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E-Book

Ist das Gehirn der Geist?

Grundfragen der Neurophilosophie

AutorChristine Grünhut, Felix Tretter
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783840922763
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Die Hirnforschung, genauer gesagt die Neurobiologie, hat in den letzten Jahren die Behauptung aufgestellt, dass der Geist nichts anderes sei als das Gehirn. Medial sehr wirksam, werden Resultate aus dem Gebiet der Hirnforschung referiert, die zeigen sollen, dass der Mensch und sein Verhalten letztlich nur durch sein Gehirn bestimmt sei und Begriffe wie der «Geist», das «Bewusstsein», das «Ich» und der «freie Wille» nur Fehlkonstrukte unserer Kultur seien. Die Autoren zeigen auf, dass die häufige Nichtbeachtung technisch-methodologischer Probleme der Hirnforschung und die Überinterpretation der experimentellen Befunde sowie die mangelnde Beachtung von Erkenntnissen der Psychologie problematisch sind, da sie unser Menschenbild durch den Reduktionismus massiv beeinflussen. Der Band stellt historische Bezüge zum Leib-Seele-Problem her und liefert einen Überblick über philosophische, psychologische, neurobiologische und systemtheoretische Ansätze zu einem der ältesten Fragekomplexe, der von Philosophen schon seit zwei Jahrtausenden behandelt wird. Ziel ist es, die Dringlichkeit der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen im Sinne einer «Neurophilosophie» herauszuarbeiten, sodass gewonnene Teilerkenntnisse tatsächlich zum Nutzen des Menschen eingesetzt werden können, u. a. im Bereich der Politik, Gesellschaft und Justiz.

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Kapitelübersicht
  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Vorwort
  3. 1 Einleitung – Grundfragen des Gehirn-Geist-Problems
  4. 2 Philosophie – Grundaspekte, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie
  5. 3 Philosophie des Geistes – Konzepte und methodologische Probleme
  6. 4 Psychologie – Die Erforschung der Seele
  7. 5 Die Neurobiologie – Die Erforschung des Gehirns
  8. 6 Informatik und die Systemwissenschaft
  9. 7 Freier Wille
  10. 8 Ausblick – Perspektiven einer interdisziplinären „Neurophilosophie“
  11. 9 Zusammenfassung
  12. Literatur
  13. Stichwortverzeichnis
Leseprobe
"8 Ausblick – Perspektiven einer interdisziplinären „Neurophilosophie“ (S. 231-232)

8.1 Vorläufiges Fazit – Der Homo neurobiologicus ist eine Fiktion

Die experimentelle Hirnforschung beschreibt also letztlich den Menschen als eine determinierte biomolekulare Maschine (Homo neurobiologicus, Roth, 2003, S. 560). Stützt man sich auf die in diesem Buch dargestellten Fragestellungen, die in einer Tabelle noch kurz zusammengefasst werden (vgl. Tabelle 3), dann ist zur Frage des Gehirn-Geist-Problems festzustellen, dass der Homo neurobiologicus als ein überzeugendes Menschenbild allein aus Sicht der Neurobiologie zumindest derzeit nicht vertreten werden kann – entweder ist es zu allgemein formuliert, oder es ist zu komplex, um die Konsistenz der Argumente überprüfen zu können. Letztlich ist auch die multidisziplinäre Qualitätsprüfung des betreffenden Konzepts offen. Derzeit erscheint es als nicht gerechtfertigt, den Konzepten der Neurobiologen in Hinblick auf ein neues Menschenbild zu folgen.

Das Bild des Homo neurobiologicus steht im Gegensatz zu dem integralen und doch mehrdimensional-vielschichtigen „bio-psycho-sozialen“ Menschenbild, das beispielsweise die Psychiatrie präferiert. Seit den grundlegenden Konzepten von Gehlen, Gadamer und Vogler und den psychiatrischen Arbeiten von Schipperges, Kisker, Lauter, Bochnik oder Emrich zeigen sich in der Medizin bzw. Psychiatrie im Bereich der Philosophie und Anthropologie allerdings nur wenige Weiterentwicklungen (vgl. Blankenburg, 1983; Schmidt-Degenhard, 2003).

