Vorwort
Die Neuerfindung der Sexualität im 21. Jahrhundert
Halten Sie Sadomasochismus, Fetischismus und Gangbang noch immer für die radikalsten Entwicklungen in der sexuellen Kultur unserer Gesellschaft? Wenn das so sein sollte, mögen Sie ein befriedigendes Sexleben haben, aber was die neuesten Trends angeht, wären Sie schon ein wenig im letzten Jahrtausend steckengeblieben. Inzwischen hat unsere veränderte Lebenswirklichkeit zu einer neuen sexuellen Revolution geführt, die sämtliche bisherigen Entwicklungsschritte der menschlichen Sexualität in den Schatten stellt.
Sie glauben, ich übertreibe? Dann unterschätzen Sie die Auswirkungen des Internets und unserer globalen Gesellschaft.
Einen Startpunkt, wenn es darum geht, die Auswirkungen zu erforschen, die das Internet auf die menschliche Sexualität hat, liefert eine Randnotiz der aktuellen Sexualforschung: Kürzlich zeigte eine Studie der schwedischen Universität Göteborg, dass die Häufigkeit von Homosexualität im ländlichen Schweden rapide zunahm. Der Grund dafür bestand darin, dass einsame Männer auf schwedischen Bauernhöfen immer häufiger online gehen, dort schwule Chatrooms oder Pornoseiten entdecken und so schließlich den Mut entwickeln, sich als homosexuell zu outen.
Dieses Phänomen erinnert an die sexuelle Revolution der sechziger Jahre, die durch den Sexualforscher Alfred Kinsey und seinen Kinsey-Report in den fünfziger Jahren entscheidend vorbereitet worden war. Dabei hatte Kinsey für seinen Bericht vor allem sexuell aufgeschlossene und auskunftsbereite Studenten befragt, außerdem männliche Prostituierte und ehemalige Gefängnisinsassen, und – wie ihm seine Kritiker später vorwarfen – deren Antworten so verallgemeinert, dass daraus ein viel liberaleres und vielfältigeres Amerika gezeichnet wurde, was verschiedene sexuelle Praktiken anging, als es den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. Wenn dem so war, dann wurde Kinseys Report jedoch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Nachdem viele Amerikaner lasen, dass Dinge, die zuvor als »Perversionen« galten (etwa Oralsex, Sadomasochismus und Bisexualität), von vielen ihrer Nachbarn praktiziert wurden, sanken ihre Hemmungen, sie probierten solche Praktiken selbst aus und begannen, Gefallen daran zu finden.
Aber selbst Alfred Kinsey erreichte mit seinen Forschungen nicht in Sekundenschnelle die entferntesten Winkel der Welt. Das Internet schon – und dies in einer überwältigenden Anarchie und Radikalität. Elemente aus sexuellen Kulturen weit entfernter Winkel des Globus gelangen über das Internet erstmals in die Wohnzimmer von Menschen am anderen Ende der Welt. Dasselbe geschieht mit sexuellen Subkulturen, wo Einzelne, die zuvor niemals über ihre Vorlieben geredet hätten, zunächst anonym einander finden und zu kleinen Strömungen werden, manchmal gar einen kleinen Trend herbeiführen.
Um der Veranschaulichung zuliebe ein Extrembeispiel auszuwählen: Angenommen, ich als jemand, der im tiefsten Taunus wohnt, möchte mich darüber informieren, wie ich die absurdeste sexuelle Praktik in die Tat umsetzen kann, die mir gerade einfällt, beispielsweise Sex mit Delfinen. In diesem Fall kostet es mich dank des Internets und seinen Suchmaschinen nur wenige Sekunden, um eine passende Anleitung zu finden. Das Auffinden von Delfinen im tiefsten Taunus stellt ein größeres Problem dar, aber das war wie gesagt nur ein Extrembeispiel. In ähnlicher Weise kann zum Beispiel jemand, der im hintersten Rumänien über eine ausreichend gute Internetverbindung verfügt, sämtliche notwendigen Informationen erhalten, die er braucht, um zu wissen, worauf er bei erotischen Atemkontrollspielen achten muss. 20 Jahre früher hätte er solche Informationen nur erhalten, wenn er sich z. B. bestimmte Texte aus der Undergroundszene San Franciscos besorgt hätte, von deren Existenz er vermutlich nicht einmal wusste. Dementsprechend hätte er solche sexuellen Exkursionen nie gewagt.
Auf Internet-Partnerbörsen, von denen manche eigens für neue Spielarten eingerichtet werden, können Menschen mit ungewöhnlichen Vorlieben einander relativ problemlos finden. Die massenhaft besuchte deutsche »Sklavenzentrale« für die Community der deutschen Sadomasochisten ist da nur ein Beispiel, das noch aus dem letzten Jahrtausend stammt. Direkter geht es in erotischen Online-Welten zur Sache, wo ebenfalls große Zahlen von Menschen miteinander den ausgefallensten Fantasien frönen können. Über neue, sogenannte »haptische« Technologien kann man diese virtuellen Erlebnisse für den einzelnen Benutzer sogar unmittelbar spürbar machen – etwa wenn jemand in Hamburg seinem Cybersex-Partner in München ein Signal schickt, das dieser zum Beispiel über einen von ihm getragenen Cybersexanzug als sexuelle Berührung wahrnimmt. Und schließlich löst das Internet Trends im Bereich der Sexualität ebenso aus, wie es Kinseys Veröffentlichungen vor sechzig Jahren taten. Beispielsweise unterziehen sich immer mehr Teenager einer Geschlechtsumwandlung, seit andere Teenager, die das bereits hinter sich haben, auf YouTube über ihre Erfahrungen damit berichten.
