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E-Book

Ich pfeife auf den Tod!

Wie mich der Fußball fast das Leben kostete

AutorBabak Rafati
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641105167
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Babak Rafati war FIFA- und DFB-Schiedsrichter - bis zum 19. November 2011, als er sich unmittelbar vor dem Spiel 1. FC Köln gegen 1. FSV Mainz 05 das Leben nehmen wollte. Nach dem Suizid von Robert Enke erschütterte sein Selbstmordversuch die Öffentlichkeit. Monatelang wurde über Rafatis Motive gerätselt. In seiner schonungslosen Beschreibung gibt er - ausgehend von der Nacht des Suizidversuches - zum ersten Mal Antworten, die alle Menschen betreffen, die unter extremen Leistungsdruck, Mobbing und Erschöpfung leiden. Seine Tat war die Folge einer Depression, hauptsächlich verursacht durch die brutalen Gesetze des Profisports. Rafatis Bericht gibt Einblicke in das 'System Schiedsrichter', an dem er fast zerbrochen wäre. Es ist nicht nur eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst und menschenverachtenden Mechanismen im deutschen Fußball, sondern auch Protokoll einer mentalen Heilung, das vielen Menschen Mut machen kann, alles was einen krank macht hinter sich zu lassen.

Babak Rafati, geb. 1970 in Hannover. Als Sohn persischer Eltern wuchs er teilweise in Deutschland und teilweise im Iran auf. Er absolvierte in Hannover, wo er auch heute noch lebt, eine Lehre als Bankkaufmann.

Seit 1997 war Babak Rafati DFB-Schiedsrichter. Im Jahr 2000 leitete er sein erstes Spiel in der Zweiten Bundesliga und ab 2005 auch Spiele der Ersten Fußball-Bundesliga. Von 2008 bis 2011 war er außerdem international als FIFA-Schiedsrichter tätig. Rafati pfiff insgesamt 84 Bundesligaspiele und 102 Zweitligapartien.

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Leseprobe

Es waren Jahre des kontinuierlichen Aufstiegs. Was ich anfasste, funktionierte und wurde ein Erfolg. Irgendwann fing ich an, das als selbstverständlich anzusehen. Ich war tüchtig, clever – es stand mir zu, dachte ich. Dass auch das Glück des Tüchtigen äußerst flüchtig sein kann, ahnte ich damals noch nicht. Ich war geblendet vom Erfolg.

Als ich im Juli 2005 als Schiedsrichter in die Bundesliga aufstieg und das erste Spiel in Köln pfiff, hatte sich der nächste Jugendtraum für mich bewahrheitet, auf den ich über 19 Jahre hingearbeitet hatte. In die Bundesliga will jeder Schiedsrichter, aber du kannst noch so streben, machen und tun – wer am Ende tatsächlich in die Bundesliga aufsteigt, das entscheidet allein die Schiedsrichterkommission. Der Kandidat wird empfohlen. Das Urteil über den Kandidaten muss einvernehmlich fallen, und das war bisher auch immer so passiert. In die Gilde der Schiedsrichter wirst du also berufen. Die Berufung ist etwas ganz Besonderes, eine Auszeichnung, eine Ehre – wie ein Schwertschlag zum Ritter.

Der Vorstandsvorsitzende meines Arbeitgebers der Sparkasse Hannover, Herr Walter Kleine, rief mich damals persönlich an und gratulierte mir zu der Nominierung als Bundesligaschiedsrichter. Er richtete mir im Namen des Vorstandes aus, dass ich die volle Unterstützung habe, da ich nunmehr ab sofort ein Aushängeschild der Sparkasse Hannover sei. Man war stolz auf mich.

Ich war in einem Alter von 35 Jahren nunmehr im Elitekreis des deutschen Fußballs angelangt. Nun stand mir das Tor für eine internationale Karriere offen. FIFA, Champions League, Europameisterschaft, Weltmeisterschaft – warum nicht? Ich hatte neue Ziele.

# # # 19.11.2011, 3:10 Uhr # # #

Die Digitaluhr in meinem Zimmer blinkte immer noch im Sekundentakt wie der Countdown eines Zeitzünders. 3:10 Uhr – es waren gerade einmal zehn Minuten vergangen, in denen ich meine ganze Jugend durchflogen hatte, und ich war nach all diesen schönen Gefühlen entsprechend überrascht, dass ich plötzlich wieder an dieser kalten Fensterscheibe eines Kölner Hotels klebte und in die Dunkelheit hinausstarrte. Zehn Minuten nach drei und noch über zwölf Stunden bis zum Spiel. Wenn ich daran dachte, wie optimistisch und stark ich in meiner Jugend gewesen war, und wenn ich mich jetzt sah, wie labil und entscheidungsschwach ich in allem geworden war … Einen so weiten Weg hatte ich zurückgelegt. So weit war ich gekommen. Sollten all die Mühen umsonst gewesen sein? Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Mit dem heutigen Spiel lief ich Gefahr, wieder alles zu verlieren.

