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E-Book

Auch Deutsche unter den Opfern

AutorBenjamin von Stuckrad-Barre
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783462301984
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Deutschland ganz unten, Deutschland ganz oben - und mittendrin: Stuckrad-Barre, mit Stift, Papier und Kamera Im Jahr 2001 brachte er »Deutsches Theater« heraus, den »Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag« (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten. Politik, Kultur, Gesellschaft. Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texten eine Großerzählung, archäologisch blicken wir auf unsere Gegenwart: Das sind die Fragen, Personen und Orte, die uns bewegen - das sind die Bedingungen, unter denen wir leben.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

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Leseprobe
Inhaltsverzeichnis

Diskutieren mit Günter Grass


Es ist ein 2001er Bordeaux »St. Moritz«, der da über Lesepult und Manuskriptseiten tropft, auch der braune Pullunder des Nobelpreisträgers hat etwas abbekommen, und bevor Günter Grass nun den 900 versammelten Göttingern aus seinem Tagebuch des Jahres 1990 vorlesen kann, muss erstmal gewischt werden. »Ein etwas feuchter Anfang«, murmelt Grass. Sein Verleger Gerhard Steidl, der hier von Göttingen aus »die Weltrechte« des Autors vermarktet, räumt das zerbrochene Weinglas ab, Grass hatte es auf die nicht ganz waagerechte Kante des Stehpults gestellt, von wo es langsam heruntergerutscht war. Es riecht also leicht säuerlich, als die Lesung beginnt.

Hinter Grass, auf die Leinwand des großen Hörsaals, ist das Cover seines just veröffentlichten 1990er-Tagebuchs projiziert: »Unterwegs von Deutschland nach Deutschland.« Zwei, natürlich von ihm selbst gezeichnete Heuschrecken, die in entgegengesetzte Richtungen streben, eine gen Westen, die andere gen Osten; wie eben bei Grass üblich: dass der Fall klar ist. Heuschrecken! Kapiert?

»Es muss schon Ungewöhnliches anstehen, das mich in die Pflicht nimmt«, liest Grass nun aus seinen Tagebucheintragungen vom 1. Januar 1990 vor. Selbstkritik oder gar Humor sind keine Fertigkeiten, in denen er sich je besonders hervorgetan hat, und da solche Beweggründe wohl ausscheiden, ist es doch immerhin mutig zu nennen, dass er ausgerechnet die Aufzeichnungen jenes Jahres für seine erste nicht literarisierte Tagebuch-Veröffentlichung ausgesucht hat – in keinem anderen Jahr hat Grass nachweislich größeren Unfug geredet und geschrieben als eben 1990, dem Jahr nach dem Mauerfall, dem Jahr der Wiedervereinigung. »In die Pflicht genommen« heißt also: Er konnte nicht anders. Er musste.

Gleich am 1. Januar macht er sich und dem Leser klar, dass dies kein gewöhnliches Tagebuch sein wird, sondern eine permanente Levitenlese: den Deutschen mal ins Stammbuch schreiben, wo der Hase läuft und der Hammer hängt, und »mich auch in beide Wahlkämpfe (Mai und Dezember) einmischen«.

Ein interessanter und für diese Lesung wegweisender Versprecher gleich zu Beginn: »Als wollte ich mich positiv aufrüsten« steht da im Buch, aber Grass sagt »polit…« statt »positiv«, verbessert sich dann; sowas passiert dem geübtesten Vorleser. Dennoch stimmig, dass gerade Grass »politisch« auch dort sieht, wo es gar nicht steht. Politisch aufrüsten also. Einer muss es tun!

