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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!

Tagebuch einer Krebserkrankung

AutorChristoph Schlingensief
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783462300017
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken. Wie weiterleben, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung lässt uns Christoph Schlingensief teilhaben an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott, nach der Liebe zum Leben. Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss - ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint. Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott - fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott? Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen - und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.

Christoph Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen, gestorben 21.8.2010, begann im Alter von 12 Jahren mit Schmalfilmen zu experimentieren. Studium in München, als Assistenz von Werner Nekes erste Kurzfilme. Ab 1993 Theaterarbeiten, u.a. an der Volksbühne Berlin. Teilnahme an der documenta X (»Mein Filz, mein Fett, mein Hase«) und posthum 2011 an der Biennale in Venedig, Deutscher Pavillon (kuratiert von Susanne Gaensheimer, in Zusammenarbeit mit Aino Laberenz). Bücher bei Kiepenheuer & Witsch: »Chance 2000 - wähle Dich selbst« (mit Carl Hegemann, 1998), »Rosebud« (2002), »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch eines Krebskranken« (2009), »Ich weiß, ich war's« (mit Aino Laberenz, 2012).

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Leseprobe

Mittwoch, 16. Januar


Gestern Abend habe ich noch gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Wobei mir vor allem dieses leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vor dem Gesicht, gutgetan hat, so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört und spürt. Ich habe mir selbst zugehört, die Angst in meiner Stimme gehört. Einen Moment zu haben, wo nicht alles schon wieder auf der Bühne oder auch im Leben ausgesprochen ist, so eine Grenze, eine Hemmung zu spüren, ist ganz wichtig und richtig. Dennoch habe ich gerade bei dieser Scheiße hier keine Lust, alles in mich reinzufressen, immer nur alles nach innen zu kehren. Gestern habe ich auch mit meiner Mutter darüber geredet, dass ich wohl sehr viel von meinem Vater habe, dass er aber seine Sache, zum Beispiel seine Ängste wegen der Erblindung, nicht herausschreien konnte. Er konnte sich nicht entäußern, so kommt es mir jedenfalls vor.

Die Träume von heute Nacht kann ich gar nicht beschreiben, aber es waren wieder zusammenhängende Geschichten und keine Bilderfluten mehr wie in den letzten drei Nächten, als dieses Antipilzpräparat so komische Halluzinationen erzeugt hat. Das waren Bilder, die mich nicht berührt haben, die aber permanent da waren.

Heute Morgen bin ich von Geräuschen draußen auf dem Gang wach geworden und habe noch ein bisschen im Dunkeln gelegen. Da merkt man, wie einem wieder diese Angst in die Knochen schießt, dass das der Tag sein könnte, an dem entschieden wird, ob ich diesen Leidensweg gehen muss, diesen Weg mit vielen Beratungen und Behandlungen. Und die Frage tauchte auf, ab wann der Wille zu leben am Ende ist. Nicht am Ende, sondern an dem Punkt, wo der Wille sich einfach ergibt und sagt, ja, so ist es. Diese Frage ist mir heute Morgen in den Kopf geschossen und hat mich sehr berührt. Ich überlege auch, ob ich mir noch etwas gegen die Angst geben lasse, wenigstens für heute. Vielleicht ist das ja berechtigt. Dann denke ich wieder an Jesus, der beim letzten Abendmahl schon alles gewusst hat. Er wusste, dass er anschließend verraten wird, dass er den Weg zum Kreuz gehen muss. Das hier ist natürlich kein Verrat, aber doch ein Gang, der quält. Vielleicht war Jesus an dem Abend aber noch in verhältnismäßiger Ahnungslosigkeit, eher in einer Phase der langsamen Bewusstwerdung, dass er sich schon längst auf dem Weg befindet.

