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Schriftliche Erzählungen in Deutsch als Erst-, Zweit- und Fremdsprache im Vergleich

AutorNatalia Lemdche
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783656403968
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Didaktik - Deutsch - Deutsch als Fremdsprache, Note: 1,15, Universität Augsburg (Lehrstuhl Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und seine Didaktik), Sprache: Deutsch, Abstract: 'Erzählen ist eine Allerweltstätigkeit. Man kann etwas erzählen, man kann von etwas erzählen, und es gibt nichts auf der Welt, das nicht zum Gegenstand des Erzählens werden könnte.' (Weber 1989: 42) Erzählen gehört zu den zentralen kommunikativen Fähigkeiten des Menschen. Die Erzählung als Textsorte eignet sich aus zwei Hauptgründen für eine empirische Untersuchung der sprachlichen Kompetenz: Zum einen ist Erzählen eine Diskursform, zum anderen hat die Diskursform sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eine große Bedeutung, da dadurch solche kommunikativen Funktionen wie Informationsvermittlung, Unterhaltung oder psychische Entlastung erfüllt werden (vgl. Bitter Bättig 1999: 11). Das Wort 'Erzählung' stammt vom Verb 'erzählen' und wird im Deutschen ganz auf den Akt des Erzählens konzentriert (vgl. Fludernik 2006: 9). Erzählen gehört zu den grundlegenden Kommunikationsformen des Menschen. Ein großer Teil der menschlichen Kommunikation besteht aus Erzählungen. Erzählt wird überall: im Alltag, in der Literatur und im Unterricht. Erzählt wird unter vier Augen und vor einem großen Publikum. Erzählt wird sowohl von realen und fiktiven Ereignissen als auch von selbsterlebten und fremden Erfahrungen. Vielfältig sind die Situationen, in denen erzählt wird, ebenso die Inhalte, die beim Erzählen wiedergegeben werden, und auch die Motive, aus denen heraus erzählt wird (vgl. Boueke 1989: 13). Kaum eine andere sprachliche Verständigungsform ist derart allgegenwärtig wie das Erzählen, und keine ist innerhalb von Interaktionsprozessen unterschiedlichster Art so vielseitig verwendbar. (ebd.) In der Alltagskommunikation erzählt man von sich selbst oder von den Geschehnissen, zu denen man in einem bestimmten beispielsweise emotionalen Verhältnis steht. Erzählt wird monologisch und dialogisch, mündlich und schriftlich. Ursprünglich war die gesprochene Sprache die einzige Form der Kommunikation, und es wurde nur mündlich erzählt. Mit der Verbreitung der Schriftsprache setzten sich die schriftlichen Erzählformen immer mehr durch. Die Rolle des Erzählens für die menschliche Kultur war und ist nach wie vor sehr bedeutend. Die Ursprünge der Schriftkulturen finden sich bereits in Mythen. Auch die Leistungen der Vorfahren und die Fortschritte der Menschheit werden als Geschichten bzw. Erzählungen im kulturellen Gedächtnis niedergelegt.

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Leseprobe

7 Erzählanlässe und Textstimuli


 

Der Erzählanlass soll zum Erzählen motivieren und muss daher sehr sorgfältig ausgewählt werden. Als einer der entscheidenden Faktoren ist er maßgeblich dafür verantwortlich, ob man gerne erzählt oder nicht. Des Weiteren bedingt und beeinflusst der Erzählanlass Struktur und Muster der Erzählung (vgl. Becker 2005: 59). Der Erzählstimulus kann also einen bedeutenden Einfluss auf die Erzählleistung des Erzählers ausüben. Erzählfähigkeiten sind von bestimmten narrativen Gattungen abhängig. Laut Bergmann/Luckmann (1995: 292) gehört das Erzählen zu den rekonstruktiven Gattungen der Sprache. Darunter wird die Form der kommunikativen Gattungen verstanden, deren Gegenstand es ist, Erlebnisse oder Sachverhalte sprachlich zu rekonstruieren. Sie sind nicht an Raum und Zeit gebunden. Die Erzählung rekonstruiert narrativ strukturierte Sachverhalte. Es gibt dabei unterschiedliche Formen und Arten dessen, was rekonstruiert wird. Becker (1995: 59) bezeichnet diese als Erzählformen und unterscheidet zwischen:

 

 Fantasieerzählung

 

 Erlebniserzählung

 

 Bilder- und

 

 Nacherzählung.

