1 Stich der Skorpione
Groß und gut sind selten dasselbe.
Winston Churchill
Ein Skorpion und ein Frosch sitzen am Ufer eines reißenden Flusses. Beide müssen hinüber auf die andere Seite.
»Hallo, Herr Frosch!«, ruft der Skorpion durch das Schilf. »Wären Sie so nett, mich auf Ihrem Rücken über das Wasser zu bringen? Ich habe auf der anderen Seite wichtige Geschäfte zu führen. Und ich kann bei so starker Strömung nicht schwimmen.«
Der Frosch wird sofort misstrauisch.
»Herr Skorpion«, erwidert er. »Ich verstehe, dass Sie auf der anderen Seite des Flusses wichtige Geschäfte tätigen wollen. Aber denken Sie mal einen Moment lang über Ihre Bitte nach. Sie sind ein Skorpion. Sie haben einen großen Giftstachel an Ihrem Schwanzende. Sobald ich Sie auf meinen Rücken lasse, werden Sie mich stechen. Sie können gar nicht anders.«
Der Skorpion hat schon mit solchen Einwänden des Frosches gerechnet. Er antwortet:
»Mein lieber Herr Frosch, Ihre Vorbehalte sind absolut nachvollziehbar. Aber es liegt eindeutig nicht in meinem Interesse, Sie zu stechen. Es ist wirklich wichtig für mich, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihnen nichts geschehen wird.«
Der Frosch sieht ein, dass etwas dran ist an dem, was der Skorpion sagt, und gibt sein Widerstreben auf. Er erlaubt ihm, auf seinen Rücken zu klettern. Und hüpft ins Wasser.
Zunächst ist alles in bester Ordnung und läuft nach Plan. Doch nach der Hälfte der Strecke spürt der Frosch plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie der Skorpion den Stachel aus seiner Haut zieht. Ein tödliches Taubheitsgefühl kriecht ihm in die Glieder.
»Du Dummkopf!«, quakt der Frosch. »Du hast gesagt, du müsstest auf die andere Seite, um Geschäfte zu tätigen. Jetzt werden wir beide sterben!«
Der Skorpion zuckt die Achseln und führt auf dem Rücken des ertrinkenden Froschs ein Tänzchen auf.
»Herr Frosch«, antwortet er lässig, »Sie haben es selbst gesagt. Ich bin ein Skorpion. Es entspricht meinem Wesen, zu stechen.«
Dann verschwinden der Skorpion und der Frosch im schmutzigen, trüben Wasser des Stroms.
Und keiner von beiden ward je wieder gesehen.
Bestandteil des Wesens
Im Jahr 1980 wurde dem Amerikaner John Wayne Gacy der Prozess gemacht. Bei der Gelegenheit erklärte er mit einem Seufzer, sein einziges Verbrechen sei es, dass er »einen Friedhof ohne Lizenz betrieben habe«.
Es war wirklich ein Friedhof. Zwischen 1972 und 1978 hatte Gacy mindestens dreiunddreißig junge Männer und Jungen (mit einem Durchschnittsalter von etwa achtzehn Jahren) vergewaltigt und ermordet und dann in einen Kriechkeller unter seinem Haus geschafft. Eins seiner Opfer, Robert Donnelly, überlebte Gacys Aufmerksamkeiten, aber er wurde von ihm so gnadenlos gequält, dass er ihn anflehte, es »hinter sich zu bringen« und ihn zu töten.
Gacy war irritiert. »Dazu komme ich noch«, erwiderte er.
Ich habe das Gehirn von John Wayne Gacy in den Händen gehalten. 1994 wurde er durch eine Todesspritze hingerichtet. Dr. Helen Morrison, eine Zeugin der Verteidigung bei seinem Prozess und eine der weltweit führenden Experten in Bezug auf Serienmörder, hatte bei seiner Autopsie in einem Chicagoer Krankenhaus assistiert. Anschließend war sie mit einem Konservenglas auf dem Beifahrersitz ihres Buick, in dem Gacys Gehirn hin- und herschwappte, nach Hause gefahren. Sie hatte herausfinden wollen, ob es etwas gab – Läsionen, Tumore, eine Krankheit –, das sein Gehirn von den Gehirnen normaler Menschen unterschied.
Bei den Tests kam nichts Ungewöhnliches heraus.
Jahre später hatte ich das Vergnügen, mit Dr. Morrison in ihrem Büro in Chicago bei einer Tasse Kaffee über die Bedeutung dieser Untersuchungsergebnisse zu sprechen. Darüber, was es bedeutete, dass man nichts gefunden hatte, keinerlei Anomalien.
Ich fragte sie: »Heißt das, dass wir im Grunde genommen tief in unserem Inneren alle Psychopathen sind? Dass jeder von uns die Neigung zum Vergewaltigen, Töten und Quälen hat? Wenn es keinen Unterschied zwischen meinem Gehirn und dem von John Wayne Gacy gibt, was genau macht dann den Unterschied aus zwischen mir und diesem Psychopathen?«
Helen Morrison zögerte etwas und wies dann auf eine der fundamentalen Wahrheiten der Neurowissenschaften hin.
