Wohlgeruch
der Kindheitsjahre
Jean Paul war Sohn und Enkel von Schulmeistern, und das hieß damals: von Hungerleidern. Sein Großvater verdiente als Rektor im oberpfälzischen Städtchen Neustadt am Kulm 150 Gulden im Jahr. »Sein Schulhaus war ein Gefängnis, zwar nicht bei Wasser und Brot, aber doch bei Bier und Brot; denn viel mehr als beides – und etwa frömmste Zufriedenheit dazu – warf ein Rektorat nicht ab.« Und an dieser »Hungerquelle für Schulleute stand der Mann 35 Jahre lang«.
Jean Pauls Vater war es anfangs nicht besser ergangen. Auf dem Gymnasium in Regensburg hatte er sich als Kostgänger der Kirche, Alumnus genannt, durchhungern müssen, hatte als Student der Theologie in Jena und Erlangen weiter gehungert und dann, da Stellen für Pfarrer und Lehrer rar waren, zehn Jahre irgendwo bei Bayreuth als Hauslehrer gedient. Als er sich 1760 endlich eine Stelle als Lehrer und Organist in Wunsiedel für geliehene fünf Gulden erkaufen und seine Braut Sophia Rosina Kuhn, die Tochter eines Tuchmachers aus Hof, heiraten konnte, war er schon 32 und noch ärmer dran als der Großvater, weil er nicht Rektor war, auch nicht Subrektor, sondern nur Tertius, also dritter Lehrer, dessen Jahresgehalt von 119 Gulden zum Erhalt einer Familie nur reichte, wenn Taufen, Hochzeiten und Leichenfeiern zusätzliches Kleingeld für das Orgelspiel brachten oder die Zahl der Schüler, die den Schulgroschen zahlten, wuchs. Nur für die Kinder der Ärmsten der Armen war der Schulbesuch kostenlos.
Die theologische Laufbahn hatte Jean Pauls Vater nur eingeschlagen, weil armen Studenten kein anderer Studienzweig offengestanden hatte, seine Liebe aber hatte der Musik gehört. Sein Talent dafür hatte sich schon in der Schulzeit gezeigt. Der Gymnasiast hatte in der Kapelle des Fürsten von Thurn und Taxis am Klavier mitwirken können, und später als Pfarrer hatte er selbst Kirchenmusik komponiert. Um aber den Schritt in die unsichere Existenz eines Künstlers zu wagen, hatte es ihm an Selbstverwirklichungswillen gemangelt, der seinem ältesten Sohn dann in starkem Maße zuteil geworden war. Unglücklich aber war er nicht darüber geworden, er hatte sich vielmehr als eindrucksvoller Prediger bewährt. Da er sich aber auch in Gesellschaften als unterhaltsamer Plauderer erwiesen hatte, war ihm die Gunst der Freifrau von Plotho auf Zedtwitz zuteil geworden, die ihm eine ihrem Patronat unterstehende Pfarrstelle verschafft hatte, von der seine Familie leichter als in der Wunsiedeler Lehrerstelle zu ernähren war.
Am 1. August 1765 bezogen also der Pfarrer Richter, seine Frau Rosina, der zweieinhalbjährige Friedrich und sein einjähriger Bruder Adam das Pfarrhaus des bei Hof gelegenen Dorfes Joditz, das Jean Paul in seiner späten Autobiographie sein »Erziehdörfchen« nannte, weil sich in ihm seine Weltsicht ausgebildet hatte, die für eine Seite seines doppelgesichtigen Werkes und für manche seiner Lebensentscheidungen ausschlaggebend war. Seine Herkunft von armen Leuten und sein Behagen an dörflicher oder kleinstädtischer Enge wollte und konnte er nie verleugnen, so dass er später in Weimar dem Patriziersohn Goethe als ein wunderliches Wesen erscheinen musste und Schiller von ihm sagte: »Fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist«.
Abb.3: Joditz an der Saale. Aquarell von König. 1788
In seiner fragmentarischen Autobiographie hat der alte Jean Paul später seine Kindheit in Joditz als Idylle geschildert, die in den Einzelheiten aber oft wenig Idyllisches hat. Da dort erst sein bewusstes Leben begonnen hatte und er dort auch »das Wichtigste für den Dichter«, nämlich »das Lieben« erlernt hatte, schien ihm das Dorf sein wahrer, nämlich geistiger Geburtsort zu sein. Die Sächsische Saale, »gleich mir am Fichtelgebirge entsprungen, war mir bis dahin nachgelaufen« und schien ihm »das Schönste, wenigstens das Längste« des Dorfes zu sein. Sie »läuft um dasselbe an einer Berghöhe vorüber; das Örtchen selber aber durchschneidet ein kleiner Bach«. Er erwähnt an Gebäuden neben einem »gewöhnlichen Schloss« und der Kirche nur das Pfarrhaus, in dem er vom dritten bis zum 13. Lebensjahr wohnte, den Tod zweier jüngerer Schwestern erlebte und auch sein Schreib- und Leseleben begann. Später daran zurückdenkend, spürte er noch den »Wohlgeruch verwelkter Kindheitsjahre«, grüßte aus zeitlicher Ferne die Dorfleute, und da sein Leben lang immerfort irgendwo Kriege tobten, wünschte er ihnen: »Jede Schlacht ziehe weit von ihnen vorbei«.
