Wohnst Du noch, oder zerstörst Du schon?
Stellen Sie sich vor: Ein älteres Ehepaar geht zu IKEA, bleibt lange vor dem Schrank »Bjursta« stehen, öffnet und schließt die Türen, zieht und schiebt die Schubladen, prüft das Holz, streicht über die Oberflächen, geht um das Stück herum, überlegt, sinniert. Schließlich sagt die Frau zu ihrem Mann: »Den nehmen wir. Der ist schön und solide, von dem wird unser Enkelchen noch etwas haben!«
Wenn ich diese fiktive kleine Episode in Vorträgen erzähle, gibt das verlässlich einen Lacher. Warum? Weil heute die Vorstellung völlig absurd scheint, dass man ein Möbelstück vererben könnte, ja dass man es in der Perspektive anschaffen könnte, es wäre nicht spätestens in fünf, sechs Jahren aus der Mode und würde ersetzt werden. Tatsächlich kauft man Möbel heute für den Sperrmüll, auf dem sie über kurz oder lang landen werden. Sie sind in Relation zu den verfügbaren Einkommen extrem billig, weshalb es nichts macht, sie wegzuschmeißen und à la mode zu ersetzen. Was IKEA und andere Billigmöbelhäuser geschafft haben, ist die Verwandlung von langlebigen in kurzlebige Konsumgüter. Während Durchschnittsfamilien früher lange sparten, um sich einen neuen Schrank leisten zu können, und sie ihn sich dann anfertigen ließen oder im Möbelhaus kauften, handelt es sich heute um Mitnahme- und Wegwerfartikel. Ökologisch betrachtet sind diese kurzlebigen Pseudomöbel nicht nur deswegen eine Katastrophe, weil sie nach kurzem Gebrauch entsorgt werden: In ihre Produktion geht auch wesentlich mehr Energie-, Material- und Transportaufwand ein als in jeden getischlerten Schrank. Die Ikeaisierung der Welt sieht in Zahlen so aus, dass der Konsum an Möbeln in den westlichen Gesellschaften alle zehn Jahre um 150 Prozent wächst.[11] Und IKEA ist inzwischen überall. Mit seinem ekelhaften Geduze, das den Kunden in genau dem infantilen Zustand anspricht, in den es ihn zu versetzen beabsichtigt.
Allein im 20. Jahrhundert wurde mehr Energie verbraucht als während der kompletten Menschheitsgeschichte davor. Im selben Zeitraum ist die Wirtschaft um das Vierzehnfache, die industrielle Produktion um das Vierzigfache angewachsen.[12] Die Menge an gekaufter Kleidung verdoppelt sich in den USA jahrzehntweise.[13] Aber wir verzeichnen nicht nur ein exorbitantes Mengenwachstum; viele Produkte fordern selbst immer mehr Material. Autos zum Beispiel verzeichnen über die letzten Jahrzehnte ein spektakuläres Wachstum. Ein VW Golf hat im Lauf seiner Bauzeit von 750 Kilogramm Gewicht auf 1,2 Tonnen zugelegt. Noch extremer ist der Mini. War der vor 40 Jahren tatsächlich klein und transportierte mit 34 PS und 617 Kilogramm Gewicht immerhin vier Personen, gibt es ihn heute als Limousine, Cabrio, Kombi, Coupé, Roadster und SUV, mit bis zu 211 PS und 1380 Kilogramm Gewicht.
Die Größe des heutigen Mini übertrifft lässig die des einstigen Inbegriffs des Oberklasse-Sportwagens Porsche 911. Der wiederum ist in seiner aktuellen Ausbaustufe so breit wie 1960 der legendäre Mercedes 300, der »Adenauer-Mercedes«. Für solches hypertrophes Wachstum, das von den surrealen »Stadtgeländewagen« Audi Q7, BMW X5, Porsche Cayenne und so weiter noch locker übertroffen wird, sind die Straßen, die Parkbuchten und die Autobahnen mittlerweile zu klein geworden. Folgerichtig fordert die größte und mächtigste NGO Deutschlands, der ADAC, eine Verbreiterung der Überholspuren in Autobahnbaustellen (die sich natürlich vervielfachen würden, wenn diese Forderung umgesetzt würde).
Und derlei Monsterautos, die in der Regel nach wie vor nur eine einzige Person transportieren, gibt es heute pro Haushalt nicht mehr nur einmal, sondern gleich zwei- bis dreifach, und in denselben Haushalten finden sich sechs Flatscreens, eine Klimaanlage, ein amerikanischer Kühlschrank mit Eiswürfelbereiter (falls mal Dean Martin vorbeikommt) und überhaupt eine sogenannte Landhausküche, mit deren technischer Ausrüstung man zwei vollbelegte Jugendherbergen mühelos versorgen könnte.
In mehr als 70 Prozent der amerikanischen Haushalte findet sich eine Bohrmaschine. Deren Nutzungsdauer beläuft sich auf durchschnittlich 13 Minuten, insgesamt.[14] In Deutschland prognostiziert man für das Jahr 2012 einen Absatz von 10 Millionen Flatscreen-Fernsehern.[15] Die Nutzungsdauer bei elektronischen Geräten verkürzt sich, den unermüdlichen Ingenieuren sei Dank, rasant, und mittlerweile werden in den USA 40 Prozent und in Europa 30 Prozent der Nahrungsmittel als Dreck entsorgt, weil sie nur noch gekauft, aber nicht mehr konsumiert werden.