 

Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich glaube nicht, dass Jesus diesen Satz gesagt hat. Ich habe das Gefühl, dass das eher hieß: Mein Gott, ich fühle mich geborgen in dir, ich lasse mich fallen und glaube an das Gute, an einen guten Ausgang in Frieden. Damit meine ich, dass man vielleicht irgendwann in einen Zustand kommt, in dem die irdischen Dinge, die man alle so liebt, keine Bedeutung mehr haben. Vielleicht haben sie ja noch Bedeutung, aber diese Beurteilungsebene, warum bin ich nicht erfolgreich, warum kann ich das nicht haben, warum ist dieses und jenes nicht, ist nicht mehr wichtig. All diese menschlichen, erdverbundenen Dinge stehen dann plötzlich in einem anderen Kontext. Ich glaube wirklich nicht, dass Jesus gerufen hat: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Jesus hat einfach nur gesagt: Ich bin autonom.Diesen Satz hat er nicht gesagt, davon bin ich fest überzeugt. Das ist einfach Quatsch. Das ist nicht das Zeichen: Ja, ich bin auch so schwach wie ihr. Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben gehangen, hat Aua gesagt und was weiß ich, aber er hat nie den Vorwurf gemacht, dass man ihn verlassen hat. Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom.

Dass da Gott am Kreuz hängt und sagt: Gott, warum hast du mich verlassen, fand ich ja eigentlich toll. Das ist ja menschlich, dass er diese Ohnmacht, diese Weichheit und Unfähigkeit ausspricht, dachte ich. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass der Auftrag seit Abraham eigentlich ist, die Dinge alleine zu machen. Zum Beispiel wenn die Frau 76 Jahre alt ist, trotzdem noch loszuziehen und zu sagen, irgendwann werden wir ganz viele Kinder haben. Eine andere Chance hat man ja nicht. Man kann nur sagen, ich bin jetzt 47 und ich werde noch 96 Kinder zeugen. Das ist irreal, aber ich mache es einfach und ziehe es durch. Wenn ich am Kreuz hänge und mich frage, warum ich verlassen wurde, habe ich mich ja doch auf jemand anderen bezogen. Das sind so Gedankenfetzen, die in meinem Kopf zurzeit rumkreisen. Ich kann das auch nicht besser beschreiben, es ändert sich jeden Tag.

Meine Beziehung zu Gott hat sich jedenfalls aufgrund der extremen Situation verändert. Man wundert sich, wie schnell das geht: Man hat sich von der Kirche abgewendet, und plötzlich ist man wieder da. Aber ich bin eigentlich gar nicht bei der Kirche. Mit diesem ganzen Brimborium kann ich nichts anfangen, mit dieser ganzen aufgeblasenen Veranstaltung, die glaubt, sie könne mir bei meiner eigenen Unfähigkeit, autonom zu werden, helfen, indem sie mir Traumschlösser baut oder Leidenswege beschreibt, die ich gehen muss, damit ich endlich zu mir finde. Das ist es nicht. Sondern ich will mehr wissen über Jesus, mehr wissen über den Gedanken Gottes und über das Prinzip Leben, zu dem auch das Sterben gehört, das Sterben, zu dem auch das Leben gehört. Darüber nachgedacht zu haben, ist eigentlich schon das Größte, was in diesen zehn Tagen passieren konnte.

Ich habe jetzt vor dieser PET-Untersuchung ein bisschen Lampenfieber, aber eigentlich bin ich guter Dinge und wünsche mir, mich in diese Stimmung übergeben zu können, die ich vor ein paar Tagen hier unten in der Krankenhauskapelle gespürt habe. Als ich einfach in der Wärme geborgen und beschützt war. Und natürlich bitte ich alle Kräfte, die so herumfliegen, und alle Dinge, die sich miteinander besprechen oder miteinander zu tun haben, dass sie mich auf einen guten Weg schicken. Und wenn es ein Weg wird, auf dem man mit Schmerzen, Kämpfen und aussichtslosen Situationen konfrontiert wird, ja, dann ist das so.

Aber ich kann das natürlich nicht wirklich so sagen. Ich kann das nicht. Das fällt mir schwer. Ich kann nicht sagen, ja, dann soll das geschehen. Nein, ich will leben. Ich will auf alle Fälle leben. Aber nicht, um wieder in diesen blinden Trott zu verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern ich will ein Leben leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert.