 

Eine Erzählung kann sowohl eine primäre Produktion als auch eine Reproduktion sein. In der Forschungsliteratur spricht man in diesem Zusammenhang von der freien Textproduktion sowie der Textreproduktion (vgl. Günther 1993). Bei Ersterer ist die Erzählung konzeptuell und sprachlich ein unabhängiges Produkt des Erzählers. Es gibt keinen unmittelbaren Anreiz oder keine direkte Vorlage zu diesem Produkt. Der Inhalt kann erstens einer realen oder zweitens einer fiktiven Welt entstammen (Erlebnis- oder Fantasieerzählung). Eine Erzählung kann aber auch eine Reproduktion einer narrativ strukturierten Vorlage sein. Sie kann dann drittens eine visuelle oder viertens eine sprachliche Vorlage reproduzieren (Bilder- oder Nacherzählung). Bei den textreproduktiven Verfahren besteht eine konkrete Vorlage in Form einer fertigen Geschichte, die reproduziert werden muss. Eine visuelle Geschichtenvorlage bilden beispielsweise Bildergeschichten. Daneben existieren sprachliche Geschichtenvorlagen, z. B. Märchen, Fabeln, Sagen oder Mythen, bei deren Reproduktion auf sprachliche Vorformulierungen zurückgegriffen werden kann. Des Weiteren gibt es Mischformen, bei denen sowohl sprachliche als auch visuelle Vorgaben als Erzählstimuli angeboten werden, z. B. Nacherzählen eines Films (vgl. Becker 2005: 54).

 

7.1 Empirische Befunde


 

In den neueren Forschungen gehen Untersuchungen auf die Unterschiede zwischen Textproduktion und Textreproduktion ein (vgl. Günther 1993, Pinto/Spinillo 1994, Becker 2005). So untersuchten Pinto/Spinillo (1994, zitiert in Becker 2005: 55) die narrative Kompetenz bei Kindern zwischen vier und acht Jahren, indem sie Fantasiegeschichten mit Erzählungen zu visuellen Stimuli verglichen. In einem Vorversuch kam Spinillo (ebd.) zum Ergebnis, dass Erzählungen, die ohne visuelle Stimuli produziert worden waren, ein deutlich höheres Niveau an narrativer Struktur aufwiesen als Erzählungen, die anhand der visuellen Vorlagen entstanden waren. Hough et al. (1987: 6ff.) verglichen in ihrer Studie, allerdings unter dem didaktischen Aspekt des Erzählanlasses, die Varianten einzelnes Bild und Bildreihe mit der Aufforderung, eine eigene Geschichte zu erzählen. Es stellte sich heraus, dass freie Erzählungen doppelt so lang waren wie Erzählungen, die mit visuellen Vorlagen produziert worden waren. Auch in der Studie von Cain/Oakhill (1996: 187ff.) wurde die Beziehung zwischen Verstehenskompetenz und der Erzählfähigkeit bei Kindern zwischen sieben und acht Jahren untersucht, indem Erzählungen nach visuellen Vorlagen mit Erzählungen zu Themenstimuli kontrastiert wurden. Es wurde festgestellt, dass Erzählungen, die nach einer Bildfolge von sechs Bildkarten produziert worden waren, deutlich kürzer waren. Der zweite Befund, zu dem Cain/Oakhill kamen, war, dass Erzählungen nach visuellen Stimuli tendenziell keine Schlusssequenzen besaßen.

 

Auch Wolf u. a. (2007: 155ff.) verglichen Bildergeschichten mit freien Erzählungen, um zu überprüfen, ob die von ihnen entwickelten Erwerbsstufen auch für andere Erzählformen gelten. Es zeigte sich, dass bei freien Erzählungen strukturschwächere Texttypen überpräsentiert waren. Laut den Autoren (ebd.: 175) liegt dies an der größeren Episodenzahl bei freien Erzählungen, wodurch die Struktur oft vernachlässigt wird.

 

7.2 Erzählen nach einer Bildergeschichte


 

