II
Sprache ist die gängige Währung unserer Kommunikation. Als Sprachgruppe ist man sich einig über Bezeichnungen für Konkretes und Abstraktes, für Dinge, Handlungen, Empfindungen, und darüber, wie diese in einen zeitlichen Rahmen eingeordnet werden. Man ist sich einig über eine bestimmte Bandbreite von Lautungen der Namen, und über ein reglementiertes Repertoire von Zeichen, die diese Laute schriftlich fixieren. Es ist kein starres System, weil die Welt, die es verhandelt, kein starres System ist, sondern ein Prozess. Auf der kollektiven Ebene vollzieht sich dieser Sprachprozess langsamer als auf der individuellen, denn die Welt im Kopf eines jeden Einzelnen wandelt sich mit jeder Erfahrung von Sinnen, Gefühl, Körper und Verstand und verleiht den Worten unentwegt neue Schichten, die sich, auf einen zwangsläufig verkürzten gemeinsamen Nenner gebracht, im gemeinsamen Sprachgebrauch niederschlagen. Sprachtragend bleibt aber immer der Konsens, der, so wie jede Währung, beim Verlassen des Raums seiner Gültigkeit die Verbindlichkeit verliert. Dieses Abhandenkommen der Gültigkeit des Konsens ist die Fremde, die Erfahrung der Abwesenheit einer gemeinsamen Sprache.
Ob man diese Fremde wie biblisch vorgesehen als Strafe wahrnimmt, hängt natürlich in erster Linie davon ab, wie und unter welchen Bedingungen man ihr ausgesetzt ist und sich ihr öffnen kann. Der Übersetzer agiert immer in Bezug auf Fremde und hat sie als Ort, Sprache oder Kultur meistens freiwillig aufgesucht, doch es gibt etliche Beispiele dafür, dass auch die Not – das Geworfensein in die Fremde durch Flucht, Gefangenschaft, Verschleppung – eine Erfahrung der anderen Sprache zulassen kann, die zum Übersetzen führt. Der erste Lehrer, der mir in einem zerknitterten Studium die Augen dafür öffnete, in welchem Maße Sprache ein Material ist, in dem Original und Übersetzung miteinander verwoben werden können, war aus fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in Sibirien mit einer Liebe zur russischen Sprache und zu Puschkin zurückgekehrt, die alle Gelehrsamkeit klein werden ließ. Aber die Einübung in den Umgang mit der anderen und der eigenen Sprache ist ohnehin keine Sache der Gelehrsamkeit, eher die einer praktischen Lehre mit Spielraum für das Unberechenbare. Das Erlernen einer Fremdsprache ist immer ein langwieriger Prozess, der eigentlich erst beginnt, wenn man einen Grundbestand von Worten schon beherrscht und sich in die Sprache eingehört hat. Für benötigte Dinge ist schnell gesorgt, ohne dass man von der fremden Sprache als gestaltbarem Material etwas mitbekommt. Das lernt man erst, wenn man sich auf den anderen Konsens einlässt und nach den fremden Regeln spricht. Jeder, der so eine Sprache lernt, wird irgendwann eine Phase des Übersetzens durchlaufen und spüren,wie sich die Welt verändert, wenn man die vertrauten Dinge bei den fremden Namen nennt, wie der gestaltende Umgang mit der Sprache auch Einfluss auf Denken und Wahrnehmung des Sprechers hat. Manchmal erwächst aus solchen Versuchen dann auch ein tatsächliches, tätiges Übersetzen von Text, wobei man sich nicht nur auf den fremden Konsens sondern auch auf den fremden Kontext einlässt. Das Übersetzen von Text ist ein Prozess der Annäherung, dessen erste Bedingung es ist, dass die Sprache, über die man verfügt, die eigene ist, die sich von den Zwängen der Floskeln und Konventionen, der bloßen Benennung, der zweckgebundenen Verständigung gelöst hat. Es muss nicht die Muttersprache sein, aber doch die vertrauteste Wort-Welt im Kopf, und eine solche Vertrautheit kommt ohne die frühen Prägungen durch das Zusammenwirken von Klang, Bild und Empfindung nicht aus. Die Verfügbarkeit einer Sprache beruht nicht auf der Kenntnis von Regeln, sondern auf ihrer Verbundenheit mit der eigenen Geschichte, in deren Verlauf man sich den