Auch jeder Erfinder erreicht über das Web eine große Masse: ob er jetzt ein neuartiges Sexspielzeug entwickelt hat (etwa einen intelligenten Vibrator, das Musikkondom oder ein aufblasbares Schaf) oder ein ungewöhnliches Geschäftsmodell in diesem Bereich (zum Beispiel Erotic Airways, Sexpresso, Discount-Sex oder Entjungferungsagenturen). Was sich per Mundpropaganda nie erfolgreich verbreitet hätte, findet durch das Internet plötzlich Kunden und schließlich andere findige Unternehmer, die diese Ideen nachahmen möchten.
Das lässt sich auch auf den politischen Bereich übertragen: Erst gab es eine Sex-Partei in Kanada, dann in Australien – wann wird es die erste in Europa geben? Der sogenannte Öko-Sex führte, sobald er von sich hören machte, zu den ersten eigenen Sexspielzeugen, Pornos und Initiativen wie »Fuck for Forest«, die wiederum zu seiner größeren Bekanntheit beitrugen. Man könnte mit zahlreichen weiteren Beispielen fortfahren.
Darüber hinaus hat das Internet dazu geführt, dass Kinder sich immer früher und gründlicher über ausgefallene Formen von Sexualität informieren können und dabei immer »frühreifer« werden. Aber unsere Gesellschaft wird auch insgesamt immer sexualisierter – und auf ganz selbstverständliche Weise. Wo meine Mutter mit ihren Freundinnen noch Tupperware-Partys veranstaltete, trifft sich eine gute Freundin von mir im ländlichen Schleswig-Holstein mit ihren Bekannten zu Sex-Toy-Partys. Pornos kann man inzwischen an jedem beliebigen Ort per Handy betrachten – umgekehrt kann man in seinem eigenen Schlafzimmer die verrücktesten Pornos herstellen und mit ein paar Klicks der gesamten Welt darbieten.
Besonders stark hat sich die Allgegenwart der Sexualität, oft verbunden mit einem fast schon skurillen Exzess, in Japan entfaltet. Insofern stammen viele der Beispiele in diesem Buch aus dem Land der aufgehenden Sonne. Dabei dürfte die japanische Gesellschaft nicht lange ein bizarres Extrem bleiben, das den Rest des globalen Dorfes kaum beeinflusst. Wahrscheinlicher ist, dass Japan seine sexuelle Kultur ebenso in viele andere Länder exportiert, wie ihm das mit anderen kulturellen und technologischen Entwicklungen zunehmend gelang. Auch Japans Nachbar China stellt einen immer machtvolleren Einfluss für unsere globale Gesellschaft dar, was es reizvoll macht, auch dorthin den einen oder anderen Blick zu werfen, was den veränderten Umgang mit Sexualität angeht. Gewaltiger als in China sind solche Veränderungen der erotischen Kultur in der islamischen/arabischen Welt, wo derzeit wirklich große Umbrüche stattfinden. Während die genannten Regionen in diesem Lexikon ausführlicher behandelt werden, lohnt sich auch ein kurzer Blick auf neue Konzepte in anderen Ländern unserer Erde – Konzepte, die ebenfalls zu Trendsettern werden könnten: beispielsweise das Altersheim für Prostituierte in Mexiko oder die Haltestellen-Pornos in Bulgarien.
Sicher, viele der in diesem Buch geschilderten Entwicklungen stecken derzeit noch in den Kinderschuhen. Manche Erfindungen gibt es erst als Prototypen oder sind bislang nur schwer erschwinglich. Doch auch in Bereichen, die nicht mit Sexualität zu tun haben, gehen schließlich viele Neuerungen erst mit der Zeit in Massenproduktion über und werden dadurch für Otto Normalverbraucher immer zugänglicher – denken Sie etwa nur an Computer und andere elektronische Geräte. Viele Ideen (beispielsweise Fast-Food-Lokale) begannen als Einzelbeispiele und setzten sich dann immer mehr auf dem Markt durch. Mit vielen erotischen Prototypen, die in diesem Buch zusammengetragen sind, dürfte es ähnlich sein. Vielleicht erlaubt es uns deshalb, einen Blick in die Zukunft zu werfen: in eine Zukunft beispielsweise, in der bionische Sex-Chips, Röntgenbrillen und Männerbordelle gang und gäbe sind.
Der Zukunftsforscher Eric Garland überschrieb einen Artikel über diese jüngsten Veränderungen für die World Future Society mit der treffenden Formulierung »Reinventing Sex«: die Neuerfindung der Sexualität. Seiner Voraussage nach werden die neuen Freiheiten zwar neue Verwirrung bedeuten, bis zum Jahr 2025 den Sex aber auch gesünder und sicherer machen als je zuvor. Wir werden mehr von unserer Sexualität verstehen und uns besser darüber informieren. Immer weniger Menschen werden sich mit ihren Neigungen isoliert vorkommen. Über Störungen und Probleme werden wir immer offener sprechen können. Die Macht von...