Prolog
I. Wie man den Wind liebt
Wind löscht eine Kerzenflamme, offenes Feuer regt er an. Für Zufälligkeit, Ungewissheit und Chaos gilt dasselbe: Ich will von ihnen profitieren und mich nicht vor ihnen verstecken. Ich will das Feuer sein, das sich den Wind herbeiwünscht. Damit ist die alles andere als zaghafte Haltung des Autors gegenüber Zufälligkeit und Ungewissheit umrissen.
Wir wollen Ungewissheit nicht nur knapp überleben, nicht nur »gerade noch einmal davonkommen«. Wir wollen Ungewissheit vollkommen unbeschadet überleben und darüber hinaus – wie eine bestimmte Klasse streitlustiger römischer Stoiker – das letzte Wort haben. Die Frage ist: Wie gelingt es uns, das, was wir nicht sehen, nicht durchschauen, nicht erklären können, zu domestizieren, zu dominieren, vielleicht sogar zu bezwingen?
II. Das Antifragile
Einige Dinge profitieren von Erschütterungen; wenn sie instabilen, vom Zufall geprägten, ungeordneten Bedingungen ausgesetzt sind, wachsen und gedeihen sie; sie lieben das Abenteuer, das Risiko und die Ungewissheit. Doch obwohl dieses Phänomen omnipräsent ist, gibt es kein Wort für das genaue Gegenteil von »fragil«. Nennen wir es »antifragil«.
Antifragilität ist mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser. Dieses Prinzip steckt hinter allem, was sich im Lauf der Zeit verändert hat: Evolution, Kultur, Ideen, Revolutionen, politischen Systemen, technischen Innovationen, kulturellem und wirtschaftlichem Erfolg, hinter dem Überleben von Konzernen, guten Kochrezepten (man denke nur an Hühnersuppe oder an Tartar mit einem Schuss Cognac), hinter dem Wachstum von Städten, Zivilisationen, hinter Gesetzessystemen, den Regenwäldern, der Bakterienresistenz … und nicht zuletzt hinter dem Fortbestand unserer Spezies auf diesem Planeten. Antifragilität markiert außerdem die Grenze zwischen dem Lebendig-Organischen (oder Komplexen) – beispielsweise dem menschlichen Körper – und dem Unbelebten, irgendeinem Objekt wie beispielsweise dem Tacker auf Ihrem Schreibtisch.
Das Antifragile steht Zufälligkeit und Ungewissheit positiv gegenüber, und das beinhaltet auch – was entscheidend ist – die Vorliebe für eine bestimmte Art von Irrtümern. Antifragilität hat die einzigartige Eigenschaft, uns in die Lage zu versetzen, mit dem Unbekannten umzugehen, etwas anzupacken – und zwar erfolgreich –, ohne es zu verstehen. Um es noch schärfer zu formulieren: Wir sind im Großen und Ganzen besser, wenn wir handeln, als wenn wir denken, und das verdanken wir der Antifragilität. Ich bin auf jeden Fall lieber dumm und antifragil als hyperintelligent und fragil.
Um uns herum lassen sich unschwer Bereiche finden, die von einem gewissen Grad an Stress und Unbeständigkeit profitieren: Wirtschaftssysteme, Ihr Körper, Ihre Ernährung (vieles deutet darauf hin, dass Diabetes und viele moderne Krankheiten dieser Art damit zusammenhängen, dass ein bestimmtes Ernährungsschema stur beibehalten wird und der Stressor des Hungerns nicht mehr vorkommt), Ihre Psyche. Es gibt sogar antifragile Finanzverträge: Sie sind bewusst so angelegt, dass sie von Marktschwankungen profitieren.
Antifragilität lässt uns Fragilität besser verstehen. Wir können nicht unsere Gesundheit verbessern, ohne Krankheiten zurückzudrängen; wir können unseren Reichtum nicht steigern, ohne zuvor die Verluste zu verringern, und ebenso sind auch Antifragilität und Fragilität verschiedene Abstufungen auf ein und derselben Skala.
Keine Prognosen
Indem wir uns mit den Mechanismen der Antifragilität auseinandersetzen, können wir eine systematische, breit angelegte Gebrauchsanweisung erstellen, um unabhängig von Vorhersagen im Bereich der Wirtschaft, der Politik, des Gesundheitswesens und des Lebens ganz allgemein Entscheidungen angesichts von Ungewissheit zu treffen – also in all jenen Bereichen, in denen das Unbekannte überwiegt; in jeder Situation, in der wir es mit Zufälligkeit, Nicht-Vorhersehbarkeit, Undurchsichtigkeit oder unvollständigem Verständnis der Dinge zu tun haben.
Es ist sehr viel leichter, sich zu überlegen, ob eine Sache fragil ist, als das Eintreten eines für diese Sache potentiell gefährlichen Ereignisses vorherzusagen. Fragilität ist messbar; Risiken sind (jedenfalls außerhalb der Mauern von Casinos oder des Denkens von Personen, die sich selbst als »Risikoexperten« bezeichnen) nicht messbar. Daraus ergibt sich eine Lösung für das, was ich als Problem des Schwarzen Schwans bezeichnet habe: für die Unmöglichkeit, die Risiken zu kalkulieren, die sich aus seltenen Ereignissen ergeben, sowie die Unmöglichkeit, ihr Eintreten vorherzusagen. Mit der Anfälligkeit für die schädlichen Folgen von Unbeständigkeit, von Volatilität, kann man besser umgehen als mit der Voraussage des Ereignisses, das möglicherweise diese schädlichen Folgen herbeiführen kann. Meine Empfehlung lautet daher, unsere heute übliche Vorgehensweise im Bereich Vorhersagen und Risikomanagement auf den Kopf zu stellen.
