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'Natürlich kann geschossen werden'

Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch

AutorMichael Sontheimer
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641041953
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Vierzig Jahre RAF-Syndrom
Die Rote Armee Fraktion ist der schwarze Fleck in der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. 23 Jahre lang führten junge Menschen aus der Mitte der Gesellschaft Krieg gegen den Staat. Michael Sontheimer erzählt eine kurze Geschichte der RAF: Seine Darstellung basiert auf Gesprächen mit ehemaligen Mitgliedern und schildert die neuesten Erkenntnisse über die Verbrechen der Terrorgruppe.

Am 14. Mai 1970 verhalfen ein Mann und vier Frauen - darunter Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof - in West-Berlin mit Waffengewalt dem Strafgefangenen Andreas Baader zur Flucht. Es war die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion. Bis zu ihrem letzten Anschlag im Jahr 1993 versetzte die RAF die Republik immer wieder in Angst und Schrecken. Nach wie vor ist ein großer Teil der RAF-Taten nicht aufgeklärt; weiterhin halten neue Erkenntnisse Justiz, Politik und Gesellschaft in Atem.
Kompakt und spannend erzählt SPIEGEL-Autor Michael Sontheimer die Geschichte der Roten Armee Fraktion, und er versucht zu erklären, warum immer wieder intelligente junge Deutsche einen brutalen Kampf gegen den Staat aufnahmen. Ein Buch für all jene, die sich dem Phänomen RAF zum ersten Mal nähern, aber auch für diejenigen, die glauben, bereits alles über die Terrorgruppe zu wissen.

Michael Sontheimer, geboren 1955 in Freiburg im Breisgau, studierte am Friedrich-Meineke-Institut der Freien Universität Berlin Geschichte und arbeitet seit 1995 als Redakteur des SPIEGEL, zurzeit im Berliner Büro des Nachrichtenmagazins. Er gehörte Ende der siebziger Jahre zu den Gründern der tageszeitung (taz) und war in den achtziger Jahren Redakteur und Autor bei der Zeit in Hamburg. Neben der journalistischen Tagesarbeit hat Sontheimer mehrere Bücher zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen veröffentlicht; bei DVA erschien von ihm zuletzt das SPIEGEL-Buch 'Bilder des Zweiten Weltkriegs' (2005).

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Leseprobe
Es war ein paar Monate nach dem Ende der DDR, als ich bei Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Büro im Hamburger Pressehaus saß. Die Herausgeberin der »Zeit« war damals ehrenamtliche Beirätin des Gefängnisses Fuhlsbüttel. So hatte sie Peter-Jürgen Boock kennengelernt, der in Santa Fu einsaß. Der Mann, der aus der Roten Armee Fraktion (RAF) ausgestiegen war, hatte sie beeindruckt.
Dönhoff hatte sich bei ihrem Freund, dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, für die Begnadigung von Boock eingesetzt. Doch dann stellte sich heraus, dass seine Beteuerungen - »An meinen Händen klebt kein Blut« - nicht der Wahrheit entsprachen. Boock hatte gelogen. Kurz vor dem Untergang der DDR waren dort zehn ehemalige Mitglieder der RAF verhaftet worden. Sie sagten aus, Boock habe bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer auf dessen vier Begleiter mit geschossen. Er legte ein zweites Geständnis ab.
Die Gräfin saß gut gelaunt hinter ihrem Schreibtisch und schlug ihre himmelblauen Augen auf. »Da hat der Boock uns also alle angelogen«, sagte sie. Sie lächelte nachdenklich und fügte noch hinzu: »Aber vielleicht hätte ich das auch so gemacht, an seiner Stelle. Wer weiß?«