Ein Mitarbeiter des Steidl-Verlags hatte, bevor das Weinglas kippte, ein paar einleitende Worte gesprochen, sehr nervös war er und nuschelte vom Blatt ab, daher war nicht genau zu verstehen, ob er die DDR des Jahresbeginns 1990 als »das künftige Anschlussgebiet« bezeichnete oder als »Einschlussgebiet« oder »Abschussgebiet«, irgendwas in der Art jedenfalls, und er betonte dieses Wort gesondert, nahm Mittel- und Zeigefinger zuhilfe, um drumherum distanzierende Anführungsstriche in die Luft zu winken. Die Ungeheuerlichkeit solch eines derart leicht dahingesagten Begriffs löste keinerlei Widerstand im Publikum aus, es wurde genickt, und man war sich also hier unter schuldbewussten Westdeutschen einig, dass damals einiges schiefgelaufen ist; was genau, würde Grass ja dann gleich erklären. »Für interessante Gedanken ist eine Universität ein guter Ort«, hatte der Verlagsmitarbeiter noch auf die an die Lesung anschließende »Möglichkeit zur Diskussion« hingewiesen.

Stimmt eigentlich, dachte ich mir da, holte »Hamit«, Walter Kempowskis Tagebuch des nun von Grass durchgaloppierten Jahres 1990 aus der Tasche, legte die beiden Bücher nebeneinander auf den Hörsaalklapptisch vor mir und blätterte parallel darin, das versprach interessante Gedanken. Der gebürtige Rostocker Kempowski, der acht Jahre in Bautzen eingesessen hatte, erlebte und beschrieb das Wiedervereinigungsjahr so ganz anders als Grass. Die Teilung Deutschlands hatte er über Jahrzehnte – verdrossen zwar, aber unermüdlich – als widernatürlich bezeichnet, die Einheit herbeigesehnt; das ward nicht gern gesehen, das galt als nationalistisch und igitt. Anders als Grass war Kempowski Gewohnheits-Diarist, es musste nichts »Ungewöhnliches anstehen«, das ihn »in die Pflicht nahm«, und schon deshalb sind seine Tagebücher literarisch dem Grass’schen Gedröhne weit überlegen. Zeitlebens hat es Kempowski geschmerzt, dass er von tongebenden Zirkeln gemieden, ja diffamiert wurde, doch für sein Schreiben muss man diese Randstellung heute, im direkten Vergleich mit Grass, wohl als Glück bezeichnen. Im Januar 1990 plant Kempowski Ausflüge in seine alte, nun endlich wieder problemlos erreichbare Heimat, während Grass im selben Monat darlegt, wie er sich ins Rad der Geschichte zu werfen gedenkt, jederzeit überzeugt, ohne sein Gemahne werde alles ein schlimmes Ende nehmen, Großdeutschland und Weltuntergang inklusive. Bei Kempowski mischen sich Freude und Angst, selbst eine Fahrt nach Bautzen will er sich zumuten, und die Aufzeichnungen dieser Gedanken und Erlebnisse sind logischerweise viel bedeutender als das Grundsatzthesen-Gestammel von Grass, der immer gleich alles zu durchschauen glaubt, durch nichts zu überraschen oder zu überwältigen ist, nein, er – wenigstens er! – ist das unverzichtbare Korrektiv des Weltenlaufs.

»Will versuchen, in der Frankfurter Rede das angebliche Recht auf deutsche Einheit im Sinne von wiedervereinigter Staatlichkeit an Auschwitz scheitern zu lassen«, liest Grass nun den Göttingern seine staatsmännischen Größenwahnvorstellungen vom 2. Januar 1990 vor. Niemand im Saal lacht darüber, nein, das ist ernst gemeint und wird ernst genommen. Gelacht wird bei Wörtern wie »Literaturquartett«, »Kotzen«, »Heidepark« oder »Schirrmacher«, man ist sehr selbstgewiss in diesem Saal, man ist im Bilde und weiß Bescheid.

»Aber die Blechtrommel«, wird einem immer entgegengehalten, wenn man sich kritisch zu Werk oder Person Grassens äußert. Schön und gut, aber die letzten Grass-Bücher, sind die gut geschrieben? Sind die interessant? War seine Empörung über die Diskussionen, die das Bekenntnis zu seiner früheren Mitgliedschaft in der Waffen-SS auslöste, nicht einfach nur verlogen und widerlich?