Ich war der erste Schiedsrichter mit Migrationshintergrund in der Bundesliga. Meine Eltern sind Perser – ich selbst habe als Kind viele Jahre in der Nähe von Teheran verbracht, bis Deutschland meine neue Heimat wurde. Meine Familie ist stolz darauf, wie weit ich es hier in Deutschland gebracht habe. Mein Onkel, ein Arbeiter in einer Autofabrik, hat seinen Kollegen in den Pausen immer die BILD-Zeitung gezeigt mit den Berichten über mich und die Spiele, die ich geleitet habe. Ich war wie ein Sohn für ihn. Selbst von fernen Bekannten aus Teheran kamen Anrufe, wenn sie mich über Satellit in einem Spiel gesehen hatten.

Ich war der Beweis, dass man seinen Platz in dieser Gesellschaft finden kann und Tüchtigkeit belohnt wird. Mensch, Babak, du hast doch so viel erreicht! Babak, du wirst dich doch jetzt nicht verrückt machen und dich aufgeben vor diesem Spiel? Du kannst es doch. Du weißt doch, wie es geht …

… Nein, ich weiß es eben nicht mehr. Seit Monaten schon nicht mehr. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich wirklich bin. Aus mir ist ein Schauspieler geworden, in einem fragwürdigen Stück, der nur noch das spielt, was andere von ihm erwarten. Ich stelle diesen Erfolgshelden Babak Rafati dar, einen freundlichen, heiteren Menschen, der vor einer glänzend schönen Kulisse die Träume spielt, die seine Umgebung in ihn hineinfantasiert. Nach der Vorstellung geht er hinter die Kulisse durch graue, baumlose Landschaften ohne Horizont und ohne Himmel. In diesem Niemandsland haust der eigentliche Rafati, abends, wenn er mit sich allein ist, wenn er nicht mehr seine Rolle spielen muss. Wenn er ehrlich mit sich sein darf, verletzt, voller Zweifel, orientierungslos und ohne jede Idee, wohin er sich wenden soll. Jeden Morgen aus diesem Elend nach vorne raus auf die Bühne zu gehen, sich strahlend zu präsentieren – und sich selbst weiter zu belügen –, dazu wird die Kraft mit jedem Tag schwächer. Und ich warte schon jeden Morgen voll panischer Angst, wann diese Kulisse umkippt und alle sehen, was dahintersteckt: ein Nichts. Ich kann nicht mehr.

Wo war mein Glück geblieben? Meine Kraft? Meine Zuversicht? War ich von ganz unten so erwartungsvoll gestartet, nur um jetzt in Köln wie eine Silvesterrakete mit einem bunten Knall am deutschen Medienhimmel zu explodieren? Morgen, beim Spiel Köln gegen Mainz 05? Ich sah schon die Schlagzeilen in BILD und Kicker vor mir: »DFB feuert Rafati nach Chaosspiel und Fanaufruhr«, »Rafatis Karriereaus in der 34. Minute – Fanrandale in der Südkurve«. Alle würden auf den nächsten Fehler von mir lauern, nicht nur Hellmut Krug. Gab es einen perfidenPlan, mich gerade hier in Köln gegen Mainz scheitern zu sehen? Falls ja, würde der Plan aufgehen. Es würde mein fünftes Spiel in dieser Saison sein, in dem die Mainzer Fankurve mich auspfiff. War diese Häufung der Ansetzung auf Mainzer Spiele wirklich nur Zufall? Wie auf einer Perlenschnur sah ich die Ereignisse, die Zurückweisungen und Verletzungen der vergangenen Monate vor mir, würde sich der Kreis jetzt schließen? Fandel und Krug. Ein ganzes Stadion. Die Medien mit ihren tausenden Reportern und Kommentatoren. Ich fühlte alle gegen mich. Der Druck in meinem Kopf pulste synchron zu den Sekunden der Uhr. 3:30 Uhr. Noch zwölf Stunden bis zum Anpfiff.

