Zweiter Teil
Für einen humanistischen Islam
„O Wunder! Ein Garten inmitten der Flammen.
Mein Herz ist offen geworden für alle Formen: Es ist eine Weide für die Gazellen und ein Kloster für christliche Mönche, und ein Tempel für Götterbilder und die Kaaba des Pilgers, und die Tafeln der Tora und das Buch des Korans.
Ich folge der Religion der Liebe: Welchen Weg die Kamele der Liebe auch nehmen, er ist meine Religion und mein Glaube.“
Ibn Arabi (1165–1240), Tardschuman al-aschwaq
Fünftes Kapitel
Warum brauchen wir einen humanistischen Islam?
Dieser Entscheidung, Muslimin zu bleiben, liegt dieselbe Annahme zugrunde, auf die ich auch meine Argumentation für einen humanistischen Islam stütze: Alle Religionen sind Veränderungen unterworfen. Menschen haben sich die Religionen angeeignet und sie umgewandelt, und alle Religionen müssen oder mussten reformiert werden – manche mehr als andere.
Kennen Sie eine Religion, die von ihrem Anbeginn an eine klare Vision von den Menschenrechten hatte, wie wir sie heute verstehen? Ich nicht. Kennen Sie eine Religion, die von Anbeginn an Frauen gleichberechtigt behandelte oder gleiche Rechte für beide Geschlechter innerhalb der Familie forderte? Alle Religionen strebten, was die familiären Belange anging, eine Art der Beziehung an, in der die Ehefrau dem Ehemann zu gehorchen hatte. Und das gilt für den Islam, das Christentum, das Judentum und den Hinduismus. Die Liste ließe sich ergänzen.
Ich habe hier nicht die Absicht, mit dem Finger auf andere Religionen zu zeigen. Ich stelle nur eines fest: Das Ziel der Religionen – jeder einzelnen Religion – war stets einfach: eine Vision zu bieten, wie man sich Gott in einem ganz bestimmten historischen Augenblick nähern konnte. Die Menschenrechte, wie wir sie heute verstehen, waren nicht ihr Anliegen, obwohl jede Religion ihr Bestes versuchte, um den Benachteiligten das Leben zu erleichtern. Letztlich wäre es merkwürdig, zu erwarten, dass die Religionen bereits in der Zeit ihrer Entstehung jene klare Vision von Menschlichkeit boten, die erst Mitte des 20. Jahrhunderts vollständig entwickelt wurde.
Diese Auffassung von Religion machte mir klar, dass viele der Fragen, die ich mir über meine eigene Religion stellte, auch für andere Religionen galten – wiederum für manche mehr als für andere. Und wenn das der Fall war, warum sollte ich dann zu einer anderen Religion konvertieren? Arbeite an dem, was du hast, nimm nicht hin, was deinen Sinn für Humanität oder Würde verletzt, und denke differenziert. Das war meine Schlussfolgerung.
Ein humanistischer Islam basiert auf der Annahme, dass jede Religion von den Menschen geprägt wird, die sich ihre Lehren angeeignet und sie verbreitet haben; und als solche spiegelt sie die Überzeugungen, Traditionen und das Weltbild dieser Menschen wider, und – was am wichtigsten ist – sie spiegelt die historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Gesellschaft wider, der sie entstammte.
Das sollte keinesfalls vergessen werden, wenn wir eine Reform des Islam in Angriff nehmen wollen. Denn vieles von dem, was wir als Bestandteil der islamischen Lehren betrachten, ist von der Geschichte geprägt. Ein gutes Beispiel ist die beharrliche Behauptung der Islamisten, eine wahrhaft muslimische Gesellschaft solle körperliche Bestrafungen durchführen, zum Beispiel einem Dieb die Hand abschneiden. In Wahrheit spiegeln solche Strafen lediglich die Auffassungen von Strafe wider, wie sie im 7. Jahrhundert nach Chr. üblich waren. Sie sind weder heilig noch göttlich, sondern Mittel zur Bestrafung, die vor vierzehn Jahrhunderten zum Einsatz kamen. Und so wie wir keine Kamele mehr benutzen, um von einem Land zum anderen zu reisen, sondern Flugzeuge und Autos, können wir uns von solchen Auffassungen lösen, indem wir konstatieren, dass es grausam ist, einem Dieb die Hand abzuschneiden. Und ganz sicher wird es Menschen nicht davon abhalten, erneut zu stehlen. Eine Gefängnisstrafe und anschließende Resozialisierung gelten heute als geeignete und moderne Mittel der Bestrafung.
Aus demselben Grund hebt man bei dieser Herangehensweise an den Islam hervor, dass religiöse Lehren in ihrer Umsetzung stets den historischen Zeitpunkt reflektieren, an dem die jeweilige Gesellschaft stand. Die Tatsache, dass die Steinigung zur jüdischen Tradition gehört, war für den Staat Israel kein Grund, sie als legitimes Bestrafungsmittel in sein Rechtssystem aufzunehmen. Saudi-Arabien und der Iran hingegen haben genau dies getan, trotz der Tatsache, dass diese Art körperlicher Bestrafung im Koran an keiner Stelle erwähnt wird.