Es ist daher an der Zeit, dass auch die psychologischen Fächer der Medizin wieder intensiv darstellen, dass das (auch leibliche) personale Selbst den individuellen Menschen ausmacht (Fuchs, 2000), dass „Menschen nicht Gehirne ohne Körper sind“ und dass sie in eine Umwelt eingebettet sind („Ökologie des Gehirns“, Fuchs, 2005; „Ökologie der Person“, Tretter, 2008).

Der dieser ganzheitsorientierten Sichtweise entgegenlaufende Trend zum Reduktionismus und dem Isolieren des zu untersuchenden Phänomens, wie er auch von der Hirnforschung praktiziert wird, spiegelt sich auch darin, dass die traditionelle Diskussion des Leib-Seele-Problems sich heute zunehmend nur mehr als Gehirn-Geist- Debatte darstellt. Dieser Diskurs findet auch hauptsächlich nur zwischen Hirnforschung und Philosophie statt. Durch die massenmedial sensationell dargestellten Befunde der Gehirnforschung wird dabei auch in der Öffentlichkeit ein großes Interesse ausgelöst.

Durch den, im Vergleich zu Philosophie, scheinbar privilegierten Zugang der Hirnforschung zum Geistigen kann das klassische Leib-Seele-Thema auf die Gehirn-Geist-Debatte komprimiert werden, so als gäbe es bereits Gehirne ohne Körper. Die Hirnforschung hat damit die Philosophie ein wenig überrollt, und erst allmählich scheinen sich die Positionen wieder eigenständiger und wirksamer zu artikulieren (Bennet & Hacker, 2006; Sturma, 2006; Janich, 2009).

