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Ein letzter Besuch

Begegnungen mit der Weltmacht China

AutorHelmut Schmidt
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641105853
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Helmut Schmidt hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er China für eine entscheidende Weltmacht des 21. Jahrhunderts hält. Warum gerade wir Deutschen vor dem Reich der Mitte nicht Angst, wohl aber Respekt haben sollten und was Europa von der viertausendjährigen chinesischen Kultur lernen kann - das sagt er in seinem neuen Buch mit der ihm eigenen Klarheit.



Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und seit 1983 Mitherausgeber der ZEIT. Er gehörte zu den bekanntesten und beliebtesten Politikern und Publizisten in Deutschland, seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, u.a. »Menschen und Mächte« (1987), »Kindheit und Jugend unter Hitler« (1992), »Die Mächte der Zukunft« (2004), »Außer Dienst« (2008), »Vertiefungen. Neue Beiträge zum Verständnis unserer Welt« (2010) sowie »Ein letzter Besuch. Begegnungen mit der Weltmacht China« (2013). Er starb im November 2015 im Alter von 96 Jahren.

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Leseprobe

Im Mai des Jahres 2012 bin ich – inzwischen 93 Jahre alt – ein letztes Mal nach Ostasien gereist. Das Motiv war, zwei alte Freunde noch einmal zu treffen, nämlich Lee Kuan Yew in Singapur und Zhu Rongji in Peking. Der eine hat als Ministerpräsident dreißig Jahre lang die Geschicke Singapurs bestimmt, der andere war als Ministerpräsident der Volksrepublik China Vorgänger von Wen Jiabao.

Ich habe Lee Kuan Yew im Laufe der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei einem Besuch in Singapur kennengelernt. Daraus hat sich im Laufe der späten achtziger und neunziger Jahre durch Vermittlung des früheren amerikanischen Außenministers George Shultz eine Freundschaft entfaltet, die bis heute anhält. In meinem 1996 erschienenen Buch »Weggefährten« habe ich Lee Kuan Yew ein ausführliches Porträt gewidmet, in dem ich meine Bewunderung für seine Lebensleistung zum Ausdruck brachte.

Bei der Vorbereitung meiner Reise kam mir die Idee, die Gespräche mit Harry Lee aufzeichnen zu lassen und, falls sich die Mitschriften als substantiell erwiesen, anschließend ein kleines Buch zu veröffentlichen. Mein Freund war mit diesem Vorschlag einverstanden. Wir hatten uns in den vergangenen Jahren wiederholt über eine Reihe gemeinsamer, uns beide interessierender Themen unterhalten und dabei immer wieder festgestellt, dass wir trotz unterschiedlicher Perspektiven – Harry aus der Sicht eines vom Konfuzianismus geprägten Asiaten, ich aus europäischer Sicht – in vielen Punkten übereinstimmen und die Welt auf ähnliche Weise sehen.

Die Gespräche, die wir am 5., 6. und 7. Mai 2012 im Shangri-La Hotel in Singapur führten, wurden moderiert von meinem Freund Matthias Naß, der Lee seit fast zwanzig Jahren kennt und auch einige Interviews mit ihm geführt hat. Er sorgte dafür – wie ich in der anschließenden Pressekonferenz etwas flapsig bemerkte –, dass alle Fragen angeschnitten und keine gelöst wurde. In Wirklichkeit war der Wiederaufstieg der Weltmacht China das zentrale Thema, das uns am meisten beschäftigte und auf das wir immer wieder zurückkamen.

Dieses Buch setzt an vielen Stellen gemeinsames Wissen voraus, auch und gerade da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind. Um dem Leser das Verständnis der Gespräche mit Lee Kuan Yew zu erleichtern, will ich in dieser Einleitung einige der Voraussetzungen benennen. Dabei greife ich auf Erfahrungen zurück, die ich mir in einem halben Jahrhundert intensiver Beschäftigung und auf mehr als einem Dutzend Reisen nach China und in den Fernen Osten erworben habe. Der im Anhang abgedruckte Text »Vier Freunde« von Matthias Naß stellt meine Freundschaft mit Harry Lee noch in einen ganz besonderen persönlichen Zusammenhang. Wenn wir uns treffen, sind nämlich zwei amerikanische Freunde im Geist mit dabei: George Shultz und Henry Kissinger.