Die Bildergeschichten wurden in den fünfziger Jahren für den Aufsatzunterricht erschlossen. Seitdem haben sie sich als Schreibanlässe immer stärker durchgesetzt (vgl. Tille 1968: 57). Vom „Erzählen nach Bildern“ spricht man, wenn ein Einzelbild bzw. eine Folge von zwei oder mehreren Bildern, die einen gedanklichen Zusammenhang aufweisen, Ausgangspunkt für das Herstellen eines Textes ist. Aus einer Geschichte ohne Worte entsteht so eine Geschichte in Worten (vgl. Beck/Hofen 2003: 106). Bildergeschichten sind nach Ott (2000: 21) Erzählungen, die in Worte gefasst werden müssen. Der Begriff Bildergeschichte bezeichnet also die nach einer Bildergeschichte erzählte Geschichte (vgl. Becker 2005: 63). Beim Erzählen einer Bildergeschichte liegt ein visueller Stimulus vor. Bildergeschichten bilden demnach eine visuelle Geschichtenvorlage – eine Vorlage in Form einer fertigen Geschichte, die der Schreiber zu reproduzieren hat. Der Schreiber sieht Bilder und muss sie zu einer sequenziellen Geschichte abstrahieren (vgl. ebd.). Somit liegt eine vorgegebene Struktur bezüglich der handelnden Personen, des Ortes und der Zeit vor. Je nachdem, ob der Rezipient die Bildergeschichte vor Augen hat oder nicht, ist die Erzählwelt den beiden zugänglich oder nicht. Grünewald (1991: 56) unterscheidet Bildergeschichten mit engen und mit weiten Bildfolgen.

 

Die enge Bildfolge rückt die Einzelbilder aneinander, inhaltlich, kausal, zeitlich, wie Perlen auf eine Schnur gereiht. So kann [...] ein Bewegungs- wie ein äußerer und innerer Handlungsprozess geschildert werden, kann Zeit gerafft oder gedehnt werden. (ebd.: 56)

 

Die weite Bildfolge reiht dagegen „additiv einzelne prägnante Szenen aneinander, in der Zeitfolge eher springend“ (Grünewald 1991: 64).

 

Die Nachteile bzw. die Gefahren, die eine Bildergeschichte verursachen kann, wurden oben bereits beschrieben und konnten in einschlägigen Untersuchungen belegt werden. Dies ist allerdings kein Grund, auf Bildergeschichten zu verzichten. Viel wichtiger ist es dabei zu überlegen, welche Bildergeschichte für welche Zielgruppe und zu welchem Zweck eingesetzt wird. Eine Bildergeschichte erscheint aus mehreren Gründen als Erzählanlass gut geeignet:

 

1. Die Darstellung einer Geschichte in Bildform bildet nach Zander (61978: 116) eine Art Zwischenstufe zwischen symbolischer Darstellung und Realität. Deswegen ist der Inhalt leichter zu versprachlichen als die Realität.

 

2. Eine Bildergeschichte wirkt komplexitätsreduzierend und inhaltssteuernd, da sie den Erzähler hinsichtlich des Themas und der Erzählfolge lenkt. Weniger kompetente Erzähler können vor einem frühzeitigen Scheitern bewahrt werden, da sie durch eine Bilderfolge, wie an einem Geländer entlang, immer weiter geleitet werden. Laut Knapp (1997: 143) kommt es auf solche Weise nur selten zu einem vorzeitigen Abbruch des Erzählvorgangs.

 

3. Eine Bildergeschichte ist kreativitätsfördernd. Obwohl der Inhalt und die Ereignisstruktur der Geschichte weitgehend vorgegeben sind, können die Handlungsabläufe subjektiv interpretiert werden. Demgemäß lassen Bildergeschichten genügend Raum für die Fantasie des Erzählers, wodurch individuelle Lösungen entstehen (vgl. Kast 1999: 98). Es gibt keine Eins-zu-eins-Umsetzung (vgl. Ott 2000: 21). Eine Bildergeschichte regt zudem die Fantasie des Erzählers an, da man seine eigene Geschichte konstruieren muss. So entwickeln sich Vorstellungen und eigene Erfahrungen werden lebendig. „Aktive Rezeption, Mit- und Weiterdenken, Phantasie sind gefordert und werden gefördert“ (Grünewald 1991: 107). Allerdings muss die Verbindung zur Bildfolge erkennbar sein.

 

4. Da der Inhalt im Wesentlichen vorgegeben ist, überbrücken Bildergeschichten die Stoffnot. Sie unterstützen den Erzähler bei der Aufgabe, aus einem Vorstellungskomplex Wesentliches auszuwählen und sprachlich zu fassen (vgl. Beck/Hofen 2003: 106).

 

5. Eine Bildergeschichte kommt insbesondere dem frühen kindlichen Erzählerwerb sehr entgegen, da Kinder weitgehend in Bildern denken. Sie bewahren ihre Eindrücke und Erlebnisse in Bildern auf.

 

6. Auch leistungsschwächere Erzähler lassen sich durch eine Bildergeschichte ansprechen (vgl. ebd.).

 

7. Bildergeschichten entwickeln kognitive Fähigkeiten, denn eine Bildergeschichte muss Bild für Bild mental verarbeitet werden. Bei einer Bilderfolge sind gedankliche Brücken zu schlagen (vgl. Beck/Hofen 2003: 106).

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