Wozu neue Manieren?
Ich habe die alten doch noch nicht verbraucht!
Gewöhnlich handeln Benimmbücher für Männer davon, wie man im Fall der Fälle auch als Versicherungsvertreter oder Personalberater eine 707 so landet, dass die Dame in der First Class ihren Rosé-Champagner nicht verschüttet; wie man formvollendet ein Einstecktuch trägt oder die – selbstredend handgenähten – Schuhe dermaßen auf Hochglanz bringt, dass man in ihnen den Sitz des Kummerbundes kontrollieren kann. Das ist sicher gut gemeint, aber im Alltag eher unpraktisch. Vor allem, weil Frauen sich selten mit Sätzen wie: »Tut mir leid, Schatz, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe und dir nicht im Haushalt helfe, aber dafür könnte ich dir fachgerecht einen Hummer zerlegen – falls du gerade einen zur Hand hast!« über Manieren-Mangel trösten lassen. Und es interessiert sie außerdem nur wenig, ob ein Mann in der Lage ist, einen ordentlichen Geschäftsbrief aufzusetzen, wenn sich seine schriftlichen Äußerungen daheim auf Sätze wie: »Hab keine Socken mehr!« oder: »Ich brauche neues Rasierwasser!« beschränken, in denen man das Wort »Bitte« vergeblich sucht.
Sicher kennen die meisten Männer die wichtigsten Manieren-Grundlagen und würden beispielsweise im Restaurant niemals einen Rotwein in ein Wasserglas füllen. Einige bringen es sogar zu wahren Meisterleistungen, sind versiert im Gebrauch von Messer und Gabel, können auch mal das Frühstücksgeschirr abräumen und sich mühelos an die Namen ihrer Kinder erinnern. Allerdings häufen sich gleichzeitig die Indizien, dass am Mann auf der Straße oder im Haushalt, bei der Arbeit, beim Sex – also im ganz alltäglichen Zusammenleben – vieles zu verbessern wäre. Vielleicht, weil die Benimm-Fachliteratur diese wenig prestigeträchtigen Bereiche weitgehend ignoriert. Oder weil sie zu 99 Prozent von Männern verfasst wird, die einfach voraussetzen, dass Männern die Basiskenntnisse guten Betragens wie etwa Türaufhalten, Vortrittlassen und herrliche Sätze wie: »Die Rechnung bitte!« oder: »Kann ich etwas für dich tun?« längst in Fleisch und Blut übergegangen sind und sie sich somit schon größeren Aufgaben wie dem Windsorknoten widmen können.
Bestimmt braucht man einem Mann etwa seit 1867 nicht zu sagen, dass er im Büro seinem Kollegen nicht mal eben vor die Füße spucken sollte. Trotzdem kann man noch im Jahr 2009 unentwegt beobachten, wie Männer, auch die tadellos gekleideten, damit beschäftigt sind, auf den Straßen Deutschlands die Stelle zu finden, auf der vor ihnen noch kein Mann seinen Speichel hinterlassen hat. Wie Männer ihr Gemächt so häufig von rechts nach links verlegen, bis es unter einem Schleudertrauma leidet, und in der U-Bahn mit nur zwei Beinen vier Sitze blockieren. Auch im Flugzeug müssen sich Männer meiner Erfahrung nach viel zu sehr darauf konzentrieren, gleich beide Armlehnen und die letzte Tageszeitung zu ergattern, um noch Energie für größere Heldentaten erübrigen zu können. Und sollte die Stewardess eines Tages tatsächlich über die Bordsprechanlage durchgeben, es seien gleich beide Piloten ohnmächtig geworden, und fragen, ob nicht einer der anwesenden Herren das Steuer übernehmen könnte, würde vermutlich ein Drittel behaupten, dass der Arzt ihm jede Aufregung verboten habe, das nächste Drittel würde ein Wachkoma vortäuschen und der Rest sagen: »Machen Sie es doch selbst. Ihr Frauen wollt doch immer so emanzipiert sein! Aber vergessen Sie nicht, mir vorher noch einen Kaffee zu bringen. Und diesmal heiß und nicht bloß lauwarm!«
So driften bei Männern und Manieren Anspruch und Wirklichkeit oft weiter auseinander, als einem gedeihlichen Miteinander zuträglich sein kann. Ganz einfach, weil die Bedeutung von Respekt, Höflichkeit, Achtung, Fürsorge und Aufmerksamkeit als Garant für Glück gerade im schnöden Alltag, besonders dem, den man mit Frauen teilt, gründlich unterschätzt wird. Das gilt übrigens auch für die Chancen, zum sozialen Totalversager zu mutieren.
Frauen wissen das. Wir leben mit Männern zusammen, die klug sind und gut aussehen, die Humor haben – jedenfalls solange man über ihre Witze lacht –, die im Prinzip zum Niederknien wären, wenn sie nicht nach jedem Schnäuzen ins Taschentuch schauten, um den Ertrag mit so viel Wohlgefallen zu betrachten, als habe sich dort gerade Schleim in Gold verwandelt – falls sie überhaupt ein Taschentuch benutzen und nicht etwa die Hand nehmen oder sich ein Nasenloch zuhalten, um das andere gründlich auf der Straße auszuleeren. Wir haben es täglich mit Männern zu tun, die wortlos in die Küche gehen und von ihrem anstrengenden Ausflug mit nur einem, nämlich ihrem vollen Glas zurückkehren. Mit Männern, wie ich sie hier jeden Tag am Zaun eines sehr großen Baugrundstückes vor dem Fenster meines Arbeitszimmers sehe. Bei Autofahrern ist dieses Grundstück anscheinend als »Letztes Pissoir vor der A3« bekannt. Täglich steigen hier durchschnittlich etwa drei Männer – übrigens aus sehr teuren Autos – aus, um sich mal eben breitbeinig – quasi mitten auf der Straße – zu erleichtern. Ungeachtet der unübersehbaren Tatsache, dass sich direkt hinter ihnen ein sechsgeschossiges Wohnhaus befindet, dessen Bewohner aller Wahrscheinlichkeit nach nicht alle erblindet sind.
