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Die SPIEGEL-Affäre

Ein Skandal und seine Folgen - Ein SPIEGEL-Buch

VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783641102241
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
»Ein Abgrund von Landesverrat« - als die Demokratie in Gefahr geriet
Im Oktober 1962 veröffentlichte der SPIEGEL einen Artikel, in dem die Bundeswehr als »bedingt abwehrbereit« beschrieben und die auf Atomwaffen setzende militärische Strategie des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß scharf attackiert wurde. Das Nachrichtenmagazin löste damit eine der größten politischen Affären der Nachkriegszeit aus: Die Staatsanwaltschaft ging wegen des Verdachts des Landesverrats gegen den SPIEGEL vor und ließ sowohl Herausgeber Rudolf Augstein als auch Conrad Ahlers, den Autor der Titelgeschichte, und weitere Mitarbeiter zum Teil mehrere Monate lang in Untersuchungshaft nehmen. Dieser Angriff auf die Pressefreiheit rief heftige Proteste in der Öffentlichkeit hervor. Namhafte Historiker, Journalisten und Zeitzeugen untersuchen in diesem Band Ursachen und Folgen der Affäre sowie ihre Bedeutung für Demokratie und Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik.

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Leseprobe

Weckruf für die Demokratie – die SPIEGEL-Affäre: 50 Jahre danach

Von Hans-Ulrich Wehler

Ist die SPIEGEL-Affäre von zahlreichen Sympathisanten zum Mythos eines heroischen Kampfes um Meinungsfreiheit überhöht worden – und bedarf sie deshalb der realistischen Zurückstutzung auf das Format eines Skandals unter vielen anderen? Oder hat sie sich zu Recht als Wendepunkt in der politischen Kultur der Bundesrepublik erwiesen, mit außerordentlich langlebigen positiven Auswirkungen bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein? Kann also die Geschichte der westdeutschen Innenpolitik, der politischen Mentalität des Landes, der Reformfähigkeit seines politischen und sozialen Systems ohne die Anerkennung dieses Wendepunktes gar nicht angemessen erfasst werden?

Gegen die Kritik, wie sie Christina von Hodenberg am intelligentesten in ihrem faszinierenden Buch über die westdeutsche Medienöffentlichkeit zwischen 1945 und 1973 präsentiert hat,2 möchte ich den Charakter der SPIEGEL-Affäre als Unikat verteidigen.

Zuvor eine persönliche Bemerkung, wo und wie mich die SPIEGEL-Affäre erreichte. Ich war seit dem Sommer 1962 mit meiner Familie in Stanford, um ein Buch über den amerikanischen Imperialismus voranzutreiben. Der Aufenthalt wurde durch ein großzügiges Stipendium der Dachorganisation aller amerikanischen wissenschaftlichen Institutionen, des »Council of Learned Societies«, finanziert: ein üppiges Monatsgehalt, Sondergeld für Bücher und den Besuch von Archiven und Tagungen, vor allem aber eine beispiellose Förderungsdauer: Wenn man sein Projekt nicht in zwei Jahren schaffen konnte, stand eine Verlängerung auf vier oder fünf Jahre in Aussicht.

Mitten in diese paradiesische Idylle platzte die Nachricht von der SPIEGEL-Affäre. Die amerikanischen Medien berichteten wie immer kärglich über die deutschen Dinge, zumal sie die Kuba-Krise gleichzeitig mit ganz anderen Problemen konfrontierte. Aber ich bekam mit knapper Verspätung den SPIEGEL immer zugesandt, da ich mit dem ersten Geld für Nachhilfestunden den SPIEGEL vom ersten Heft an abonniert hatte, mithin als SPIEGEL-Leser der ersten Stunde auch in Amerika nicht auf ihn zu verzichten brauchte.

