Das Tempo der industriellen Entwicklung
"Die einzige materielle Grundlage für den Sozialismus," sagt Lenin, "ist eine ausgedehnte Maschinenindustrie, die imstande ist, den Ackerbau neu zu gestalten."
Die Grundbedingung für eine sozialistische Entwicklung auf der gegenwärtigen, vorbereitenden Stufe und in der nun einmal vorliegenden geschichtlichen Situation – einer Umschließung durch kapitalistische Staaten und einer Verlangsamung der Weltrevolution – ist ein genügend schnelles Tempo der Industrialisierung, um in naher Zukunft die Lösung wenigstens der folgenden Probleme zu sichern:
- Die materielle Lage des Proletariats muß absolut und relativ gebessert werden (Vergrößerung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, Herabsetzung der Zahl der Arbeitslosen, Verbesserung der materiellen Lage der arbeitenden Klasse und besonders eine den sanitären Anforderungen genügende Vergrößerung ihres Wohnraumes).
- Die Arbeit in der Industrie, im Transportwesen und auf den elektrischen Stationen muß zum mindesten im gleichen Maße mit den Bedürfnissen und den Hilfsquellen des ganzen Landes wachsen.
- Die Landwirtschaft muß die Möglichkeit finden, allmählich zu einer höheren technischen Grundlage überzugehen und der Industrie einen wachsenden Zustrom von Rohmaterial zu sichern.
- In der Entwicklung der produktiven Kräfte, in der Technik und in der Verbesserung der materiellen Bedingungen der Arbeiterklasse und der gedrückten Massen muß die Sowjetunion nicht mehr länger hinter den kapitalistischen Ländern zurückbleiben, sondern sie in naher Zukunft überflügeln.
- Industrialisierung muß genügend stark sein, um die Verteidigung des Landes und besonders ein entsprechendes Wachsen der Kriegsindustrien zu garantieren.
- Die sozialistischen, staatlichen und genossenschaftlichen Elemente müssen geflissentlich vermehrt werden, um vorsozialistische wirtschaftliche Elemente hinauszudrängen, andere zu unterwerfen oder umzuformen (die Kapitalisten und Vorkapitalisten).
Trotz unseres beträchtlichen Erfolges auf den Gebieten der Industrie, des Transports und der Elektrisierung ist die Entwicklung unserer Industrie noch weit von dem entfernt, was notwendig und möglich ist. Das augenblickliche Tempo der Industrialisierung und das für die kommenden Jahre angegebene Tempo sind offensichtlich einander nicht entsprechend.
Es gibt keine Politik, und es kann natürlich keine geben, die alle unsere Schwierigkeiten auf einen Schlag beseitigt, oder es uns gestattet, eine längere Periode planmäßiger Entwicklung unserer Industrie und Kultur zu überspringen. Aber gerade unsere Rückständigkeit in Industrie und Kultur verlangt eine außergewöhnliche Anspannung von Kräften und Mitteln, eine wirkliche und rechtzeitige Flüssigmachung unseres gesamten Wohlstandes, um das Land so schnell wie möglich zu industrialisieren. Das chronische Zurückbleiben der Industrie und ebenso des Transportwesens, der Elektrisierung und des Bauwesens hinter den Anforderungen und Bedürfnissen der Bevölkerung hält den ganzen Geschäftskreislauf des Landes wie in einem Schraubstock fest. Es beschneidet eine wirksame Gütererzeugung in der Landwirtschaft und ihren Export. Es beschränkt den Import auf sehr enge Grenzen, treibt Preise und Kosten der Produktion empor, verursacht die Schwankungen unseres Geldes und verlangsamt die Entwicklung der produktiven Kräfte. Es hält alle Verbesserung der materiellen Lage des Proletariats und der bäuerlichen Massen auf, führt zu einem beunruhigenden Anwachsen der Arbeitslosen und zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen. Es untergräbt die Einheit von Industrie und Landwirtschaft und schwächt die Verteidigungsfähigkeit des Landes.
Das unzulängliche Entwicklungstempo der Industrie führt auch wieder zu einer Verlangsamung der landwirtschaftlichen Entwicklung. Zu gleicher Zeit ist aber keine Industrialisierung möglich ohne ein entschiedenes Anwachsen der produktiven Kräfte der Landwirtschaft und der Quantität ihrer Gütererzeugung.
Die notwendige Beschleunigung des Industrieaufbaus ist unmöglich ohne eine planmäßige und entschlossene Herabsetzung der Produktionskosten und der Groß- und Kleinhandelspreise der Industrieerzeugnisse und ohne ihre Angleichung an die Weltmarktpreise. Nur hierdurch kann eine wirkliche Entwicklung unserer Arbeit zu einer höheren technischen Basis und eine bessere Befriedigung der Bedürfnisse der arbeitenden Masse herbeigeführt werden.