Sehr grün: Ökostromlabel, Auswahl.
Unermüdlich produziert die Nachhaltigkeitsindustrie Berechnungen und Labels zu Carbon footprints, ökologischen Rucksäcken, virtuellem Wasser und übersieht dabei völlig, dass alles dieses längst in Produkte eingeht, die erstens niemand braucht und die zweitens gar nicht mehr konsumiert, sondern nur noch gekauft und weggeschmissen werden. Oder so funktionieren wie die Abfallerzeugungsmaschinen vom Typ »Nespresso«. Erst setzt sich die Strategie am Markt durch, pro Tasse Kaffee eine aufwendige Kunststoffkapsel mit zu verkaufen, um so das Produkt mit einem exorbitanten Preis und einem noch grandioseren Müllfaktor versehen zu können. In den bis zu 43 Cent teuren Kapseln sind je nach Hersteller zwischen sieben und sechzehn Gramm Kaffee enthalten; das Pfund Kaffee kommt da auf 30 Euro. Die Kaffeemaschinen sind dagegen vergleichsweise günstig, weshalb allein in Deutschland im Jahr 2011 mehr als eine Million Kapselkaffeemaschinen verkauft wurden.[16] Für die Umweltkosten der Kapseln liegen mir keine Berechnungen vor, aber es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis jemandem auffiel, dass hier eine veritable Öko-Schweinerei vorliegt. Folgerichtig begann man, Ökokaffeekapseln für die Kapselkaffeemaschinen herzustellen. Schwupps konnte ein Produkt als »umweltfreundlich« gelten, das es vor kurzem noch gar nicht gab und das ausschließlich aufgrund seiner Inexistenz umweltfreundlich war. Die nächste Stufe hat Nestlé bereits eingeläutet (siehe unten).
BabyNes: Es handelt sich bei der abgebildeten Person nicht um eine Ministerin.
Wahrscheinlich haben Sie beim Lesen der letzten Seiten das Gefühl gehabt, dass Sie längst etwas tun, was Sie freiwillig und bewusst nie beabsichtigt haben: Sie verzichten auf Ihre Freiheit, Ihr Leben nach Ihren eigenen Entscheidungen einzurichten. So wie Sie sich Ihren Lebensraum mit Produkten vollstellen, von denen Sie bis vor kurzem gar nicht wussten, dass Sie sie jemals haben wollen würden, so wenden Sie immer mehr Zeit dafür auf, sich in diesem Konsumuniversum für oder gegen irgendetwas zu entscheiden: Sie lesen Tests und Erfahrungsberichte, arbeiten sich durch Bedienungsanleitungen und Updates, rufen Preisvergleiche ab, schließen Verträge aller Art ab – weshalb Sie immer mehr kaufen, aber immer weniger konsumieren, was Sie gekauft haben.
Sie befriedigen also in Wahrheit nicht Ihre Bedürfnisse, sondern die eines Marktes, den es ohne Sie gar nicht gäbe. Sie sind wie der Mieter eines 20-Quadratmeter-Apartments, der auf den Balkon gehen muss, um den »Tatort« auf seinem Fernseher mit 60-Zoll-Bildschirmdiagonale verzerrungsfrei sehen zu können. Sie schränken Ihre Freiheit ein, um Platz für Produkte zu machen. Oder um Wochenendtrips mit dem Billigflieger und Flughafentransfers und Sicherheitskontrollen zu absolvieren, anstatt zu Hause zu bleiben und sich von der Arbeitswoche zu erholen – hat Ihnen das jemand befohlen? Wer?
Ein Marketing-Mann von Harley-Davidson hat einmal gesagt: »Bei Harley kaufen sie ein Lebensgefühl und bekommen noch kostenlos ein Motorrad dazu.« Als Kunde von Lifestyle-Anbietern sind Sie längst Teil der Benutzeroberfläche von Unternehmensstrategien geworden, die Sie als ihr eigentliches Produkt erfunden haben: als unablässiger Neu-Bedürfnis-Haber, dem man in immer kürzeren Zeitabständen immer mehr Neues andreht. Zum Beispiel ist Apple kaum daran interessiert, welche Krankheiten die Arbeiter bekommen, die bei Foxconn die Displays imprägnieren, über die Ihre Finger dann so geschmeidig gleiten können, dafür umso mehr daran, wie sich die Produktion von immer mehr Geräten für immer absurdere Zwecke in Ihrer Innenwelt einrichtet. In der haben sich die Prioritäten, die Aufmerksamkeiten und die Wahrnehmungen bereits so verändert, dass Sie längst schon ein digitaler Junkie geworden sind, der Entzugserscheinungen bekommt, wenn das iPhone weg ist. Selbst auf Musikfestivals bilden sich die längsten Schlangen vor den Aufladestationen für Handys; nicht auszudenken, wenn man nicht online gehen kann. Der Anblick der szenigen jungen Paare, die in szenigen Berliner Bars nebeneinandersitzen und auf die Bildschirme ihrer MacBooks starren und von Zeit zu Zeit irgendwelche Tasten auf ihren Tastaturen drücken, hat für mich etwas zutiefst Deprimierendes.
Mich verstört der leichtherzige...