Beide sollen an dieser Stelle deshalb auch kurz zu Wort kommen. Zunächst George Shultz, der in seinen 1993 erschienenen Erinnerungen »Turmoil and Triumph« schrieb, dass China mit Recht stolz sein könne auf seine jahrtausendealte Kultur. »Das chinesische Volk ist unendlich begabt. Auch unter dem Kommunismus hat es große Leistungen vollbracht. Je freier die Chinesen werden, desto großartiger werden sie ihre Fähigkeiten entfalten.« Ganz ähnlich urteilte Henry Kissinger in seinem jüngsten China-Buch: »Die zeitliche Dimension der Vergangenheit Chinas gestattet es den chinesischen Führern, den Mantel einer nahezu endlosen Geschichte zu benutzen, um ihr Gegenüber zu einer gewissen Bescheidenheit zu veranlassen.«

Schon in den sechziger Jahren habe ich geahnt, dass China wieder zu einer Weltmacht aufsteigen würde. Deshalb unternahm ich 1971 eine größere Reise nach Ostasien. Deutschland hatte damals keine diplomatischen Beziehungen mit China; deshalb musste ich als damaliger Bundesverteidigungsminister das Land von außen betrachten. Ich habe damals auf China mit japanischen, (süd)koreanischen, thailändischen und australischen Augen geschaut. Am Ende jener Reise stand für mich fest: China wird den Weg zurück zur Weltmacht finden.

Deshalb habe ich Bundeskanzler Willy Brandt gedrängt, diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufzunehmen. Dies fiel ihm nicht sonderlich schwer, weil gleichzeitig die Annäherung zwischen den USA und China in Gang kam. Deutschland und die Volksrepublik China haben 1972 diplomatische Beziehungen hergestellt, sieben Jahre vor den Vereinigten Staaten von Amerika.

Zu jener Zeit war der Kalte Krieg zwischen West und Ost noch in vollem Gange. Man verfolgte in Washington, in London oder Paris Willy Brandts Ostpolitik mit Skepsis, sogar mit Misstrauen. Die Zeitungen schrieben vom Weltkommunismus und unterstellten ein gleichgerichtetes Zusammenspiel zwischen Peking und Moskau. Man sprach von China als Rotchina und von Taiwan als von Formosa. Gleichzeitig liefen viele Studenten in den USA, in Paris, aber auch in Frankfurt und Berlin mit roten Fahnen und mit Mao-Buttons auf der Brust herum und schwärmten von Maos ekelhafter Kulturrevolution.

Als Bundeskanzler reiste ich zum ersten Mal im Oktober 1975 auf Einladung des Ministerpräsidenten Zhou Enlai nach Peking. Weil Zhou schon sehr krank war, wurde ich am Flughafen von seinem Stellvertreter Deng Xiaoping empfangen, den ich in den folgenden anderthalb Jahrzehnten noch zwei weitere Male zu ausführlichen Gesprächen getroffen habe. Das Straßenbild in Peking zur Zeit meines ersten Besuches habe ich nicht vergessen. Massen von Menschen waren auf unbeleuchteten Fahrrädern unterwegs, alle einheitlich in baumwollenen blauen, bisweilen auch grauen »Mao-Anzügen«, kaum jemals ein Auto. Bei dem Gespräch mit Mao Zedong, das etwa drei Stunden dauerte, saß Deng Xiaoping dabei, ohne ein einziges Wort zu sagen. Drei Jahre später habe ich begriffen, dass es Deng möglicherweise das Leben gekostet hätte, wenn er in seinem anschließenden langen Gespräch mit mir auch nur in einem oder zwei Punkten von der Linie Mao Zedongs abgewichen wäre.