Die RAF hat Menschen in existenzielle Situationen gebracht. »Sieg oder Tod« hieß die Parole ihrer Vorbilder, der Guerilleros in Südamerika. Wer Gewalt ausübt, begibt sich in die
Gefahr, durch Gewalt umzukommen. Ulrike Meinhof und andere in Stuttgart-Stammheim inhaftierte Mitglieder der Roten Armee Fraktion schrieben im Herbst 1974: »Wenn es Beerdigungen geben soll - dann auf beiden Seiten.«
Die Spitze der »Baader-Meinhof-Gruppe« tat das Ihre, um recht zu behalten: Es gab Beerdigungen; und es gab sie auf beiden Seiten. Gewalt gebiert Gewalt. Bald zwanzig Jahre sollte es dauern, bis sich sowohl bei der Terrorgruppe als auch bei der Bundesregierung eine ernsthafte Bereitschaft am Ausstieg aus der Spirale tödlicher politischer Gewalt entwickelt hatte.
Die RAF ermordete innerhalb von 22 Jahren 33 Menschen. Aus ihren eigenen Reihen verloren 21 Mitglieder ihr Leben. Polizisten erschossen auf der Suche nach Terroristen fünf Unbeteiligte, deren Tod heute vergessen ist. Nach der Bilanz von Horst Herold, dem einstigen Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), wurden im Krieg der RAF gegen den westdeutschen Staat 230 Menschen verletzt. Der Sachschaden des Feldzuges summierte sich auf 250 Millionen Euro. Um das Leben im Untergrund zu finanzieren, erbeuteten Mitglieder der Terrorgruppe bei mindestens 31 Banküberfällen rund 3,5 Millionen Euro. Die Aufwendungen des Staates für die Terrorbekämpfung lassen sich kaum schätzen; sie betrugen Milliarden von Euro.
Im Rahmen der juristischen Aufarbeitung des Konflikts produzierten Polizisten und Staatsanwälte rund elf Millionen Blatt Ermittlungsakten. Richter verurteilten 517 Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und 914 wegen Unterstützung einer solchen. Doch das heißt nicht, dass alle Morde der RAF aufgeklärt wären. Welches Mitglied der Gruppe, so eine der vielen offenen Fragen, erschoss im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback? Wer ermordete den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer? Wer brachte Alfred Herrhausen um, wer Detlev Karsten Rohwedder? Auch vierzig Jahre nach der ersten Aktion der Gruppe im Mai 1970 ermitteln die obersten Ankläger der Republik gegen einstige Mitglieder der RAF. Aber werden die Bundesanwälte die Wahrheit über die Gruppe und ihre Taten jemals ans Licht bringen können?
Gleichzeitig erscheinen die Jahre, in denen junge Linksradikale an eine weltweite Revolution für Gerechtigkeit und Freiheit glaubten und dem westdeutschen Staat den Krieg erklärten, heute fast so fern und fremd wie der Zweite Weltkrieg. Manche Nachgeborenen sehen Andreas Baader und die Gründer der Gruppe inzwischen als glamouröse, coole Rebellen gegen den globalen Kapitalismus, andere als psychopathische Schwerverbrecher. Es gibt nach wie vor keinen Konsens darüber, warum 25 Jahre nach dem Untergang Nazideutschlands eine Gruppe gebildeter junger Menschen den demokratischen Staat zum faschistischen Monstrum erklärte und ihn mit Gewalt zu beseitigen versuchte.
Dabei ist allerhand geschrieben worden über den »Krieg der 6 gegen 60 Millionen«, wie der Schriftsteller Heinrich Böll den Angriff der RAF nannte. Insgesamt 15 ehemalige deutsche Terroristen haben autobiografische Texte veröffentlicht. Das Leben Ulrike Meinhofs ist in vier Büchern ausgeleuchtet. Die Standardwerke zur Geschichte der RAF haben enzyklopädische Ausmaße angenommen: Stefan Aust schildert die ersten sieben Jahre der Gruppe in vielen Details auf 896 Seiten. Butz Peters erzählt die gesamten 28 Jahre auf 863 Seiten. Willi Winkler braucht dafür auch noch 528 Seiten.
Dieses Buch dagegen ist eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion. Es ist eine Einführung und Zusammenfassung zugleich, denn mit 220 Seiten kann es keine lückenlose Chronik sein. Erzählt werden die wichtigsten Ereignisse; der Schwerpunkt liegt auf den entscheidenden Akteuren. Nur am Rande geschildert wird die Geschichte der Politiker und Polizisten, die gegen die RAF gekämpft haben. Kaum erzählt wird die Geschichte der Opfer. Der Fokus liegt auf denen, ohne die es den blutigen Konflikt nicht gegeben hätte; auf denen, die ihn begonnen haben und von denen viele in ihm zugrunde gingen.
Mühe habe ich auf die grundlegende Aufgabe der Historiker verwendet, die Fakten zu ermitteln und zu überprüfen. Eine entscheidende Hilfe war mir hierbei Bertolt Hunger, der auf die RAF spezialisierte Dokumentar des SPIEGEL. Die schlichte Klärung der Tatsachen ist umso wichtiger, als die etablierten Chronisten der Bundesrepublik die RAF als unerfreuliche Fußnote sehen und ihr wenig Aufmerksamkeit schenken. So schrieb zum Beispiel der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker in seinem preisgekrönten Standardwerk »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, die RAF habe das »Konzept des bolivianischen Revolutionärs Carlos Marighella« angewendet - der in Wirklichkeit Brasilianer war - und »im Sommer 1970« mit Anschlägen begonnen - in Wahrheit tat sie das erst zwei Jahre später, im Mai 1972.
Die meisten Bücher über die RAF kranken an der Einseitigkeit ihrer Quellen: Ihre Autoren stützen sich fast ausschließlich auf Dokumente von Polizei und Justiz, die naturgemäß parteiisch und oft fehlerhaft sind. Bei meinen langjährigen Recherchen über die RAF habe ich hingegen versucht, auch mit möglichst vielen ehemaligen Mitgliedern der Gruppe ins Gespräch zu kommen und ihre Sicht der Ereignisse in Erfahrung zu bringen. Dieser Ansatz ist deshalb schwierig und nur bedingt erfolgreich, weil die Mehrzahl der ehemaligen RAF-Mitglieder prinzipiell nicht mit Journalisten oder Wissenschaftlern spricht. Andere gaben gleichwohl in Hintergrundgesprächen Auskunft.

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