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E-Book

Die Kunst, Menschen zu führen

AutorAbtprimas Notker Wolf, Schwester Enrica Rosanna
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783644412811
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Menschen kann man nicht managen. In dem Augenblick, in dem Vorgesetzte Führungsangelegenheiten wie Finanz- oder Produktionsfragen behandeln, werden sie zu Schreibtischtätern. Doch ist die Kunst, Menschen zu führen, überhaupt erlernbar? Wobei sie sich nicht auf Wirtschaftsunternehmen beschränkt, denn Führungsfragen stellen sich genauso in der Politik, in der Schule und in der Familie ... Jeder kann sein Charisma missbrauchen, jeder kann seine Autorität gegen seine Mitarbeiter oder Schüler richten, deshalb muss jeder klare Vorstellungen von seiner Verantwortung haben und sehr genau wissen, welche Ziele er als Führender verfolgen sollte. Es kann also nicht schaden, Menschen mit Führungsqualitäten die Augen dafür zu öffnen, worauf es ankommt ...» Mit Hilfe ihrer langjährigen Erfahrung in hohen Leitungspositionen gehen Abtprimas Notker und Schwester Enrica Rosanna auf die Suche nach den Grundsätzen einer menschengerechten Führung.

Notker Wolf OSB, Dr. phil., geboren 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, studierte Philosophie und Theologie in Rom und München. 1961 trat er in die Benediktinerabtei St. Ottilien am Ammersee ein und wurde 1977 zu ihrem Erzabt gewählt. Seit 2000 war er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien auf der ganzen Welt. 2008 wurde er auf weitere vier Jahre durch Wiederwahl in dieser Funktion bestätigt. Besonders am Herzen lagen ihm der interkulturelle Dialog mit anderen Religionen und partnerschaftliche Projekte in China und Nordkorea. Er starb im April 2024. 

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Leseprobe

01

DAS EWIG GUTE VORBILD


Über die Aktualität der Regel Benedikts

Abtprimas Notker Wolf

Es erwartete mich keine leichte Aufgabe, als ich 1977 zum Erzabt von Sankt Ottilien gewählt wurde. Nicht nur, dass mir damit die Sorge für diese Abtei und ihre hundertachtzig Mönche zufiel, gleichzeitig war ich nun auch für unsere Klöster in Afrika und Asien, in Nord- und Südamerika zuständig, denn Sankt Ottilien ist ein Missionskloster. Obendrein trat ich mein Amt in einer Zeit des Umbruchs an. In den deutschen Klöstern (wie in den europäischen ganz allgemein) wurde damals die Autorität des Abtes immer stärker infrage gestellt. Bis dahin in unangefochtener Position, sahen sich die Äbte auf einmal einer permanenten Bewährungsprobe ausgesetzt. Sie mussten ihre Entscheidungen erklären, rechtfertigen, verteidigen und erlebten, dass ihr Führungsstil nicht mehr kommentarlos hingenommen wurde. Und außerhalb Europas brach für viele Klöster ebenfalls eine neue Zeit an, weil wir damals zu gemischten Klöstern übergingen, uns also auf das Zusammenleben von europäischen und einheimischen Brüdern oder Schwestern im selben Kloster umstellten, was vor allem in Afrika nicht reibungslos verlief.

Auf mich als Erzabt kamen seinerzeit wertvolle Lehrjahre in der Kunst der Menschenführung zu, denn überall, im altvertrauten bayerischen Heimatkloster wie in unseren Klöstern außerhalb Europas, ging es nun darum, über die langen Schatten der Vergangenheit zu springen, den alten benediktinischen Gemeinschaftsgeist wiederzubeleben und zu neuen, freieren Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens zu finden, ohne die Autorität des Abtes im Kern anzutasten. Ich kann von Glück sagen, dass mir in jenen Jahren zwei großartige Lehrmeister zur Seite standen. Der eine war unser Ordensgründer, der heilige Benedikt von Nursia, dessen Regel mir vom ersten Tag an als theoretische Richtschnur für kluge Menschenführung diente. Und der andere war mein damaliger Prior Paulus, dem ich zahllose Beispiele dafür verdanke, wie kluge Menschenführung in der Praxis auszusehen hat. Mittlerweile trage ich als Abtprimas die Verantwortung für den Benediktinerorden als Ganzes, aber von den Erfahrungen mit diesen beiden zehre ich bis heute. Ich möchte deshalb zunächst einmal erzählen, was es für mich von ihnen zu lernen gab.