Die schweren Fehler Mao Zedongs, der sogenannte »Große Sprung nach vorn«, auch seine Vergehen im Zuge der »Großen Proletarischen Kulturrevolution«, waren mir damals schon deutlich, auch seine menschliche Rücksichtslosigkeit, ja Brutalität. Zugleich besaß er offensichtlich eine sehr große Autorität. Mao hatte erkennbar einen Schlaganfall hinter sich, er hatte nicht mehr viel Lebenszeit vor sich. Im Westen der Welt fürchtete man, die sogenannte Viererbande würde Maos Erbe antreten. Tatsächlich ist es dann ganz anders gekommen.

Was mich damals schon faszinierte, war das Bewusstsein von der viertausendjährigen Geschichte der chinesischen Zivilisation und ihrer ungebrochenen Vitalität. Ganz im Gegensatz zu den untergegangenen Zivilisationen der alten Ägypter, der alten Perser, der alten Griechen, der Römer, der Mayas oder Inkas hat sich die chinesische Kultur über die Jahrtausende gehalten.

Anders als in den allermeisten anderen Hochkulturen der Weltgeschichte hatte es in China niemals eine das ganze Volk umfassende Religion gegeben. Zwar gab es buddhistische, später islamische und christliche Einflüsse, aber es kam fast nie zu religiös aufgeladenen Machtkämpfen. Der Konfuzianismus – ähnlich auch der Taoismus – war und ist keine Religion. Sondern im Kern ist er eine umfassende Ethik, die von der Familienethik über die Gesellschaftsethik bis zur Staats- und Herrschaftsethik reicht.

Ich hatte auch ein zweites Charakteristikum der chinesischen Geschichte begriffen: Kaum jemals hat ein chinesischer Kaiser mit Gewalt seine Macht territorial ausgedehnt. Militärische Eroberungen kamen in der chinesischen Geschichte nur sehr selten vor. Obwohl die Schiffe des Admirals Zheng He, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu langen Expeditionen aufbrachen, zwanzigmal so groß waren wie einhundert Jahre später die Schiffe von Vasco da Gama oder Kolumbus, ist diese Flotte nicht zur Eroberung fremder Länder eingesetzt worden. Das Reich der Mitte – »Middle Kingdom« – war sich selbst genug. Auswärtige Mächte mussten ihre Unterwürfigkeit durch Kotau bezeugen, durch Tribute und Geschenke. Fremde Eroberer wie der Mongole Dschingis Khan oder die Mandschus, die sich selbst zum Kaiser machten, wurden ziemlich mühelos sinisiert und eingeschmolzen.

Bis ans Ende des europäischen Mittelalters ist China wissenschaftlich und technologisch den Europäern ihrer Zeit hoch überlegen gewesen. Die Chinesen konnten längst mit beweglichen Lettern Bücher drucken, sie konnten Stahl, Schießpulver, Kanonen und Granaten herstellen, sogar Raketen. Zugleich wurde das Land mit Hilfe des Konfuzianismus regiert. Der Weg in die Herrschaftsklasse und an die Spitzen der politischen Beamtenschaft führte über Bildung und Ausbildung, insbesondere über Kenntnisse der ererbten Literatur. Wer aufsteigen wollte, musste ein umfangreiches, höchst kompliziertes System von literarischen Prüfungen bestehen. Die persönliche Herkunft spielte keine entscheidende Rolle. Sozialer Aufstieg war in China immer möglich. Wohl aber spielten in Chinas Gesellschaft der Rang als Mandarin und der Respekt vor den Hierarchien von Mandarinen die entscheidende Rolle.

Mit dem Ende der Ming-Dynastie begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts der allmähliche Niedergang der bisherigen kulturellen Hochphase. Entscheidend war der zunächst noch langsame außenpolitische Machtverfall. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zwangen die europäischen Mächte China zur Öffnung seiner Hafenstädte. Sie errichteten eine Reihe von Quasi-Kolonien, in den Hafenstädten »Konzessionen« genannt. Am Ende des ersten Japanisch-Chinesischen Krieges 1894/95 verlor China die Insel Taiwan (damals noch portugiesisch Formosa genannt), es verlor auch seine Vorherrschaft über die...

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