Gut, man könnte ja einfach sagen: »Lass das!«, oder: »Das ist eklig!« Oder etwa beim Essen: »Ehrlich, wenn du deinen Kopf noch ein bisschen näher an den Suppenteller hältst, könntest du gleich deinen neuen Schnorchel ausprobieren!« Aber wieso sollen immer wir die Männer erziehen? Auch noch! Sie sind doch schon mal erzogen worden, und außerdem ist der Clou von Manieren ja gerade, eine stille Übereinkunft aller darüber zu sein, dass es nicht nur sehr viel netter, sondern auch viel klüger ist, anderen Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme und Respekt entgegenzubringen, dass man eben nicht jahrelang predigen muss: »Wäre schön, du würdest das nächste Mal auch sprechen, wenn wir Gäste haben. Und sag jetzt nicht, du kannst das nicht.«
»Und die Frauen? Was ist mit deren Manieren?« War ja klar, dass diese Frage als Erstes kommt. Natürlich liegt bei den Frauen auch so manches im Argen. Allerdings muss man ja mal irgendwo anfangen, und dass die Männer an erster Stelle, also vor »Manieren für Frauen«, kommen, hat gute Gründe:
1. Frauen sind noch lange nicht so weit, sich auch nur in annähernd so großem Stil mit auch nur annähernd denselben gravierenden Konsequenzen wie Männer schlecht zu betragen. Dazu fehlen uns – leider – immer noch die Möglichkeiten. Frauen sind nicht in der Position, Männer im selben Job um bis zu einem Viertel schlechter zu bezahlen als sich selbst, Frauen ab 50 nicht mehr einzustellen, weil sie die Optik des Unternehmens verderben, mal eben ein millionenschweres Unternehmen und damit Hunderte von Arbeitsplätzen an die Wand zu fahren oder einfach nur zu behaupten, anatomisch nicht für den Gebrauch von Haushaltsgeräten geschaffen zu sein und damit durchzukommen.
2. Nur Männer unterliegen dem fundamentalen Irrtum, es handele sich bei Höflichkeit um ein Anerkennungshonorar, eine Art Gegengeschäft dafür, dass wir ihnen ein paar Jahrtausende lang das Herrschen und Lenken überlassen haben. Seit Frauen eigenes Geld verdienen, selbständiger und unabhängiger werden, sehen zunehmend mehr Männer den wichtigsten Umgangsformen schlicht die Geschäftsgrundlage entzogen und verweigern, was sie könnten: zum Beispiel kürzlich der jungen Bahnbediensteten mit ihrem bleischweren Kaffeekarren beim Aussteigen zu helfen. Sie hatte zwei tadellos gekleidete Männer, die auf dem Bahnsteig standen und darauf warteten einzusteigen (übrigens in der 1. Klasse), direkt angesprochen. Doch die drehten sich sofort um und betrachteten den ICE auf dem gegenüberliegenden Gleis so interessiert, als hätte sich dort gerade Sharon Stone entkleidet. Zweifelsohne hätten die beiden bei einem hochkarätigen Geschäftsessen mit den besten Manieren geglänzt. Doch hier, wo keiner zuschaut, wo nichts rumkommt? Da überließen sie die Arbeit lieber einer Schülerin, geschätztes Gewicht 48 Kilo, die sich schließlich erbarmte.
3. Viele Männer sind zwar im Prinzip guten Willens, haben aber nicht den Hauch einer Ahnung, wie wunderbar das Leben mit einer Frau und Manieren sein kann. Wie man beispielsweise ein Geschenk macht, eine Frau zum Essen einlädt, sich in der Liebe genauso wie im Beruf und im Rest des Lebens mit minimalem Aufwand größte Bewunderung verdient. Vielleicht sind sie etwas verstört durch Rollenvorbilder, wie sie einem nachmittags in den Talkshows präsentiert werden, die fürs Flegeln sogar noch bezahlt werden, und glauben deshalb, dass das ganze Leben eine Fernsehshow ist, voller williger Frauen mit Körbchengröße C oder mehr, die »Geil!« kreischen, wenn man ihnen sagt: »Warst du in der Kirche? Siehst so durchgeorgelt aus.« (Dieter Bohlen). Oder sie haben den Satz: »Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss«, einfach grundfalsch, nämlich mit Spucken, Rülpsen und Furzen, übersetzt.
4. Frauen fragen sich sowieso ständig: »Was mache ich falsch? Hat er mich noch lieb? Bin ich zu dick? Schmeckt, was ich gekocht habe? Sitzt die Frisur? Bin ich auch die Richtige für den Job? Ist es nicht meine Schuld, wenn meine Kinder später mal Flugzeuge entführen oder Investment-Banker werden?« Würden Selbstzweifel bezahlt, bräuchten Frauen überhaupt nicht mehr zu arbeiten und die Regierung könnte sich obendrein das Elterngeld sparen. Bis auf die zwei Monate...