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E-Book

Brief an mein Leben

Erfahrungen mit einem Burnout

AutorMiriam Meckel
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644006218
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine erfolgreiche Frau klappt zusammen. Die Kommunikationsexpertin ist Professorin an der Universität, gefragte Gesprächspartnerin der Medien, sie hält Vorträge, berät Unternehmen - und dann passiert ihr genau das, wovor Miriam Meckel selbst immer gewarnt hat: Während sie wieder mal eine Flut geschäftlicher und privater E-Mails beantwortet und nebenher den Koffer packt - was braucht sie, um auf der Konferenz zu reden, zu joggen und mit Freunden zu feiern? -, zieht ihr Körper die Notbremse. Nichts geht mehr. Die Diagnose: Burnout. In einer Klinik im Allgäu beginnt sie, einen «Brief an mein Leben» zu schreiben. Darin setzt sie sich tastend und suchend damit auseinander, wovon sie sich so lange mit Arbeit und Aktionismus abgelenkt hat. Präzise analysiert sie ihre Gefühle, stößt auf alte Wunden und macht deutlich, was geschieht, wenn wir ständig unterwegs sind und permanent kommunizieren, aber nicht mehr sagen können, was uns glücklich macht. Miriam Meckels Geschichte berührt und rüttelt auf. Noch nie hat jemand, der so aufs Reden und Kommunizieren spezialisiert ist, so offen über das eigene Verstummen und die persönlichen Erfahrungen mit einem Burnout gesprochen - und darüber, wie man mit ihm umgehen, ihn überwinden kann.

Miriam Meckel ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, als Gastprofessorin lehrte sie an der Universität Harvard, in Singapur, New York und in Wien. Sie war Chefredakteurin und Herausgeberin der «Wirtschaftswoche», zudem Staatssekretärin für Medien und Internationales in Nordrhein-Westfalen. Ihr Buch «Brief an mein Leben» (Rowohlt 2010) wurde zum Bestseller. Seit 2018 ist Meckel Co-Gründerin und CEO von ada Learning, einem Weiterbildungsprogramm für Zukunftskompetenzen.

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Leseprobe

MEINE SINNE


Mal sehen, was ich so in meiner Frühstückstüte versteckt habe. Ich stehe am Fenster und bereite mein Müsli zu, ein paar getrocknete Cranberries und Gojibeeren liegen schon in der Glasschüssel, ich schaue nochmal genauer hin. Da bewegt sich etwas. Ein kleines, vielleicht drei Millimeter langes silbergraues Tierchen liegt in der Schüssel. Ich schubse es mit dem Stiel meines Löffels an, und es bewegt sich wieder. Was macht das Tier in meinem Müsli? Es muss in einer der Tüten mit den Beeren überlebt haben. Ich muss kurz lachen bei der Überlegung, dass dies die erste Ration Fleisch wäre, die ich seit Wochen zu mir nähme. Aber ich finde es jetzt schon ein bisschen eklig. Das Tier muss weg, und ein Stück Toilettenpapier hilft mir, ihm ein unwürdiges Ende zu bereiten. Ich ertappe mich dabei, wie ich jede getrocknete Beere, die bereits ihren Weg in meine Schüssel gefunden hat, nochmal aufpicke und von allen Seiten betrachte. Da scheint nichts mehr zu sein. Ich esse mein Müsli mit Dinkelflocken und Sojamilch und schaue weiter aus dem Fenster.

Da draußen ist nichts. Bäume, Schnee, der die Hügel bedeckt und weiter vom Himmel fällt. Während ich esse, finde ich mich ganz schön laut vor dieser Stille da draußen. Es knirscht, kracht und schäumt in meinem Mund, und ich bin mir selbst eine Lärmbelästigung. Sonst höre ich das nie, weil bei mir immer Musik läuft. Wenn genug Außengeräusche da sind, werden die Geräusche in meinem Inneren überlagert. Jetzt höre ich sie gnadenlos. Schön klingt das nicht, aber wahrscheinlich klänge es für Außenstehende anders als für mich. In mir hallt das Knirschen und Krachen wider und findet einen besonderen Resonanzraum. Draußen kommen sicher nur leichte Essgeräusche an. Aber das kann ich nicht überprüfen. Ich kann ja nicht aus mir heraus, um mir von draußen zuzuhören. Ich bin akustisch in mir selbst gefangen.

