Dies hinterließ tiefe Spuren im Selbstbewusstsein der Muslime, die sich – obwohl die vier genannten Kolonialmächte durchwegs in einer christlichen Tradition standen – unter einer »Fremdherrschaft der Ungläubigen« fühlten. Diese zuerst anti-europäischen, vor allem anti-britischen, ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. zunehmend anti-amerikanischen und dann anti-westlichen Ressentiments spielen eine große Rolle bei den islamischen Erneuerungsbewegungen oder Befreiungskämpfen, aber auch bei den Assimilations- oder Integrationsbemühungen der im Zuge der Arbeitsmigration als Minderheiten in viele Staaten der westlichen Welt eingewanderten und dort ansässig gewordenen Muslime.
Dabei darf man nicht übersehen, dass der Islam keineswegs eine einheitliche Struktur hat und auf den Europäer nur infolge einer weit verbreiteten Ignoranz bzw. eines ausgesprochenen Desinteresses einen homogenen Eindruck macht. Sowohl in der Geschichte wie in der Gegenwart gab und gibt es riesige Unterschiede zwischen den einzelnen muslimischen Gruppierungen, die aber von den meisten Menschen kaum bemerkt und beachtet werden. Die Vorstellungen, die man sich vom Islam macht, beschränken sich auf gewisse Klischees, die nur wenig über eine Mischung aus exotisch-orientalischem Flair und 1001-Nacht- beziehungsweise Karl May-Romantik hinausreichen. Viele Menschen sind daher sehr überrascht, wenn sie von der bunten Vielfalt der »Konfessionen« und »Rechtsschulen«, »Orden« und »Sekten« der Muslime hören, die in vieler Hinsicht der großen Vielfalt der »Christentümer« nicht nachsteht.
Unser Interesse an der komplexen Struktur und wechselvollen Geschichte und Entwicklung der auf den Araber Muhammad (570–632 n. Chr.) zurückgehenden Islamischen Weltgemeinschaft ist beträchtlich gewachsen. Das hat viele Ursachen: Der Vormarsch des islamischen Fundamentalismus und der Moslem-Bruderschaft (seit 1928 in Ägypten); die permanenten Auseinandersetzungen zwischen Israeli und Palästinensern (seit 1948), in die sich viele arabische Länder und islamische Gruppierungen des Vorderen Orients einmischten oder hineingezogen wurden und werden; das starke politische Engagement angesehener Ayatollahs und der 180.000 Mullahs im Iran (seit 1978); und in jüngster Zeit durch das Terrornetz der mit dem Namen Osama bin Laden verbundenen Al-Qaida und die Anschläge vieler autonom und verdeckt agierender Einzelkämpfer oder kleiner Terror-Gruppen, die in mehr als dreißig Ländern tätig sein sollen.
Das große Ungleichgewicht zwischen Sunniten (vier Fünftel aller Muslime) und Schiiten (ein Fünftel) – was eine erste grobe Einteilung der muslimischen Gruppierungen bedeutet – ist heute prozentuell ungefähr gleich wie in der Frühzeit des Islam. Diese grobe Unterscheidung hat aber doch eher nur statistische Bedeutung, denn unter den Schiiten gehören z. B. die persischen Mullahs und Ayatollahs zur sogenannten Zwölfer-Schia (Imamiya), die zwölf Imame anerkennt und in Persien von 1572 bis 1941 (und dann wiederum seit 1979) die Staatsreligion darstellt. Vor ihr gab es aber schon seit etwa tausend Jahren eine zweite Hauptrichtung, die Siebener-Schia, die mit dem extremen Ismailitentum im Zusammenhang steht. Unter der Führung von Hassan Sabbah, des »Alten vom Berg«, entstand daraus die Sekte der Assassinen, die von Jordanien bzw. dem Nordiran aus mit terroristischen Aktionen am Sturz des sunnitischen Kalifats arbeitete. Andere Gruppen wie die Karmaten bestehen heute nicht mehr. Bis heute von Bedeutung sind dagegen zwei Zweige, die in Indien ihren Sitz haben, nämlich die Bohoras – eine reiche Kaufmannskaste, die im »Mullahdschi« ihr geistiges Oberhaupt verehren – und die Khodschas, die Agha Khan als ihren »göttlichen Imam« verehren. Bei all diesen ismailitisch-schiitischen Gruppierungen gibt es auch eine traditionelle Geheimlehre, die dem sunnitischen Islam völlig fremd ist. Im Jemen gibt es außerdem noch die Fünfer-Schia – sie sieht in Zaid, dem Urenkel Husains, den 5. Imam; ihre Anhänger wurden deshalb zeitweise auch Zaiditen genannt.
Doch auch die Sunniten (zu denen sich heute mehr als eine Milliarde Muslime rechnen) vertreten sehr unterschiedliche Modelle des Islam, die vor allem von den verschiedenen Rechtsschulen geprägt werden. Da gibt es die konservative und rigorose Schule des Ibn Hanbal (Hanbaliten), die ungleich stärker verbreitete des Abu Hanifa (Hanafiten), die vor allem in Nordafrika und im Vorderen Orient tätige Schule des Malik (Malikiten) und die zweitgrößte und zugleich liberalste Schule des Schafi´i (Schafiiten). Die Zugehörigkeit zu einer dieser Schulen ist stark traditions- und familienabhängig – man wird wie in eine christliche Konfession hineingeboren.