Ich hätte noch Zeit gehabt, diesen unendlichen Fall, in dem ich mich befand, zu stoppen. Ich hätte meine Kollegen wecken und ihnen sagen können, dass ich nicht mehr kann. Dass ich dieses Spiel nicht mehr pfeifen werde. Dass sie für Ersatz sorgen sollen. Für das alles wäre Zeit gewesen. Vor allem für einen würdevollen Abgang. Niemand hätte die wahren Hintergründe erfahren. Statt zu zaudern, statt der Katastrophe tatenlos entgegenzutreiben, wäre es eine Entscheidung gewesen. Eine sehr mutige und schützende Entscheidung. Meine Entscheidung. Und ich wäre nicht weiter zum Opfer der Ereignisse geworden, die in den nächsten Stunden und Tagen und Wochen über mich hereinbrechen würden, mit einer Gewalt, die das Ich eines jeden Menschen atomisiert. Ich hätte einfach gehen sollen. Aber ich tat es nicht. Zwischen dieser Nacht im Kölner Hotel und meinem ersten Spiel nach der Verletzungspause im Sommer 2010 lag jetzt über ein Jahr. Ein Jahr, in dem sich für mich alles verändert hatte.

■ ■ ■

Noch im September 2010 hatte alles wieder so gut ausgesehen. Mein Muskelfaserriss war nach zwei Monaten Zwangspause endlich verheilt. Ich hatte den Schiri-Test wiederholt und bestanden. Meine Irritationen anlässlich des Machtwechsels schienen sich als gegenstandslos zu erweisen. Nachdem ich mich bei Fandel dienstbereit gemeldet hatte, setzte er mich am 19. September 2010 zum Warmlaufen auf ein Spiel in der 2. Bundesliga an, vermeintlich fern jeder Brisanz, FC Erzgebirge Aue gegen MSV Duisburg. Einziger Haken: In diesem Spiel waren drei Spieler bereits frühzeitig mit einer Gelben Karte sanktioniert, was bei jedem Spieler sehr gefürchtet ist. Denn bei jedem zusätzlichen Foul mit Gelber Karte zieht der Schiri Gelb-Rot und der vorbelastete Spieler wird vom Platz gewiesen, während seine Mannschaft in der Unterzahl weiterspielen muss. Das Spiel war äußerst körperbetont. In diesem kleinen, idyllisch von Hügeln und Wald umgebenen Stadion wurde ab der 20. Minute gefoult, was das Zeug hielt. Jeder zaghaft sprießende Spielzug wurde beidseitig sehr hässlich todgegrätscht. Pfiffe auf den Rängen, sehr viel Unruhe im Stadion. Nach der zweiten Halbzeit wurde es dann farbenfroh: in der 65., gleich darauf in der 66. und ein drittes Mal in der 78. Spielminute jeweils dreimal Gelb plus dreimal Gelb – macht dreimal Gelb-Rot. Es waren sehr konsequente Entscheidungen von mir. Ich hätte es zwar bei ultimativen Ermahnungen belassen können, die angesichts eines angedrohten Platzverweises ihre Wirkung vielleicht nicht verfehlt hätten. Aber aus dem Spielgeschehen heraus schien mir der Körpereinsatz zu hart für eine Ermahnung, wo doch schon die Belastung mit der Gelben Karte zu keinerlei Einsicht geführt hatte. Also dreimal Gelb-Rot. Nicht optimal, aber absolut regelkonform und aus der Spielsituation heraus verständlich.

Am Sonntag nach jedem Spiel erstattet der Schiedsrichter seinem Obmann telefonisch Bericht. Volker Roth war unbestechlich in seiner Analyse und von keinerlei Sentimentalitäten geleitet. Was er aber sagte, war stets rein sachlich begründet und stellte nie die Persönlichkeit des Schiedsrichters infrage. Jetzt erlebte ich bei seinem Nachfolger Herbert Fandel eine völlig neue Qualität in der Berichterstattung: »Hallo, Babak«, begann er das Gespräch mit seltsam leerer, gesenkter Stimme. Früher, noch zu gemeinsamen Schiedsrichterzeiten, hatten Fandel und ich im Anschluss an unsere Spieleinsätze, zum Beispiel bei einem Diskothekenbesuch in Berlin, viel Spaß gehabt, unser Verhältnis war angenehm kollegial, fast schon freundschaftlich – wenn es auch keine echte Freundschaft war. Fandel hatte mir aber immer wieder gesagt, wie viel er von mir halten würde – als Mensch und insbesondere als Schiedsrichter. Ich dachte, das könnte so positiv weitergehen. Aber Fandels Ton war jetzt, nach der Übernahme des...

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