Die Affäre wurde zum Dauergespräch mit den amerikanischen Kollegen. Unsere Empörung hielt sich auf hohem Niveau. Wir litten unter der Abwesenheit vom Schauplatz der Ereignisse, spürten die Ohnmacht von Leserbriefschreibern. Schließlich beschlossen wir, in Amerika zu bleiben, wenn die Krise keinen positiven Ausgang nähme, und das blieb wochenlang ganz ungewiss. Ich hatte gerade ein Angebot von der Universität in Berkeley erhalten und hielt es mir, obwohl ich trotz der Kennedy-Begeisterung die Bundesrepublik mit ihren politischen Problemen für weitaus attraktiver hielt, als Absage an eine drohende Strauß-Republik offen. Erst nach dem Rücktritt von Strauß, nach der Neubildung der Bonner Regierung und nach Augsteins Entlassung löste sich die Drucksituation auf. Aber ich habe in Kalifornien aus der Entfernung die Polarisierung der westdeutschen öffentlichen Meinung bereitwillig mitgemacht.

In aller Kürze, da die Tagung sicherlich auf alle Aspekte eingehen wird: Worum ging es? Der SPIEGEL hatte am 8. Oktober 1962 den Artikel »Bedingt abwehrbereit« über das Nato-Manöver »Fallex 62«, die katastrophalen Folgen eines atomaren Angriffs der Sowjetunion, die niedrigste dabei erteilte Abwehrnote für die Bundesrepublik, deutsch-amerikanische Gegensätze in der atomaren Kriegsführung gebracht und das alles mit pointierter Kritik an Bundeswehr-Generalinspekteur Friedrich Foertsch und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß verbunden. Fast alle Informationen, die sorgfältigen Recherchen zu verdanken waren, waren schon vorher publiziert worden. Doch hatte der SPIEGEL von Oberst Alfred Martin aus dem Führungsstab des Heeres auch delikates Geheimmaterial zugespielt bekommen.

Die Bundesanwaltschaft begann bereits am nächsten Tag mit Ermittlungen gegen das Magazin und eventuelle Nachrichtengeber. Nach einer merkwürdigen Atempause stürmten gut zwei Wochen später fünfzig Polizisten in einer Nachtaktion die Redaktionsräume und beschlagnahmten Abertausende von Dokumenten. Rudolf Augstein wurde verhaftet, ebenso sein Rechtsanwaltsbruder Josef Augstein, Verlagsdirektor Hans Detlev Becker und dank der illegalen Intervention von Strauß beim deutschen Militärattaché in Madrid auch Conrad Ahlers, der stellvertretende Chefredakteur, der aus dem spanischen Urlaub zurückflog und am Flughafen in Frankfurt verhaftet wurde.

Die Reaktion in der Öffentlichkeit gewann geradezu den explosiven Charakter eines Erdbebens. In dichter Abfolge reagierten die Fernsehmagazine und großen Illustrierten, die Rundfunksender und die Organe der Tagespresse. Binnen kurzem fiel die harsche Kritik unisono aus. In allen Universitätsstädten fanden sich Professoren und Studenten zu Protestveranstaltungen zusammen. Die seit den späten 1950er Jahren anlaufende Entwicklung zu einer kritischen Öffentlichkeit wurde mit massiver Schubkraft beschleunigt. Adenauers törichte Invektive gegen den »Abgrund von Landesverrat« trug das ihre dazu bei.

Im Nu weitete sich die Affäre auch zu einer Regierungskrise aus. Justizminister Wolfgang Stammberger von der FDP war über den Vorgang nicht informiert worden und trat mit vier anderen FDP-Ministern aus der schwarz-gelben Koalition aus. Selbst vier CDU-Minister wollten nicht länger mit Strauß im Kabinett bleiben. Der entschuldigende Kommentar von Innenminister Hermann Höcherl, die Affäre sei »etwas außerhalb der Legalität verlaufen«, konnte nur Hohn auslösen. Strauß hatte vor dem Parlament zunächst jede Beteiligung abgestritten, musste dann aber seine Lüge, namentlich in der Causa Ahlers, zugeben. Am 30. November trat er endlich von seinem Ministeramt zurück. Die Bundeswehr verabschiedete sich ganz so instinktlos mit dem anachronistischen Ritual des Großen Zapfenstreichs von dem politischen Lügner, wie sie das auch fünf Jahrzehnte später mit dem Plagiatkünstler tat.