Um diese Diskussion zu intensivieren und konstruktiver zu gestalten, sind allerdings einige institutionelle Veränderungen vor allem in der Philosophie sinnvoll, wenngleich in vielerlei Hinsicht nur eine Aktualisierung klassischer Arbeitsansätze erforderlich erscheint. Vor allem aufgrund der Entwicklung der Wissenschaften, wie insbesondere der Psychologie und Systemforschung und selbstverständlich der Neurobiologie, scheint es nämlich sinnvoll zu sein, ein eigenes inter- und transdisziplinär fundiertes Gebiet einer „Neurophilosophie“ zu etablieren."
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis8
Vorwort6
1 Einleitung – Grundfragen des Gehirn-Geist-Problems12
1.1 Das Wissen und die Wissenschaften vom Materiellen und dem Geistigen12
1.1.1 Vom Leib-Seele-Problem zum Gehirn-Geist-Problem13
1.2 Die Philosophie und ihre Kompetenzen14
1.2.1 Philosophie des Geistes und die Dimensionen der Gehirn-Geist-Debatte14
1.2.2 Perspektiven einer interdisziplinären „Neurophilosophie“22
1.3 Das Subjekt und die „Psycho-Wissenschaften“24
1.4 Die Neurobiologie und der naturwissenschaftliche Reduktionismus25
1.5 Das Gehirn als Mehr-Ebenen-System27
1.6 Informatik, Systemwissenschaft und andere „theoretische“ Fächer28
1.6.1 Das Gehirn als komplexes dynamisches Mehr-Ebenen-Netzwerk von Nervenzellen29
1.7 Fazit30
2 Philosophie – Grundaspekte, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie32
2.1 Allgemeines zur Philosophie32
2.2 Erkenntnistheorie und Methodologie wissenschaftlicher Erkenntnis34
2.2.1 Erkenntnistheorie – Wie ist Erkennen möglich?35
2.2.2 Kritischer Rationalismus und Konstruktivismus – Theorie der Empirie35
2.3 Allgemeine Wissenschaftsphilosophie – Struktur des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses38
2.3.1 „Wissenschaft“ – Institutionalisierung von Skepsis?39
2.3.2 Reduktion der „weichen“ Wissenschaften auf die harten Wissenschaften39
2.3.3 Der Zyklus der wissenschaftlichen Erkenntnis41
2.3.4 Der wissenschaftliche Erkenntniszyklus – Das Beispiel Neuropsychiatrie43
2.3.5 Die Top-down-Analyse – Reduktion des Komplexen auf das Einfache45
2.3.6 Die Bottom-up-Erklärungen – Vom Elementaren zur Vielfalt46
2.3.7 Grenzen der Naturwissenschaften49
2.3.8 Kausalität – Konditionalismus, Determinismus oder Probabilismus49
2.3.9 „Multikonditionalität“ – Eine Ursache kommt selten allein51
2.3.10 Determination – „Bedingung“ oder „Bestimmung“51
2.3.11 Anfangsbedingungen eines Prozesses – Identisch, äquivalent oder ähnlich?54
2.3.12 Unbestimmtheitsrelation – Ort oder Impuls56
2.3.13 Mikro-Makro-Ebene – Die Diktatur der Moleküle?56
2.3.14 Emergenz – Die Entstehung von Neuem57
2.3.15 Erklärung und Prognose – Hinterher ist man immer klüger58
2.3.16 Indeterminismus, Zufall und Chaos – Unbestimmtheit59
2.3.17 Zufall – Determination mit Unbekannten?61
2.3.18 Fazit – Der Determinismus ist begrenzt62
3 Philosophie des Geistes – Konzepte und methodologische Probleme64
3.1 Ideengeschichte – Vom Leib-Seele-Problem zum Gehirn-Geist-Problem65
3.1.1 Frühgeschichte65
3.1.2 Antike (600 v. Chr. bis 300 n. Chr.)65
3.1.3 Aufklärung67
3.1.4 Das 20. Jahrhundert69
3.1.5 Aktuelle Diskussion69
3.2 Philosophie des Geistes – Grundfragen70
3.2.1 Fragen zum „Wesen“ von Gehirn und Geist (I)70
3.2.2 Fragen zur „Beziehung“ zwischen Gehirn und Geist (II )78
3.2.3 Bestimmungsmethoden der Beziehungen zwischen Gehirn und Geist (III)94
3.2.4 Die Wirkungsbeziehungen zwischen Gehirn und Geist (IV)95
3.3 Wissenschaftsphilosophische Aspekte der Gehirn-Geist-Debatte106
3.3.1 Die Vielfalt der Fachperspektiven und das Problem der Methodenintegration106
3.3.2 Das Problem interdisziplinärer Sprache und Kommunikation107
3.3.3 Die Sprache und Logik der Hirnforschung109
3.4 Perspektiven der „Neurophilosophie“112
3.5 Fazit113
4 Psychologie – Die Erforschung der Seele115
4.1 Definition des Psychischen als Gegenstand der Psychologie115
4.2 Historische Aspekte116
4.3 Methodische Positionen117
4.4 Begriffe und Konzepte der Psychologie121
4.5 Schichtenmodell des Psychischen123
4.6 Zentrale Begriffe der Phänomenologie128
4.7 Ökologie der Person140
4.8 Systemische Konzeption des Psychischen141
4.9 Fazit zur Psychologie – Auf dem Weg zur systemischen Perspektive145
5 Die Neurobiologie – Die Erforschung des Gehirns146
5.1 Grundzüge der Neurobiologie146
5.1.1 Der Top-down-Forschungsansatz der experimentellen Neurobiologie151
5.1.2 Die Bottom-up-Erklärungsstrategie der Systembiologie152
6 Informatik und die Systemwissenschaft170
6.1 Informatik170
6.2 Systemwissenschaft171
6.3 Modellvorstellungen – Künstliche neuronale Netze174
6.4 Das Komplexitätsproblem – Wie ist der Überblick möglich?179
6.5 Dynamik durch Selbstorganisation183
6.6 Modellierung der Arbeitsgedächtnisfunktion und ihrer Störungen bei Schizophrenie186
6.7 „Neurochemisches Mobile“ – Das Gehirn als integriertes neurochemisches Netzwerk189
6.8 Fazit195
7 Freier Wille196
7.1 Das Grundkonstrukt des freien Willens197
7.2 Neurobiologie – Die Negation der „Freiheit“ des Willens200
7.3 Die neurobiologischen Experimente von Libet201
7.4 Psychologie des Willens205
7.5 Philosophische Aspekte des freien Willens217
7.5.1 Historische Aspekte217
7.5.2 Das prinzipielle Determinismus-Indeterminismus-Problem218
7.5.3 Aktuelle philosophische Konzepte221
7.6 Willenshandlungen aus systemischer Sicht223
7.7 Ökologische Perspektive229
7.8 Fazit230
8 Ausblick – Perspektiven einer interdisziplinären „Neurophilosophie“232
8.1 Vorläufiges Fazit – Der Homo neurobiologicus ist eine Fiktion232
8.2 Konturen einer interdisziplinären Neurophilosophie235
8.3 Perspektiven238
9 Zusammenfassung239
Literatur242
Stichwortverzeichnis258

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