Spuren im Sand, Spuren im Schnee
»Ich kann meine Zähne nicht finden. Ich kann meine Zähne nicht finden.« Der vertraute Hilferuf drang bis in mein Zimmer, wo ich gerade versuchte, meinen planmäßigen freien Nachmittag zu genießen. Ich legte das Buch, in dem ich gerade las, aufs Bett und ging ins Wohnzimmer.
Wie erwartet, stand Agnes im Zimmer und grinste ihr zahnloses Grinsen, mit dem sie ebenso verwirrt wie unschuldig aussah. Wir mussten beide lachen. Inzwischen hatte der Witz ja wirklich schon einen Bart, aber alle paar Tage schaffte sie es doch wieder, ihre Prothese zu verlegen. Und es war tatsächlich immer wieder witzig.
»Ich bin sicher, du machst das bloß, damit ich wieder zu dir komme«, lachte ich, während ich an den üblichen Stellen zu suchen begann. Draußen hatte es angefangen zu schneien, was die kuschelige Wärme des Cottages noch erhöhte. Doch Agnes schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht, meine Liebe! Ich hab sie vor meinem Nickerchen rausgenommen, aber als ich aufwachte, konnte ich sie nicht mehr finden.« Abgesehen von ihrem Gedächtnisverlust war sie noch sehr klar im Kopf.
Agnes und ich lebten seit vier Monaten zusammen. Ich hatte mich damals auf eine Anzeige gemeldet, in der eine Person gesucht wurde, die bereit war, bei der alten Dame einzuziehen. Als Australierin in England hatte ich zuvor schon in der Kneipe, in der ich arbeitete, gleichzeitig gewohnt, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Es war richtig lustig gewesen, und einige der Angestellten und ein paar Einheimische wurden Freunde. Jobs an der Bar waren leicht zu kriegen, und so hatte ich gleich nach meiner Ankunft im Land Arbeit gefunden. Dafür war ich auch dankbar, doch irgendwann wurde es Zeit, etwas anderes zu machen.
Die zwei Jahre, bevor ich Australien verließ, hatte ich auf einer tropischen Insel gelebt, die so malerisch aussah wie die klischeehafteste Postkarte. Nach über einem Jahrzehnt als Bankangestellte wuchs das Bedürfnis, eine Daseinsform auszuprobieren, in der ich mich nicht Montag bis Freitag von neun bis fünf abrackern musste.
Ich war mit einer meiner Schwestern auf eine Insel in North Queensland gereist. Wir wollten im Urlaub unseren Tauchschein machen. Während sie sich unseren Tauchlehrer aufriss – was im Hinblick auf unsere Prüfung recht nützlich war –, kletterte ich auf einen Berg auf der Insel. Als ich dort oben direkt unter dem Himmel auf einem Felsblock saß und vor mich hin lächelte, kam mir die Erleuchtung: Ich wollte auf einer Insel leben.
Vier Wochen später gab es meinen Bankjob nicht mehr, und meine Habe hatte ich entweder verkauft oder zu meinen Eltern verfrachtet, die sie in einer Scheune auf ihrem Bauernhof unterstellten. Dann suchte ich mir auf einer Landkarte zwei Inseln aus, die mir einfach von ihrer geografischen Lage her geeignet schienen. Ich wusste sonst gar nichts über diese Inseln, nur, dass mir ihre Lage gefiel und dass es auf jeder ein Urlaubsresort gab. Das war vor der Internet-Ära, in der man im Handumdrehen buchstäblich alles herausfinden kann. Nachdem ich ein paar Bewerbungen in die Post gesteckt hatte, brach ich auf Richtung Norden, Bestimmungsort unbekannt. Man schrieb das Jahr 1991, ein paar Jahre bevor Handys in Australien ihren Einzug feierten.
Unterwegs bekam meine Sorglosigkeit einen frühen Dämpfer, als ich nämlich beim Trampen eine so unangenehme Erfahrung machte, dass ich von dieser Fortbewegungsart wieder Abstand nahm. Irgendwo im Nirgendwo auf einer unbefestigten Straße, weit weg von meinem Ziel läuteten meine Alarmglocken laut genug, dass ich nie wieder am Straßenrand den Daumen hochhielt. Der Typ hatte behauptet, er wolle mir zeigen, wo er wohnte, und die Besiedelung wurde immer dünner und der Busch immer dichter. Gott sei Dank blieb ich stark und resolut, und es gelang mir, mich durch Reden aus der Situation herauszumanövrieren. Er versuchte dann nur noch ein paar sabbernde Küsse, bevor ich sehr schnell in der richtigen Stadt aus dem Auto stieg. Danach fuhr ich nie wieder per Anhalter.
Von nun an benutzte ich öffentliche Verkehrsmittel. Abgesehen von diesem einen unschönen Erlebnis war es ein tolles Abenteuer, nicht zu wissen, wo ich demnächst landen würde. In den diversen Bussen und Zügen lernte ich auf dem Weg in wärmere Gefilde viele tolle Leute kennen. Als ich schon ein paar Wochen unterwegs war, rief ich meine Mutter an, die tatsächlich einen Brief bekommen hatte, in dem man mir einen Job auf einer der Inseln in Aussicht stellte. Ich war so erpicht darauf gewesen, meine Tretmühle in der Bank hinter mir zu lassen, dass ich dumm genug war zu schreiben, ich würde jeden Job annehmen. Wenige Tage später lebte ich also auf einer wunderschönen Insel und steckte bis zum Ellbogen in dreckigen Töpfen und Pfannen.