Adenauer hatte inzwischen mit der SPD Gespräche über eine Große Koalition geführt, band die FDP jedoch zurück an ein straußfreies Kabinett und konnte am 13. Dezember die neue CDU/FDP-Regierung mit dem Versprechen präsentieren, dass er selber im Sommer 1963 nach 14 Amtsjahren zurücktreten werde. So wurde die schwerste innenpolitische Krise der Bundesrepublik seit 1949 mit Schmerzen gelöst.

Augstein wurde im Februar 1963 nach 103 Hafttagen entlassen, umgeben vom Nimbus des Heros der Meinungsfreiheit. Denn in der Bundesrepublik hatte sich in den vergangenen Wochen ein mächtiger Trend der Protestmobilisierung zugunsten der Pressefreiheit, damit aber überhaupt ein kraftvoller Liberalisierungsschub und die Abwendung von obrigkeitsstaatlichen Traditionen durchgesetzt.

Diese Befreiung zum entschiedenen Protest zugunsten der liberalen Demokratie löste namentlich unter Intellektuellen eine heftige Polarisierungswelle aus. Amnesty International, die Humanistische Union, der Kongress für kulturelle Freiheit, die Gruppe 47 und andere Verbände fanden sich alle im Lager der SPIEGEL-Verteidiger wieder, während das Häuflein der Regierungsverteidiger schnell zusammenschmolz.

Typisch für den Konflikt war der aufsehenerregende Briefwechsel zwischen dem Freiburger Historiker Gerhard Ritter und dem Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher. Diese Kontroverse bleibt ein besonders aufschlussreiches Dokument der damaligen Gegensätze. Ritter, eine streng etatistische, borussophile Leitfigur der Historikerschaft in der frühen Bundesrepublik, verteidigte in der »FAZ« (10.11.1962) emphatisch die Regierung. Der wahre »Skandal« stecke im »Theaterdonner der politischen Literaten und Parteiinteressen«. Verständnisvoll äußerte er sich über die »eine oder andere Unschicklichkeit (oder auch Inkorrektheit) unserer Strafverfolgungsorgane«, da doch der »Terror der Nachrichten-Magazine« und ihre »Giftpfeile« ausschlaggebend seien. Sie stünden für eine »jämmerliche Sorte von demokratischer Freiheit«.

Sofort antwortete Bracher (13.11.1962), der mit seiner »Auflösung der Weimarer Republik« eines der wichtigsten politischen Bücher der alten Bundesrepublik geschrieben hatte. Ritters Brief sei ein »bestürzendes Dokument«, das der sogenannten »Staatsräson den fast bedingungslosen Vorrang vor innerer Freiheit und Rechtsstaatlichkeit« einräume. Ritter stilisiere sich als Bewahrer »vaterländischer Empfindung« gegen »unsere schwatzhafte Demokratie«, rechtfertige aber »nichts anderes als den so verhängnisvollen Obrigkeitsstaat auf Kosten unserer Demokratie.« Den »schon heute unübersehbaren« Schaden der Affäre sah Bracher in einem »Anschauungsunterricht, der Zynismus und Resignation erzeugt«, anstatt »das Verständnis für das Wesen und die Probleme der Demokratie« zu unterstützen. Zutage trete damit die Gefahr eines »Fortbestehens rein obrigkeitsstaatlicher Staatsideologie, die die Bürger zu Untertanen degradiert« und einer »Militärverteidigung die Prinzipien der Demokratie« unterwirft. Freilich gebe es auch den »positiven Aspekt«, dass die Affäre gefährliche Tendenzen aufdecke und eine »umfassende Diskussion in Gang setze«.

Bracher argumentierte hier repräsentativ für die politische Mentalität der jungen Generationen, die sich vom Anachronismus der Ritter’schen Position abgestoßen fühlten. In dieser hin und her wogenden Diskussion tauchten erstmals die Fronten auf, die in der Fischer-Kontroverse über die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg,...

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