Es war die sorgloseste Zeit seines Lebens, ärmlich, doch ohne Not. Zwar hatte die stets wachsende Familie nicht genug Betten, so dass der jüngere Bruder Gottlieb beim Adam und der Fritz beim Vater schlafen musste, aber das Einkommen des Vaters hatte sich fast verdoppelt, und man war zum Selbstversorger geworden, weil die Pfarre, zu der fünf Orte gehörten, auch Acker und Weiderechte besaß. In den zum Pfarrhaus gehörenden Ställen standen Rinder und Schweine, auf dem ummauerten Hof lärmten Hühner und Gänse, und zwei Mägde, die in der Gesindestube schliefen, gingen der Hausfrau zur Hand. Die Bauern des Dorfes, die nicht nur für den Gutsherrn, sondern auch für die Kirche zu fronen hatten, mussten die Feldarbeit machen, bei der der Pfarrer, der sie beaufsichtigte, ein wenig half. Dass auch der älteste Sohn manchmal mit anpacken musste, war selbstverständlich, änderte aber nichts an der Ausnahmestellung, die er unter den Kindern des Dorfes besaß.
Da der Pfarrer nicht nur geistliche Aufgaben zu erfüllen hatte, sondern als Standesbeamter wirkte, der Leumundszeugnisse auszustellen hatte und die Rekrutierungslisten führte, wurde ihm im Dorf mit Respekt begegnet, was in seinem Sohn schon früh das Bewusstsein weckte, anders als die anderen Dorfkinder, nämlich privilegiert zu sein. Das verschärfte einerseits die Isolierung, in der er von seinem Vater gehalten wurde, machte sie andererseits aber auch erträglich, weil es ein unerschütterliches Selbstvertrauen in ihm weckte, das als starkes Ich-Bewusstsein in Erscheinung trat. Dessen Erwachen beschrieb er später wie einen mystischen Vorgang, wie einen plötzlichen Akt der Emanzipation von allem, was ihn umgab. »An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.«
Unbewusst war diese Selbstvergewisserung auch gegen den Vater gerichtet, dessen Erziehung auf Einordnung in die Hierarchie der Gesellschaft gerichtet war. Um den Jungen in die Rolle des Pfarrersohns einzuüben, ließ er ihn sonntags den »Fronbauern der Woche« das »gesetzmäßige Halbpfundbrot samt Geld« austragen und nahm ihn zu Besuchen bei seinen Amtsbrüdern in den benachbarten Pfarrdörfern mit. Aus nichtigem Anlass nahm er ihn aus der Dorfschule, die der Junge gern besucht hatte, um ihn zu Hause selbst zu unterrichten, rühmte sich oft seiner guten Beziehungen zur Gutsherrschaft und stärkte im Sohn das Bewusstsein, von deren Gnade abhängig zu sein.
Diese Abhängigkeit war tatsächlich vorhanden, da der grundbesitzende Adel, der keine Steuern zu zahlen hatte, nicht nur die von ihm abhängigen Bauern beherrschte, sondern im Gutsbezirk auch die Polizeigewalt ausübte, die niedere Gerichtsbarkeit innehatte und neben der Schulaufsicht auch das Patronat über die Kirche besaß. In Preußen, wo Friedrich Wilhelm I. im Interesse der Souveränität des Königs die politische Macht des Adels gebrochen hatte, blieb dessen Vorherrschaft doch innerhalb der Gutsbezirke bestehen. In Kleinstaaten wie Ansbach-Bayreuth hatte der Adel sich teilweise den Fürsten noch nicht völlig untergeordnet, so dass 1791, als das Fürstentum preußisch wurde, der Kabinettsminister von Hardenberg in einigen Fällen erst mit militärischer Gewalt drohen musste, ehe sich der Adel zur Huldigung des Preußenkönigs entschloss. Auch als verordnet wurde, dass in den Kirchen das Gebet für den König vor dem für den Gutsherrn zu stehen habe, stieß das beim Adel auf Widerstand.
Über die gutsherrliche Willkür bei der Berufung von Pastoren und Lehrern kann man viel Erschreckendes oder auch Lustiges in der Satirenliteratur der Zeit nachlesen, und auch in Jean Pauls Werken kommt dergleichen vor. Im »Wutz« hat das Schulmeisterlein seinen Posten nur dem Umstand zu danken, dass der Kirchenpatron für seinen Koch, dem er die Stelle eigentlich zugedacht hatte, keinen Ersatz finden konnte, und im »Quintus Fixlein« hängt die Vergabe der Pfarrstelle von einem Hundenamen ab.
Für Jean Pauls Vater war diese Abhängigkeit selbstverständlich, also kein Grund zur Kritik. »Gleich einem alten lutherischen Hofprediger erkannte er die unabsehliche Größe des Standes wie das Erscheinen der Gespenster an, ohne vor beiden zu beben«, und die Bewunderung, die er der Herrschaft zollte, übte auch in den Kindern das Sichabfinden mit den Gegebenheiten ein. Wenn der Vater von einer Abendmahlsfeier der Herrschaft aus Zedtwitz zurückkam, wurden bei seinen bewundernden Erzählungen über »hohe Personen und deren Hofzeremoniell und über die Hofspeisen und Eisgruben und Schweizerkühe« Frau und Kinder in »das größte ländliche Erstaunen« versetzt. Sie konnten in des Vaters Erzählungen miterleben, wie »er selber aus dem Domestikenzimmer sehr bald zu dem Herrn von Plotho«...