«Das ewig gute Vorbild bringt mich langsam um …» Der Stoßseufzer stammt von meinem alten Prior, und er war, wie manches aus seinem Mund, nicht ganz ernst gemeint. Denn Prior Paulus brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen, um mir – und anderen – ein Vorbild zu sein. Der war so, wie er war, der musste keinem etwas vormachen; und so, wie er war, hätte ich mir meine Mitbrüder alle gewünscht, so unerschütterlich gelassen, so treffsicher despektierlich, so gnadenlos offen (wenn nötig) und so loyal. Doch Prior Paulus war – leider oder gottlob – einmalig: ein Hüne von Gestalt, Bauernsohn aus dem Allgäu, Bürgermeistersohn, ausgestattet mit der unschätzbaren Gabe, niemanden übertrieben ernst zu nehmen und das Leben aus der höheren Warte dessen zu betrachten, der sich selbst am allerwenigsten ernst nimmt. Ich sehe ihn noch beim Chorgebet mir gegenüber stehen, in meinem alten Kloster Sankt Ottilien: Eben noch in einen Psalmentext versunken, zuckte im nächsten Augenblick ein durchaus merkliches Grinsen über sein Gesicht – höchstwahrscheinlich die plötzlich aufflackernde Erinnerung an einen Menschen, der sich ihm gegenüber aufgespielt und einen seiner berühmten Dämpfer abbekommen hatte.

Nicht alles, was ihn als Prior auszeichnete, hatte zu seiner mentalen Grundausstattung gehört. Er hatte früh damit begonnen, an sich zu arbeiten, und schon als Schüler den beinahe sportlichen Ehrgeiz entwickelt, sich so viel Gleichmut anzueignen, dass ihn nichts und niemand mehr zu ärgern vermochte. Der Entschluss dazu ging auf ein Erlebnis Mitte der Zwanzigerjahre am Missionsseminar von Sankt Ottilien zurück, wo er einen Pater als Lehrer gehabt hatte, der es nicht lassen konnte, vor der Klasse über das Kloster und seine Mitbrüder herzuziehen. Er und zwei seiner Freunde schworen sich seinerzeit: Dieser Fehler darf uns niemals unterlaufen – stellten ein Sparschwein in ihrem Schlafraum auf und verpflichteten sich, für jede unkontrollierte Aufwallung von Zorn oder Empörung einen Zehner hineinzutun. «Nach einem halben Jahr», erzählte mir Prior Paulus später, «hatten wir uns im Griff. Seither ist es keinem mehr gelungen, uns in Rage zu bringen.» Alle drei sind dann in ein Kloster eingetreten, und einer wie der andere legten sie zeitlebens eine beeindruckende innere Freiheit an den Tag.

Als ich längst Erzabt von Sankt Ottilien war, besuchte mein Prior eines unserer Klöster in Afrika, und beim Frühstück mit den deutschen Schwestern dort gab er ebendiese Geschichte von seinem Sieg über die Unbeherrschtheit zum Besten. Das, meinten die Schwestern, hätten sie auch längst gelernt. Nichts könne sie mehr aus der Ruhe bringen, nichts aufregen. Nun hatte eine dieser Schwestern ihm freundlicherweise die Schuhe geputzt, weil er schon alt und steif war. Minuten später streift sich mein Prior ächzend einen Schuh vom Fuß, untersucht ihn von allen Seiten, stochert mit einem Messer in der Sohle herum und richtet sich wieder auf. «Schauen Sie mal, Schwester», sagte er mit Engelsmiene, «hier unten ist doch tatsächlich noch etwas Dreck …» Da hätten Sie die Schwestern sehen sollen: Alle gingen gleichzeitig an die Decke. Und mein alter Prior? Er grinste.

Nicht jeder kam mit seiner Art zurecht. Und nicht jeder der vier Äbte, unter denen mein alter Prior dem Kloster fast vierzig Jahre lang gedient hat, wusste ihn zu nehmen. Ihn selbst konnte nichts erschüttern, aber mit seiner Standfestigkeit hat er andere erschüttert, und einige empfanden seine Geradlinigkeit als bedrohlich. Mein Vorvorgänger in Sankt Ottilien setzte ihn sogar als Prior ab, musste diese Entscheidung jedoch gleich wieder rückgängig machen, weil es einen Aufstand im Konvent gab. Erst im Angesicht des Todes kam es zur Aussprache zwischen den beiden. Der Abt, vom Krebs gezeichnet, holte ihn an sein Bett und rang sich zu dem Geständnis durch: «Pater Prior, jetzt glaube ich endlich, dass Sie nicht nach meinem Amt getrachtet haben.» Nein, es war gewiss nicht immer leicht, Abt unter Prior Paulus zu sein.