Ich starre weiter in diese trübe, milchig weiße Landschaft. Meine Güte, wenn heute Totensonntag wäre, ich würde es sofort glauben. Da ist wirklich nichts. Zwischendurch muss ich mich in meiner Sitzposition immer wieder neu arrangieren, sonst schlafen mir die Beine ein auf diesem Holztisch. Ich sitze etwas schräg, weil der Tisch nicht tief genug ist. Dadurch drückt mein rechtes Knie immer wieder an die Fensterscheibe. Kalt ist die. Ich rücke ein bisschen ab, verlagere mich nochmal. Da geschieht draußen etwas. Von rechts kommen zwei Gestalten direkt aus dem Wald, schnell sind sie, laufen quer über die Wiese vor mir.

Das sind keine Menschen, das sind zwei Rehe! Ästhetisch sieht es aus, wie sie mit ihren Körpern abrollen in der Luft, einen Bogen herstellen, der sich mit jedem Sprung auf- und wieder abbaut. Grazil wirkt das, einfach schön zu beobachten. Als die beiden Tiere den Weg erreichen, der mit Holzstäben auf beiden Seiten vom Rest der Wiese abgegrenzt ist, scheint es, als wollten sie sich für die Teilnahme am Riesenslalom bewerben, so springen sie um die Stäbe herum. Vielleicht ist das ein Spiel, so wie auch Kinder es spielen? Ich folge den Rehen, solange ich sie sehen kann. Dann verschwinden sie links in der Fläche hinter einem Hügel. Vielleicht ist heute doch ein besonderer Tag?

Vorgestern waren wir in der Gruppe draußen im Wald, um einige Übungen zu machen. Da hat eine Frau erzählt, sie habe am Vortag zwei Rehe gesehen. Womöglich gar diese beiden. Unser Arzt sagte, Rehe bringen Glück. Der, dem sie sich zeigen, ist etwas Besonderes. Ich sehe häufiger Rehe, im Wildpark Rotmonten in St. Gallen. Aber da sind sie in einem Gehege und zeigen sich nicht mir. Vielmehr zeige ich mich ihnen, ob sie wollen oder nicht. Diese hier sind in der freien Wildbahn vorbeigelaufen, und ich habe sie beobachten dürfen.

Jetzt bin ich ganz auf das Geschehen draußen konzentriert. Was mag als nächstes kommen? Es sind zwei Spaziergänger, die genau dort auftauchen, wo die Rehe ins Nichts verschwunden sind. Ihre Wege müssten sich gekreuzt haben, aber das ist nur die Vermutung einer fernen Beobachterin. Die Menschen gehen schnell. Ich kann nicht viele Details erkennen, sie bewegen sich durch die Landschaft wie zwei dickere kurze Striche, die manchmal hintereinander verschwinden. Im Vergleich zu den Rehen wirken sie plump, so als hätten sie ein viel gröberes Raster der Bewegungsabläufe, als müssten sie zwischen zwei abfolgenden Bewegungsstufen eine viel größere Übersetzung überwinden. Es ist, als würden im Bewegungsapparat der Rehe viele kleine Zahnräder ineinandergreifen, sodass der Beobachter eine stufenlose Bewegungsabfolge sieht. Bei den Menschen müssen es größere Räder sein. Die beiden bleiben stehen. Der rechte scheint etwas mit dem Fuß in den Schnee zu malen, vielleicht schiebt er auch nur seinen Fuß verschämt im Schnee hin und her. Sie scheinen zu diskutieren, dann schubsen sie sich und ziehen sich wieder aneinander heran, vielleicht küssen sie sich auch. Sie verschwinden rechts hinter einem Hügel.