Wenn ich hier auf das Menschliche in den Religionen zu sprechen komme, so will ich damit nicht ihre himmlische oder göttliche Natur in Abrede stellen. Eine Religion hat einen Kern – nennen wir ihn das Herzstück –, der bestrebt ist, die Wirklichkeit zum Besseren zu verändern, was bedeutet, dass er im Wesentlichen darum bemüht ist, eine gerechte Welt für die Menschen zu schaffen. Überdies ermöglicht er den Menschen, mit Gott – wie sie ihn begreifen – in Verbindung zu treten. Tatsächlich ermöglicht er uns, mit dem Gott in uns selbst in Verbindung zu treten. Es ist dieses Herzstück, das ich als göttlich erachte. Es ist dieses Herzstück, das eine Botschaft in sich trägt, die die Zeiten überdauert.
Der Ursprung dieses Kerns wird unterschiedlich gedeutet. Aber ob er die göttliche Offenbarung eines höheren Wesens ist, also eine Inspiration, oder der Intuition eines Philosophen entstammt – Tatsache ist, dass dieser Kern stets nach dem Guten strebt. Sein Ziel besteht nicht darin, den Menschen mit seinen Lehren zu ersticken, sondern vielmehr, dazu beizutragen, dass diese Welt zu einem besseren Ort zu leben wird. Ziel ist also das Wohlergehen des Menschen.
Gemäß dieser Auffassung ist Religion wie ein Samen: Nachdem man ihn in die Erde gepflanzt hat, sollte man ihn wässern, nähren und sorgsam pflegen, damit er wächst und zu einem blühenden Baum wird.
Es ist sinnvoll, für die Religion dieses Bild eines Baumes zu verwenden. Denn die Art und Weise, wie der Islam heute praktiziert wird, vermittelt den Eindruck, dass Religion in Stein gemeißelt wurde – einen Stein, der weder angerührt noch verändert werden darf. Ich betone, dass man nur dann den Weg für eine Reform des Islam ebnen kann, wenn man die Religion als etwas Organisches betrachtet, als etwas, das wachsen und gedeihen kann.
Ich habe immer wieder den Ausdruck „Reform des Islam“ verwendet. Ich verwende ihn bewusst, direkt und ohne Umschweife, um nicht in eine Falle zu gehen und irrtümlich zu behaupten, das Problem des heutigen Islam habe nur mit dem Reislamisierungsprozess zu tun, der in vielen arabischen und islamischen Staaten stattfindet, einem Prozess, der auf einer rigiden und kompromisslosen Interpretation des Islam beruht.
Denn konzentriert man sich nur auf diesen Prozess, der durch politische und wirtschaftliche Faktoren verursacht wurde, auf die ich später eingehen werde, und hält man ihn für den Kern des Problems, so führt dies gedanklich in die Irre. Damit lässt man die Ursachen des Problems außer Acht. Tatsache ist, dass es ganz bestimmte wichtige Themen in der islamischen Religion gibt, die überdacht und reformiert werden sollten. Die Schwierigkeit, vor der wir heute stehen, hat viel mit unserer Unfähigkeit oder auch dem Unwillen zu tun, uns mit dieser problematischen Seite eingehend zu befassen.
Damit dies gelingt, das heißt, damit ein Reformprozess in Gang kommt, müssen wir die Dinge unmissverständlich beim Namen nennen, rational und differenziert an die Kernthemen herangehen und Mut, viel Mut aufbringen, um zum Zentrum des Problems vorzudringen. Und wir brauchen Liebe, um diese Aufgabe gut bewältigen zu können.
Wiederum glaube ich, dass die Idee von einem humanistischen Islam eine Weise ist, an diese Aufgabe heranzugehen. Sie akzeptiert die Vielfalt innerhalb der islamischen Tradition, versucht, eine ideologische Alternative zu den wichtigsten Eckpunkten des politischen Islam zu bieten und betont, dass es unerlässlich ist, die Kernthemen anzupacken, die in der islamischen Tradition bewältigt werden sollten. Die Religionsfreiheit ist eines dieser Themen.
In den folgenden Abschnitten möchte ich zunächst auf die Vielfalt innerhalb der islamischen Traditionen zu sprechen kommen; dann werde ich zum Aufstieg des politischen Islam und seiner Erfolgsgeschichte übergehen. Ich hoffe, dass am Ende der beiden Abschnitte klar sein wird, warum eine Veränderung nicht nur geboten, sondern unerlässlich ist.
Die vielen Gesichter des Islam
Der Islam ist vielfältig. Das werde ich nicht müde zu betonen. Es ist diese Vielfalt, die den Islamisten im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Dorn im Auge war. Sie behaupteten, es gebe nur einen Islam – ihren Islam; eine Tradition – ihre Tradition; eine Auslegung des Islam – ihre Auslegung. Diese Botschaft wiederholen sie so lange, bis die Menschen der verschiedenen islamischen Traditionen anfingen, sie zu glauben.
Sie hatten vergessen, dass der Islam immer vielfältig war, nicht homogen. Und dass es nicht einen einzigen Islam gibt, sondern dass er viele Gesichter hat, dass es nicht den Muslim gibt, sondern Menschen unterschiedlicher Nationalitäten mit islamischen Traditionen, die sich ebenso voneinander unterscheiden wie ihre Nationalitäten.
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