Nein, nein: ein kleiner Nebensatz in Roman und Interview, derart ausgeschlachtet! Kampagne! Natürlich.

Davon abgesehen: Steht nimmermüdes Eingemische und Politgedröhne einem Schriftsteller wirklich gut? Ist die Beachtung gerechtfertigt, die jeder wie geistesschlicht auch immer formulierten Weltgeschehenskommentierung aus dem Hause Grass zuteilwird?

»Schrieb gestern noch rasch und konzentriert zwei Seiten, um sie an Augstein zu schicken, der mir versprach, für den Abdruck zu sorgen.«

Aber: Die Blechtrommel. Ja ja, schon gut.

Grass steht da vorn als rotweinbesprenkelte Karikatur eines politischen Schriftstellers. Politisch ist, wenn möglichst konkret über Politik geredet wird, je mehr, desto besser. Im Auditorium lauter nickende Köpfe: Gut, dass wir unseren Großgünter haben, wir Deutschen sind ein gefährliches, von Ganoven regiertes Volk, es steht nach wie vor schlimm um unser Land – nicht auszudenken, was erst geworden wäre, wenn wir Grass nicht gehabt hätten.

Und es ist ihm wohl nachzusehen, dass das verlässlich große Echo auf all seine stets hochwichtigen Debattenbeiträge, Großpodiumsverlautbarungen und all die »Streitgespräche« mit Augstein, Brandt und wem immer zwangsläufig dazu führen musste, dass er sich ganz selbstverständlich für das Nationsgewissen hält – wer so viel Gehör bekommt, wird taub für die eigenen Fehler und Irrtümer; wer derart im Licht steht, wird blind.

Den vorgetragenen Tagebuchpassagen zufolge war die entscheidende Frage des Jahres 1990, ob Günter Grass seine SPD-Mitgliedschaft würde aufrechterhalten können oder nicht.

»In die Suppe spucken« möchte Grass mit diesem Buch, und zwar allen Wiedervereinigungs-Festrednern, das hat er in den letzten Wochen immer wieder gesagt, und er sagt es auch an diesem Abend. Dass derart notorisches Ein- und Mitmischen, wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hat, eine Grundzutat jener gemeinten Suppe ist, fällt ihm offenbar nicht mehr auf.

Bisschen blättern im Kempowski: »An Grass trauen sie sich nicht ran. Der große Rauner faselt von Auschwitz, dass uns die Ermordung der Juden verpflichte, die Teilung aufrechtzuerhalten. (…) Was die Teilung Deutschlands mit Auschwitz zu tun hat, kann einem niemand erklären. Die schreien einen gleich an, wenn man danach fragt.« Dazu kommt es dann: Nach 90 Minuten Tagebuch- und Levitenlese soll diskutiert werden. Da sich zunächst niemand meldet, nehme ich mein Kempowski-Buch als Muthalt in die Hand, erbitte das Mikrophon und spucke also in die Suppe. Ich habe darin nicht so viel Übung wie Günter Grass, daher bin ich nervös und kann mich natürlich nicht an den Wortlaut meiner »Einmischung« erinnern. Sagen jedenfalls wollte ich:

Es ist läppisch, was wir hier über das Jahr 1990 gehört haben, verglichen mit Kempowskis Tagebuch desselben Jahres. Mich macht es zornig, wie Kempowski abgetan wurde als rechter Spinner, auch und gerade von Grass. Es ist ein Skandal, dass in unserem Deutschunterricht vor lauter Grass und Christa Wolf nie Platz für Kempowski war. Kempowskis Tagebücher sind so viel besser geschrieben als dieses von Grass, und sie enthalten viel Mutigeres und Interessanteres zur Wiedervereinigung, und man kann nur staunen, wie diametral zur literarischen Bedeutung die Aufmerksamkeit in Deutschland verteilt wurde. Und es ist doch einigermaßen verwunderlich, dass Kempowski zeitlebens vergeblich darauf warten musste, seine Jahre im...

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