Dabei hatte er zu keiner Zeit die Ambition, selber Abt zu werden. Das Angebot eines anderen Klosters, ihn dort zum Abt zu wählen, beschied er kurz und bündig mit den Worten: «Ich werde niemals eine Mitra auf meinem Haupt herumschleppen.» Schreckte er vor der Verantwortung zurück? Wohl kaum. Als Prior war er die Idealbesetzung, der perfekte zweite Mann. Aber er scheute den blendenden Glanz des Rampenlichts und die Konzessionen an den frommen Mummenschanz, die das Amt des Abtes von ihm verlangt hätte. In der zweiten Reihe fühlte er sich freier. Als Abt hätte er der hierarchischen Selbstdarstellung mehr Tribut zollen müssen, als sich mit seiner Verachtung für Autoritätsgläubigkeit und Statussymbole vereinbaren ließ. Dieser Mann konnte bis zum Sarkasmus gehen in seinem Widerwillen gegen alles, womit sich die Macht herausputzt, und ich gestehe, dass mir seine Haltung mit der Zeit in Fleisch und Blut überging. Manche seiner Kommentare sind für mich zu wahren Hirtenworten geworden. Und jedes Mal, wenn ich den Vatikan betrete, kommt mir sein Ausspruch in den Sinn: «Wissen Sie, Vater Erzabt, welcher der schwärzeste Tag in der Geschichte der Menschheit war? Der Tag, an dem sich die Bischöfe zum ersten Mal mit den Insignien geschmückt haben (also den ganzen Hoheitszeichen wie Mitra, Kreuz und Krummstab).» Dann hatte der riesige Kerl Luft geholt und war mit größerer Lautstärke fortgefahren: «Aber noch viel, viel schwärzer war der Tag, als die Äbte es den Bischöfen nachgetan haben!»

Das «ewig gute» Vorbild meines Priors hatte jedenfalls größte erzieherische Wirkung auf mich. Was habe ich von ihm gelernt? Dass man mit Humor und Selbstironie sehr weit kommt, gleichgültig, ob man als Abt 180 Mönchen vorsteht oder als Abtprimas für fünfundzwanzigtausend Mönche und Nonnen weltweit zuständig ist. Dass man mit Aufrichtigkeit noch weiter kommt. Und dass man ungeahnt weit kommt, wenn man sich weder durch Kardinalspurpur noch Präsidententitel noch Dienstwagen und reservierte Firmenparkplätze gleich neben der Garagenausfahrt beeindrucken lässt. Mit anderen Worten: Prior Paulus hat mir vorgemacht, was Autorität sein könnte und sein sollte. Er hat mir die Augen dafür geöffnet, wie heilsam sich Autorität auswirkt, wenn man die Schale des autoritären Gebarens zerschlägt und das zum Vorschein kommt, was Autorität im Kern bedeutet: Verantwortung und Fürsorge und Dienst. Von dieser Schale befreit, entfaltet die Autorität ihre befreiende, ihre Geist und Seele befreiende Kraft.

So gesehen war Prior Paulus vor allem ein vorbildlicher Christ. Denn eben das ist im Sinne Jesu Christi, und eben das sollte das Christentum deshalb auch immer wieder leisten, nämlich: alle falschen Werte infrage stellen, allen falschen Glanz zerstören, alle angemaßte Autorität als eitel und hohl entlarven. Davon abgesehen war er aber auch eine Führungspersönlichkeit ganz nach dem Herzen unseres Ordensgründers, des heiligen Benedikt von Nursia. Wenn man die Regel studiert, die Benedikt seinen Klöster gewissermaßen als Verfassung mit auf den Weg durch die Jahrhunderte gegeben hat, dann stößt man allenthalben auf eben jene Vorstellungen von Autorität, die mein Prior für uns verkörperte – nur dass Benedikt durchweg ernstere Formulierungen für sie fand, als wir sie von Prior Paulus zu hören gewöhnt...

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