Innerhalb der einzelnen Rechtsschulen gibt es aber wieder Reformatoren, die großen Einfluss erlangten und Spaltungen bzw. Neuorientierungen verursachten. So orientierten sich z. B. viele Muslime auf der Arabischen Halbinsel – die sogenannten Wahhabiten – an den Lehren des Mohammed ibn Abd-al Wahhab (1696–1787), der nur das am Islam gelten ließ, was auch zur Zeit Muhammads Richtschnur und Praxis war. Mit großem Fanatismus bekämpfte er den Heiligenkult und die übertriebene Verehrung des Propheten Muhammad, den Gebrauch der Gebetskette, den Tabakgenuss und z. B. die Freude an Musik, Spiel, Tanz und kostbarem Schmuck. Seine asketischen Prinzipien wurden auch von den osmanischen Machthabern bekämpft, von anderen aber als Reform und Neubelebung des Islam begrüßt – wie vom arabischen Stammesführer Ibn Sa’ud, der den Niedergang des osmanischen Reichs und das endgültige Ende des Kalifats (1924) nutzte, um die Kontrolle und Schutzherrschaft über die heiligen Stätten an sich zu ziehen. Bis heute – nicht zuletzt aufgrund des Ölreichtums im saudiarabischen Territorium – übt Saudiarabien auf diese Weise großen Einfluss auf die gesamte sunnitisch-islamische Welt aus. Die Saudis finanzieren z. B. mit dem Öl-Geld eine ausgedehnte Buchproduktion in vielen islamischen Ländern, leisten Zuschüsse zum Bau von Moscheen (wie z. B. in Bosnien) und verstehen es, das wahhabitische Gedankengut auf diese Weise sehr erfolgreich »unter das Volk« zu bringen. Über weitere Gruppierungen wird später noch berichtet werden.
In unseren Tagen ist der aus einer jemenitischen Baumeister-Familie stammende Osama bin Laden (geb. 1957) zu einem traurigen Ruhm als Drahtzieher in diesem Ausmaß noch nie verübter terroristischer Akte gekommen. Er lebte als angesehener Bürger in Saudi-Arabien, ehe er in den achtziger Jahren als saudischer Repräsentant zu den Mudschaheddin nach Afghanistan ging und von den Amerikanern für den Dschihad gegen die Sowjets, die damals das Land besetzt hielten, ausgebildet wurde. Osama sagt über diese Zeit: Die Waffen kamen von den Amerikanern, das Geld von den Saudis. 1990 kehrte er mit Tausenden Kämpfern nach Saudi-Arabien zurück und stellte sie nach dem Überfall Saddam Husseins auf Kuwait König Faht zur Verfügung. Der aber wusste um Osamas Pläne, die großen islamischen Wallfahrtsorte Mekka und Medina aus der saudischen und Jerusalem aus der israelischen Dominanz zu »befreien«, und vertraute lieber den Amerikanern und Briten. So erteilte er Osama bin Laden eine Absage und entzog ihm sogar die saudi-arabische Staatsbürgerschaft. Das bestärkte diesen offensichtlich, sich als »Retter aller Muslime« zu fühlen und der gesamten westlichen Welt, aber auch den kooperationswilligen Muslimen am 12. Oktober 1996 den Krieg zu erklären:
Die Menschen des Islam leiden unter Aggression, Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch das Bündnis aus Zionisten, und Kreuzfahrern und ihren Kollaborateuren … Jeder Volksstamm auf der Arabischen Halbinsel hat nun die Pflicht, den Dschihad zu kämpfen und das Land von diesen Kreuzfahrer-Besetzern zu säubern … Meine Muslimbrüder! Eure Brüder in Palästina und im Land der zwei heiligen Stätten bitten um eure Hilfe und fordern euch auf, am Kampf teilzunehmen.
Zuerst im Sudan, dann – unter dem Schutz der Taliban – von Afghanistan aus und seit 2002 mit unbekanntem Aufenthalt (er wurde seitdem gelegentlich im Jemen oder in Indonesien vermutet) versucht er, seine fundamentalistisch orientierten, aber ins Maßlose gesteigerten Pläne zu realisieren. Die von den Amerikanern durchgezogene Säuberung Afghanistans von den fanatischen Taliban- und Al-Qa’ida-Kämpfern hat zwar Ende 2001/Anfang 2002 deren Hochburgen im Hindukusch zerschlagen und einige bekannte Anführer das Leben gekostet, sie aber andererseits veranlasst, in den Untergrund zu gehen.
Die folgenden Ausschnitte aus einem Interview, das Osama bin Laden 1998 den »News of Pakistan« gab und das 1999 im »Time Magazin« und 2001 im österreichischen Magazin...