Für jeden Bereich schlage ich Regeln vor, mit denen man sich vom Fragilen weg- und auf das Antifragile zubewegen kann durch Reduktion von Fragilität und Nutzbarmachung von Antifragilität. Dabei lässt sich Antifragilität (und Fragilität) fast immer durch einen einfachen Asymmetrietest erfassen: Alles, was von zufälligen Ereignissen oder Erschütterungen mehr profitiert, als dass es darunter leidet, ist antifragil; das Umgekehrte ist fragil.
Antifragilitäts-Entzug
Wenn Antifragilität eine Eigenschaft derjenigen natürlichen (und komplexen) Systeme ist, die sich durchsetzen konnten, dann werden diese Systeme logischerweise darunter leiden, wenn sie Volatilität, Zufälligkeit und bestimmten Stressoren nicht länger ausgesetzt sind. Sie werden schwächer, sterben oder gehen in die Luft. Indem wir Zufälligkeit und Instabilität unterdrücken, haben wir die Wirtschaft, unsere Gesundheit, das politische Leben, das Erziehungswesen, fast all unsere Lebensbereiche fragilisiert. Wenn man einen Monat im Bett verbringt (vorzugsweise mit einer ungekürzten Ausgabe von Krieg und Frieden und dem Zugriff auf sämtliche sechsundachtzig Folgen der Sopranos), führt das zu Muskelschwund; Ähnliches geschieht mit komplexen Systemen – sie werden geschwächt, ja vernichtet, wenn sie keinen Stressoren mehr ausgesetzt sind. Viele Bereiche unserer modernen, strukturierten Welt haben uns mit Top-down-Strategien und Vorkehrungen (die ich in diesem Buch als »Sowjet-Harvard-Illusionen« bezeichnen werde) geschadet, die exakt diesen Effekt haben: Sie sind eine Kränkung der Antifragilität von Systemen.
Das ist die Tragödie der Moderne: Ähnlich wie neurotisch überfürsorgliche Eltern schaden uns häufig die Personen am meisten, die uns beschützen wollen.
Während fast jede Top-down-Dynamik Fragilität erhöht und Antifragilität blockiert, profitieren Bottom-up-Strukturen von einem angemessenen Ausmaß an Stress und Unordnung. Entdeckungsprozesse (oder Innovationen oder technischer Fortschritt) beruhen viel stärker auf antifragilem Herumprobieren (Tüfteln) und der offensiven Bereitschaft zum Risiko als auf Schulbildung.
Vorteile auf Kosten anderer
Damit kommen wir zum schlimmsten Fragilisierungsfaktor unserer Gesellschaft, dem gewichtigsten Krisengenerator: Es mangelt an der Bereitschaft, die eigene Haut aufs Spiel zu setzen. Manche Menschen werden auf Kosten anderer antifragil: Sie schöpfen die Vorteile (den Gewinn) von volatilen, schwankenden, ungeordneten Verhältnissen ab und setzen andere den Nachteilen aus, Verlusten oder den sich daraus ergebenden Schädigungen. Und diese Antifragilität auf Kosten der Fragilität anderer ist versteckt: Da man in den intellektuellen Sowjet-Harvard-Zirkeln gegenüber Antifragilität blind ist, wird diese Asymmetrie selten identifiziert; sie gehört (zumindest bislang noch) nicht zum Lehrstoff an Universitäten. Außerdem können, wie wir im Zusammenhang mit der 2008 einsetzenden Finanzkrise gesehen haben, diese explosiven Risiken auf Kosten anderer in der ständig zunehmenden Komplexität moderner Institutionen und politischer Vorgänge nur allzu leicht dem Blick der Öffentlichkeit entzogen werden. In der Vergangenheit brachten es nur Menschen, die Risiken auf sich nahmen und bereit waren, für die Folgen ihrer Handlungen einzustehen, zu hohem Rang oder Ansehen; wer dasselbe zum Wohle anderer tat, galt als Held. Heute ist genau das Gegenteil der Fall. Wir erleben das Aufkommen einer neuen Klasse invertierter Helden: Bürokraten, Banker, die sich in Davos tummelnden Mitglieder der IAND (International Association of Name Droppers) und Akademiker mit zu viel Macht und bar jeder Verantwortlichkeit. Sie zocken das System ab, und die Bürger zahlen die Zeche.
Noch nie in der Geschichte der Menschheit befand sich so viel Macht in der Hand so vieler Personen, die keinerlei Risiko eingehen und nicht im Geringsten persönlich exponiert sind. Die wichtigste ethische Maxime lautet: Du sollst nicht deine eigene Antifragilität steigern, indem du die Fragilität anderer erhöhst.
III. Das Gegengift bei Schwarzen Schwänen
Ich möchte in einer Welt, die ich nicht verstehe, glücklich leben können. Schwarze Schwäne sind große, unvorhersehbare, irreguläre Ereignisse mit massiven Folgen – unvorhergesehen von einem bestimmten Beobachter; diesen Nicht-Propheten, der von dem Ereignis sowohl überrascht als auch geschädigt wird, nennen wir im Folgenden »Truthahn«. Ich bin der Meinung, dass ein Großteil der Geschichte auf solche...