In diesem Augenblick erscheint links wieder ein Mensch, an derselben Stelle, an der zuvor das Paar aus der Landschaft herausgetreten ist. Ich sehe jetzt den Rücken eines Riesen vor mir liegen, die Hügel sind seine Rückenmuskulatur, die nach links in ein riesiges verschneites Hinterteil ausläuft. Die Menschen, die von links kommen, treten aus der Poritze des Riesen in die Welt. Das ist zugegeben ein etwas seltsamer Gedanke. Aber je länger ich in diese Landschaft starre, desto seltsamere Formen sehe ich, und desto wildere Assoziationen kommen auf.

Der Mensch, der gerade dem Hintern des Riesen entstiegen ist, macht schnell vorwärts. Es ist ein Jogger. Da draußen muss es ganz schön glatt sein. Die ganzen vergangenen Tage hat es tagsüber getaut und nachts gefroren. Viele Wege sind vereist und spiegelglatt. Ob er diese speziellen Laufschuhe mit Spikes darunter hat? Jedenfalls kommt er zügig voran. Jetzt sieht es so aus, als würde er in den Boden hineinlaufen. Seine Beine verschwinden, dann sein Unterkörper, dann der Oberkörper, so als hätte jemand an dieser Stelle begonnen, den Weg als abfallenden Schützengraben in die Erde zu treiben. Schließlich macht sein Kopf eine halbe Drehung und läuft wieder zurück. Der Jogger ist den Berg hinab eine Linkskurve gelaufen und verschwindet nun hinter dem Hügel.

Jetzt bin ich doch erstaunt, was ich alles da draußen beobachten kann. Ich muss nur frei sein von alledem, was meine Sinne permanent mit Reizen überflutet, dann nehme ich ganz anders und ganz neue Dinge wahr. So wie bei einer Wahrnehmungsübung vor zwei Tagen. Dabei stehen wir draußen auf der Liegewiese, die im Sommer ein Traum sein muss und von der aus man freien Blick auf den Alpenkamm hat. Und dann konzentrieren wir uns, jeder für sich, nacheinander auf unsere einzelnen Sinne. Erst das Sehen, dann das Hören, dann das Spüren. Das Sehen klappt noch ganz gut. Ich muss etwas blinzeln, weil mir Zwielicht entgegenschlägt aus einer Wolkendecke, die an einigen Stellen so dünn ist, dass die Sonne bald durchkommen wird. Aber ich kann gut sehen und schaue auf die Alpen.

Genau vor mir erhebt sich der Widderstein mit mehr als 2500 Metern. Mit ein wenig Phantasie erinnert er an das Matterhorn, die Spitze leicht abgeknickt, so als neige sich der Berg, weil er sich selbst zu schwer geworden ist. Das Matterhorn liegt ganz woanders. Ich glaube, die Alpen zu sehen, und sehe doch nur die erste Gebirgskette. Ich sehe also etwas Ganzes, das doch nur Teil von etwas viel Größerem ist. Dieses Etwas ist das Ganze, das ich mit meinen Augen – jedenfalls von meinem derzeitigen Standpunkt aus – nicht erfassen, sondern nur durch einen Blick auf eine Karte der Alpen verstehen kann.

«Die Landkarte ist nicht die Landschaft.» («The map is not the territory.»2) Dieser Satz, der in der Erkenntnistheorie den Unterschied zwischen der Bezeichnung und dem Bezeichneten so plastisch auf den Punkt bringt, stimmt hier in doppeltem Sinne. Im erkenntnistheoretischen und sprachwissenschaftlichen Denken steckt im Bezeichneten anderes und mehr, als die Bezeichnung mir signalisieren kann. Hier ist es umgekehrt. Ich könnte auf der Karte sehen, wie sich die Alpen in zahlreichen Ketten durch den Süden Deutschlands ziehen. Nur eine davon vermag ich mit bloßem Auge zu erkennen. Aber sie ist dafür um ein Vielfaches schöner als jede schematische Darstellung, die mir zwar die Geographie und Topographie verdeutlichen, aber niemals die Schönheit eines Berges in der Morgensonne vergegenwärtigen kann.

Und während ich den Berg vor mir anschaue, kann ich beobachten, wie dort hinten in der Ferne tatsächlich die Sonne durch die Wolken bricht. Auf der linken Seite des Gipfels fängt eine riesige Schneefläche an zu blinken und zu glitzern, so als hätte ...

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