 

Ich stehe am Zaun meines ehemaligen Kindergartens in Oberhausen und warte auf Aino, die noch im Krankenhaus ist, weil der Radiologe noch einmal das CT anschauen will. Nach der ersten Auswertung sagte er, das sei zu hoher Wahrscheinlichkeit ein Tumor. Und er hat noch einen zweiten entdeckt. Die Leber und das Skelett seien aber okay. Um Gewissheit zu haben, müsse man noch punktieren.

Ich habe das eigentlich alles sehr kühl aufgenommen. Das war für mich heute der Stichtag. Ergebnis ist: Tumor.

Jetzt reden zwar wieder einige, das könnte auch etwas anderes sein. Ich selbst hätte das natürlich auch gerne. Bringt alles nix. Ich kann noch tausend andere Wünschelrutengänger über mich laufen lassen, aber es geht jetzt darum, Tatsachen zu schaffen und keinen Blödsinn mehr zu verzapfen, nicht rumzujammern, o Gott, das wird ja nichts, oder o Gott, hoffentlich wird das was. Sondern da ist jetzt der Beweis: Da drinnen lebt ein unangenehmer Zeitgenosse. Ein Dreckskerl.

Aber ich habe Glück gehabt, dass er durch meinen Husten zufällig so früh entdeckt worden ist. Das hatte sich dieser Drecksgenosse wahrscheinlich anders ausgedacht. Deswegen hat der da drin einfach Pech gehabt. Denn auch wenn er jetzt Gas geben sollte – er ist früh genug gesehen worden. Jetzt lasse ich da reinpieksen, dann habe ich alle Befunde zusammen. Dann habe ich den Pathologen an der Leitung, und der wird mir sagen, das ist bösartig, das ist gutartig, das ist Entzündung, das ist Hefe, das ist der Tod oder ich weiß nicht was. Und wenn man endgültig weiß, das ist ein Drecksgenosse, dann fahre ich nach Berlin, mache am Wochenende in der Wohnung noch Klarschiff mit meiner Mannschaft und bespreche, was zu tun ist. Am Montag geht es dann in die Klinik in Zehlendorf, da lasse ich mich sofort operieren. Das Ding kommt raus. Und dann wollen wir mal sehen, wie wir das alles in den nächsten zwanzig Jahren organisieren. Wenn dann noch was kommt, dann wird das beseitigt. So nehmen wir das jetzt an. Und wenn wir mal heulen müssen, dann müssen wir auch mal heulen.

 

Komischerweise bin ich heute Abend immer noch richtig stabil. Nach dem Gespräch mit den Ärzten war ich mit Aino Nudeln essen. Sie hat mir mal so richtig die Meinung gesagt: Die Angst ist gelandet.»Du bist wie dein Vater, lebst im Konjunktiv, was wäre wenn und es könnte sein, dass … Kannst du jetzt echt mal mit aufhören. Du bist in der Gegenwart, und du willst eine Realität, und dann reagierst du.«

Seitdem habe ich einen klaren Kopf. Ich will das jetzt wissen. Antje hat den richtigen Satz gesprochen: Die Angst ist gelandet. Ja, meine Angst ist gelandet. Ich gehe heute Abend davon aus, dass ich Krebs habe. Das ist fast eine Erleichterung. Ich war die letzten Tage ja kurz vorm Überschnappen, weil ich mich in dieser Ungewissheit befand und all diese Fantasien losgingen. Auch durch diese Halluzinationen, die ich durch die Infusionen gegen den Pilz in meiner Lunge hatte. Ich lag bei Aino im Arm, hatte die Augen zu und sah plötzlich ein wahnsinniges Durcheinander an Bildern: Da waren irgendwelche Ritterburgen, dann bin ich an ganz großen Ornamenten vorbeigefahren, dann war ich plötzlich im Totenzimmer meines Vaters. Zwischendurch habe ich immer wieder die Augen aufgemacht, Aino gesehen und gesagt: »Das ist merkwürdig. Was ist denn das? Da sind so...

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