochen Urlaub in Italien machen wollen. Doch stattdessen nutzen sie die Zeit ihrer angeblichen Abwesenheit, um die Lebensumstände des späteren Opfers auszuspionieren. Am 30. September wird Regina Gundlach von Jonas Brückner am Bahnhof in Bad Ems abgepasst, nachdem sie das Fahrrad dort wie üblich abgestellt hat. Er bittet sie darum, sich in ihrer Wohnung kurz duschen zu dürfen. Regina Gundlach hat nichts dagegen und geht mit ihrem Freund zu dem Wagen, an dessen Steuer Jürgen Broschat sitzt. Sie selbst setzt sich auf den Beifahrersitz. Während der Fahrt legt Jonas Brückner dem Opfer von hinten ein Springseil um den Hals und erdrosselt sie, anschließend legt er die Leiche in einem Waldgebiet ab. Dort entkleidet er die Tote und fügt ihr Verletzungen im Genitalbereich zu, um ein Sexualdelikt vorzutäuschen.
Mord Nummer zwei:
Bärbel Böttcher muss sterben, da sie für die Täter ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die Frau hat nämlich für Jürgen Broschat einen gestohlenen Pkw mit gefälschten Papieren beim Straßenverkehrsamt angemeldet. Womöglich hat sie den eigentlichen Plan, das Auto für die Tötung von Hans-Martin Gross zu verwenden, durchschaut und gefährdet so die weiteren Mordpläne.
Am 21. Juli 1991 holt Jonas Brückner seine Ex-Freundin am Bochumer Hauptbahnhof ab und fährt mit ihr zu einem Rastplatz in der Nähe von Paderborn. Dort wartet bereits Jürgen Broschat in einem anderen Wagen. Der hat Bärbel Böttcher zuvor zu einer vermeintlichen Spritztour in dessen Wagen, einem geliehenen Mercedes Cabrio, eingeladen. Da Jonas Brückner nicht mitfährt, kann er zu der kurz darauf erfolgten Tötung des Opfers keine näheren Angaben machen. Auch weiß er nicht, wo sein Freund die Leiche anschließend versteckt hat.
Mord Nummer drei:
In den Abendstunden des 27. März 1992 ruft Jürgen Broschat – wie zuvor abgesprochen – Jonas Brückner an, der daraufhin seinem Stiefvater gegenüber behauptet, ein Freund sei in der Nähe von Moers mit dem Wagen liegengeblieben und benötige Hilfe. Zudem spielt er ihm vor, er wäre...