»Ein totes Gehirn unterscheidet sich stark von einem lebenden«, sagte sie. »Von außen betrachtet mag das eine Gehirn dem anderen sehr ähnlich sehen, aber dennoch können sie völlig unterschiedlich funktionieren. Ausschlaggebend ist, was passiert, wenn die Lichter an sind, nicht, wenn sie aus sind. Gacy war ein so extremer Fall. Ich hatte mich ja gefragt, ob vielleicht noch etwas anderes die Ursache seines Handelns war – irgendeine Verletzung oder Schädigung des Gehirns oder eine anatomische Anomalie. Doch das war nicht der Fall. Sein Gehirn war normal. Was erneut deutlich macht, wie vielschichtig und schwer durchschaubar das Gehirn ist, wie schwierig es ist, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Zum Beispiel können Unterschiede in der Erziehung oder andere zufällige Erfahrungen subtile Veränderungen der internen Verdrahtung und der Chemie herbeiführen, die dann später für tektonische Verschiebungen des Verhaltens verantwortlich sind.«
Als Helen Morrison so bildhaft vom Licht und den tektonischen Verschiebungen des Verhaltens sprach, erinnerte ich mich an ein Gerücht, das ich einmal über Robert Hare, Psychologieprofessor an der University of British Columbia und einer der weltweit führenden Autoritäten in Bezug auf Psychopathen, gehört hatte. In den 1990er-Jahren hatte Hare bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift ein Forschungspapier eingereicht, in dem er unter anderem über die EEG-Reaktionen von Psychopathen und Nicht-Psychopathen bei der Durchführung einer Wortaufgabe berichtete. Hare und sein Koautoren-Team hatten den Testteilnehmern eine Anzahl von vermeintlich beliebigen Buchstabenfolgen gezeigt und sie aufgefordert, so schnell wie möglich festzustellen, ob diese Folgen sinnvolle Wörter enthielten.
Die Ergebnisse waren frappant. In den Buchstabenfolgen gab es emotional befrachtete Wörter wie K-r-e-b-s und V-e-r-g-e-w-a-l-t-i-g-u-n-g und neutrale Wörter wie B-a-u-m oder T-e-l-l-e-r. Die normalen Testteilnehmer identifizierten diese emotional befrachteten Wörter viel schneller als die Psychopathen. Für die Psychopathen waren die Emotionen irrelevant.
Die Zeitschrift, so das Gerücht, hatte das Forschungspapier abgelehnt. Wie ich später erfuhr, nicht wegen seiner Schlussfolgerungen. Nein, es ging um etwas ganz anderes. Einige der EEG-Muster, so behaupteten die Kritiker, seien so anomal, dass sie nicht von wirklichen Menschen stammen konnten. Aber das taten sie definitiv.
Ich war fasziniert von den Rätseln und Geheimnissen des psychopathischen Geistes. Angeregt durch mein Gespräch mit Helen Morrison in Chicago besuchte ich Robert Hare in Vancouver und wollte von ihm wissen, ob das Gerücht wirklich stimmte. War das Forschungspapier wirklich aus diesem Grund abgelehnt worden? Wenn ja, was war mit den untersuchten Gehirnen los?
Ziemlich viel, wie sich herausstellte.
»Es gibt vier unterschiedliche Arten von Gehirnwellen«, erklärte er mir, »von Betawellen während Phasen großer Wachsamkeit über Alpha- und Theta-Wellen bis hin zu Delta-Wellen, die den Tiefschlaf begleiten. Diese Wellen spiegeln die unterschiedlichen elektrischen Aktivitäten im Gehirn zu verschiedenen Zeiten wider. Bei normalen Mitgliedern der Bevölkerung werden die Theta-Wellen mit meditativen Phasen oder Schlafphasen assoziiert. Doch bei Psychopathen treten sie auch während normaler Wachphasen auf – manchmal sogar während Phasen stärkerer Erregung …
Die Sprache hat für einen Psychopathen keine tiefere Bedeutung. Sie ist für ihn nicht emotional besetzt. Wenn ein Psychopath zum Beispiel sagt, ›Ich liebe dich‹, dann hat das für ihn nicht viel mehr Bedeutung als der Satz ›Ich hätte gern eine Tasse Kaffee‹ … Das ist einer der Gründe dafür, warum Psychopathen bei extremer Gefahr so kühl, ruhig und gefasst bleiben und warum sie so belohnungsgesteuert sind und Risiken eingehen. Ihr Gehirn ist buchstäblich weniger ›eingeschaltet‹ als das Gehirn von anderen Menschen.«
Ich dachte wieder an Gacy und an das, was mir Helen Morrison erzählt hatte. Auch Gacy hatte nach außen hin völlig normal gewirkt. Er war eine Stütze seiner Gemeinde gewesen und sogar einmal mit der damaligen First Lady Rosalynn Carter fotografiert worden. Seinen inneren Skorpion verbarg er unter einem Deckmantel von Liebenswürdigkeit und Charme. Doch es war Bestandteil seines Wesens, zuzustechen – auch wenn das seinen Untergang bedeutete.
»Leckt mich am Arsch!«, hat er wohl gesagt, als er den Hinrichtungsraum betrat.
Sprechen durch Gehen
Fabrizio Rossi war früher Fensterputzer gewesen. Doch sein Faible für Morde hatte schließlich die Oberhand gewonnen und nun verdiente er damit sogar seinen Lebensunterhalt. Als wir uns an einem milden Frühlingsmorgen gemeinsam und mit einem Gefühl des Unbehagens in John Wayne Gacys Schlafzimmer umsehen, frage ich ihn, wie es kommt, dass wir Psychopathen so unwiderstehlich finden. Warum sie uns so faszinieren.
Diese Frage hört er eindeutig nicht zum...