Das Leben auf der Insel war jedoch ein großartiges Erlebnis, denn ich war nicht nur meinem aufreibenden Montag-bis-Freitag-Trott entkommen, sondern verlor langsam, aber sicher sogar das Gefühl dafür, welcher Wochentag gerade war. Das gefiel mir unglaublich gut. Nach einem Jahr auf meiner Stelle als Spülerin arbeitete ich mich in die Bar hoch. Die Zeit in der Küche hatte mir tatsächlich auch viel Spaß gemacht, und ich hatte wahnsinnig viel über kreatives Kochen gelernt. Trotzdem, es war eine schweißtreibende, schwere Arbeit in einer tropischen Küche ohne Klimaanlage. Meine freien Tage konnte ich immerhin mit Wanderungen durch den großartigen Regenwald verbringen, ich konnte mir ein Boot mieten und zu den Nachbarinseln fahren, tauchen gehen oder einfach nur im Paradies relaxen.
Nachdem ich ein paar Mal freiwillig Dienst an der Bar geleistet hatte, durfte ich irgendwann in diese begehrte Stellung aufrücken. Für den Blick auf das ruhige blaue Meer, den weißen Sand und die sanft schwingenden Palmwedel hätten andere eine Stange Geld gezahlt, deshalb fand ich es nicht besonders hart, hier zu arbeiten. Ich bediente fröhliche Kunden, die den Traumurlaub ihres Lebens machten, und lernte mit der Zeit, Cocktails zu mixen, die man auf Reiseprospekten hätte abbilden können. Das alles war Lichtjahre von meinem Leben in der Bank entfernt.
An der Bar lernte ich eines Tages einen Europäer kennen, der mir einen Job in seiner Druckerei anbot. Ich hatte schon immer große Reiselust verspürt, und nach über zwei Jahren auf der Insel sehnte ich mich langsam nach ein bisschen Veränderung und hätte ganz gern auch wieder ein etwas anonymeres Dasein geführt. Wenn man Tag für Tag in derselben kleinen Siedlung lebt und arbeitet, kann einem ein bisschen Privatsphäre im Alltag plötzlich heilig werden.
Nach ein paar Jahren Inselleben musste man bei der Rückkehr aufs Festland mit einem gewissen Kulturschock rechnen. Aber sich gleich noch in ein fremdes Land zu begeben, dessen Sprache ich nicht einmal verstand, war schon eine Herausforderung, um es milde auszudrücken. Im Laufe der Monate lernte ich dort einige nette Leute kennen, und ich bin froh, dass ich auch diese Erfahrung gemacht habe. Aber ich brauchte doch wieder ein paar gleichgesinnte Freunde, also machte ich mich irgendwann auf nach England. Bei meiner Ankunft hatte ich gerade noch genug Geld, um das Ticket zu lösen, mit dem ich zu meinem einzigen Bekannten dort fahren konnte. Ich hatte noch 1 Pfund 66 in der Tasche, als ich ein neues Kapitel aufschlug.
Nev hatte ein wunderbares, breites Lächeln und spärliche weiße Locken auf dem Kopf. Außerdem war er Weinexperte und -aficionado und arbeitete passenderweise in der Weinabteilung bei Harrod’s. Am ersten Tag des Sommerschlussverkaufs marschierte ich in das gut besuchte Nobelkaufhaus – ich kam direkt von der Nachtfähre und sah wahrscheinlich so obdachlos aus, wie ich war. »Hallo, Nev. Ich bin’s, Bronnie. Wir haben uns vor ein paar Jahren mal kennengelernt, ich bin eine Freundin von Fiona. Du hast damals eine Nacht auf meinem Sitzsack gepennt«, eröffnete ich ihm mit einem strahlenden Lächeln.
»Ja, klar, Bronnie«, kam es zu meiner Erleichterung zurück. »Na, was ist mit dir los?«
»Ich bräuchte einen Schlafplatz für ein paar Nächte«, begann ich hoffnungsvoll.
Nev zog seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche. »Klar, kein Problem. Hier.« Er gab mir noch eine Wegbeschreibung zu seiner Wohnung, und damit hatte ich ein Dach über dem Kopf und ein Sofa zum Schlafen.
»Könntest du mir vielleicht auch noch zehn Pfund leihen?«, fragte ich optimistisch. Ohne zu zögern, zog er zehn Pfund aus der Tasche. Ich bedankte mich, strahlte ihn an und war endgültig aus dem Schneider. Jetzt hatte ich ein Bett und Essen.
Die Traveller-Zeitschrift, auf deren Jobteil ich meine Hoffnungen setzte, kam genau an diesem Tag heraus, also kaufte ich mir das Heft, ging in Nevs Wohnung und führte drei Telefonate. Am nächsten Morgen hatte ich ein Vorstellungsgespräch für einen Job in einem Pub in Surrey, in dem ich gleichzeitig auch wohnen sollte. Und am nächsten Nachmittag wohnte ich auch schon dort. Perfekt.
Ein paar Jahre lang lief mein Leben so dahin, mal fand ich neue Freunde, mal verliebte ich mich. Ich hatte viel Spaß damals. Das Dorfleben gefiel mir gut, manchmal erinnerte es mich an das Dasein auf der Insel, und ich war umgeben von Menschen, die mir ans Herz gewachsen waren. Außerdem waren wir nicht allzu weit entfernt von London, so dass ich problemlos öfters in die Stadt fahren konnte, was ich absolut genoss.
Aber dann meldete sich die Reiselust wieder. Ich wollte mal ein bisschen in den Nahen Osten hineinschnuppern. Die langen englischen Winter waren toll, und ich war auch froh, ein paar davon erlebt zu haben. Es war der totale Kontrast zu den langen, heißen Sommern in Australien. Doch ich beschloss, nur noch einen Winter zu bleiben. Ich...