Es ist Zeit, endlich dem sinnlosen und unanständigen Geschwätz, die Opposition wolle die Preise erhöhen, ein Ende zu machen. Die Partei ist völlig einmütig in dem Wunsche, die Preise zu erniedrigen. Aber der Wunsch allein genügt nicht. Politik muß nicht nach der Absicht, sondern nach dem Ergebnis beurteilt werden. Das Ergebnis unseres augenblicklichen Bemühens um eine Senkung der Preise hat selbst prominente Mitglieder der herrschenden Gruppe dazu gebracht, die Frage zu erheben: Verlieren wir mit dieser Politik nicht große Geldsummen? "Wohin ist die Billion gegangen?" fragte Bucharin im Januar dieses Jahres. "Was geschieht mit der Differenz zwischen Groß- und Kleinhandelspreisen?" erkundigte sich Rudzutak, der nach ihm über das gleiche Thema sprach. Mit einem chronischen Warenmangel, mit einer vorübergehenden und ungeschickt bureaukratischen Senkung der Engrospreise, die in der Mehrzahl der Fälle gar nicht bis zum Arbeiter und Bauern hinabdringt, verbindet sich ein Verlust von Hunderten von Millionen Rubeln für die Staatsindustrie. Der daraus folgende Unterschied zwischen Groß- und Kleinhandelspreisen ist, besonders im Privathandel, so gewaltig, daß er durchaus zu dem Plane berechtigt, einen Teil dieses Handelsgewinnes in den Händen der Staatsindustrie zurückzuhalten. Die unabweisliche Schlußfolgerung aus dem ganzen wirtschaftlichen Experiment der vergangenen Jahre ist die Forderung einer schnelleren Beseitigung dieser Mißverhältnisse, eine Vergrößerung der Menge der Industriewaren, eine Beschleunigung des Tempos der industriellen Entwicklung. Dies ist der einzige Weg zu einer wirklichen Senkung der Groß- und Kleinhandelspreise und vor allem zu einer Senkung der Produktionskosten, welche, wenigstens im letzten Jahre, eher eine Neigung nach oben als nach unten gezeigt haben.
Die Frage des Fünfjahresplans der Entwicklung der öffentlichen Wirtschaft, der dem kommenden fünfzehnten Parteikongreß vorliegt, sollte wirklich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Partei stehen. Dieser Fünfjahresplan ist bis jetzt nicht offiziell anerkannt und wird auch schwerlich in der gegenwärtigen Form anerkannt werden. Trotzdem gibt er einen gründlichen Ausblick auf die Ideen unserer jetzigen wirtschaftlichen Führer.
Die Kapitalanlagen in der Industrie werden nach diesem Plan in den nächsten Jahren nur wenig anwachsen (von 1142 Millionen im nächsten Jahr auf 1205 Millionen im Jahre 1931). Und im Verhältnis zu der gesamten in der nationalen Wirtschaft angelegten Summe werden sie von 36,4 Prozent auf 27,8 Prozent sinken. Die reinen Geldeinlagen in der Industrie des Staatshaushalts werden nach diesem Programm in den genannten Jahren von annähernd 200 Millionen auf 90 Millionen sinken. Von der Produktion wird angenommen, daß sie mit jedem Jahr um 4–9 Prozent über das vorhergehende Jahr ansteigt – ein Tempo des Anwachsens, wie es in kapitalistischen Ländern nur in Perioden starken Aufstiegs vorkommt. Die ungeheuern Vorteile, die in der Verstaatlichung des Bodens, der Produktionsmittel, der Banken und der zentralen Verwaltungsorgane liegen – also die ganzen aus der sozialistischen Revolution entspringenden Vorteile – finden im Fünfjahresplan kaum einen Ausdruck.
Der private Verbrauch von Industriegütern, der augenblicklich ganz armselig ist, soll während der fünf Jahre insgesamt nur um 12 Prozent steigen. Der Verbrauch von Baumwollfabrikaten, der im Jahre 1931 97 Prozent des Vorkriegsbetrages erreichen soll, wird dann noch fünfmal geringer als der Verbrauch in den Vereinigten Staaten im Jahre 1923 sein. Der Verbrauch in Kohlen wird siebenmal kleiner sein als der deutsche im Jahre 1926 und siebzehnmal kleiner als der in den Vereinigten Staaten im Jahre 1923 sein. Der Verbrauch in Roheisen wird über viermal kleiner sein als der in Deutschland und elfundeinhalbmal kleiner als der in den Vereinigten Staaten. Die Herstellung von elektrischer Energie wird dreimal geringer als in Deutschland, siebenmal geringer als in den Vereinigten Staaten sein. Der Verbrauch an Papier wird am Ende der fünf Jahre 83 Prozent des Vorkriegsbestandes betragen. Alles dieses fünfzehn Jahre nach der Oktoberrevolution! Am Jahrestag der Oktoberrevolution einen solchen armseligen, durch und durch pessimistischen Plan einzubringen, das heißt wirklich gegen den Sozialismus arbeiten. Die durch den Fünfjahresplan vorgesehene Senkung der Kleinpreise um 17 Prozent wird, selbst wenn man sie durchsetzt, kaum einen Einfluß auf das Verhältnis unserer Preise und der Weltpreise haben, die zweiundeinhalb- bis dreimal geringer sind als die unsrigen.
Aber selbst bei dieser unbeträchtlichen Preissenkung (die dazu bis jetzt nur ein Projekt ist)...