Wortbestand der Sprache auf der kollektiven und der persönlichen Ebene zueigen macht und ein Verhältnis zu der Bedeutung der Namen entwickelt. Diese Bedeutung betrifft weniger das »Was« des Gemeinten als das »Wie« des Meinens, nicht die Sache oder Handlung, sondern einen ganzen Komplex von Assoziationen, die für jeden Text den Kontext schaffen. Walter Benjamin schreibt in seinem Essay zur »Aufgabe des Übersetzers«: »In ›Brot‹ und ›pain‹ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen hingegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, dass beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, dass sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben, am Gemeinten aber, dass sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten.« (Die Aufgabe des Übersetzers, Werkausgabe Bd 10, Frankfurt a.M. 1980, S. 14)
Aus der Vertrautheit mit dem »Wie des Meinens« in der eigenen Sprache entwickelt sich im Prozess des Übersetzens notwendigerweise ein Dialog mit der Fremde und der Fremdsprache, die sich langsam über das »Was« des Gemeinten erschließt, bis sich irgendwann auch ein »Wie«, eine Vertrautheit, eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Mitteln und Möglichkeiten der anderen Sprache etablieren, die jedoch unweigerlich in einer ganz anderen Beziehung zur Geschichte des Sprechers und Übersetzers stehen als die eigene, vertrautere Sprache.
Die Annäherung an den Text in der Fremdsprache geschieht über diese Kluft zwischen den beiden »Wie des Meinens« hinweg, die nie zur Deckung gebracht werden können, doch sind es nicht gerade diese Deckungslücken, die sprachliche Freiräume eröffnen und die schwer zu greifenden, intuitiven Einsichten in das Wirken von Sprache vermitteln? So ist diese Kluft auch kein bedrohlicher Abgrund, in dem etwas – Text oder Übersetzer etwa – zu verschwinden droht, sondern vielmehr ein Klangraum, ein Resonanzboden, an dem das Hin und Her des Textes in eigener und fremder Sprache mit Ton und Stimme ausprobiert und eingeübt wird. Dieser Klangraum selbst verändert sich allmählich, füllt sich nach und nach mit den Spuren des Hin und Her der beiden Sprachen und Sprachwelten und wird zu einer nur dem Übersetzer zugänglichen Zwischen-Welt der Worte, Silben, Klänge und Bilder beider Sprachen, die zu ihrem eigenen Kontext zusammenwachsen.
Die Kluft mag mit der Zeit kleiner werden, der Bestand der Spuren, die sich darin niederlassen, größer, aber sie verschwindet nie, denn sie garantiert den Abstand, den der Übersetzer zwischen den Sprachen braucht, diesen Transit-Raum in dem sich die Verwandlung des originalen Texts in die Übersetzung vollzieht.
Diesen von der Kluft dargestellten Abstand braucht übrigens auch der Übersetzer, der mit beiden Sprachen gleichermaßen vertraut ist, denn jede Sprache ist mit ihrer eigenen Welt im Kopf verbunden, hat ihre eigenen Bilder, Zusammenhänge, Kontexte. Eine gleiche Vertrautheit mit der Sprache des Originals wie der der Übersetzung kann dem Übersetzer zwar einerseits das Verständnis und die Einordnung der Bezüge, das Erkennen des entsprechenden Tons und eventueller Untertöne erleichtern, doch andererseits auch das Gefühl geben, dass ein Text sich einfach nicht in die andere Sprache fügen wird, weil der Subtext zu eigen, zu spezifisch ist. Ein gewisser Grad von Fremdheit kann deshalb dem Übersetzen zuträglich sein, denn je enger die Sprache des Originals mit der persönlichen Geschichte des Übersetzers verbunden ist, desto größer wird der Widerstand gegen die Übertragung in eine Sprache, die mit der eigenen Geschichte zwar genauso eng, aber auf andere Weise verbunden und mit anderen Bildern und Kontexten belegt ist. Je näher man sprachlich dem Original steht, desto deutlicher sieht man die Unvollkommenheit, zu der jeder Übersetzungsversuch verurteilt ist, weil die Gültigkeit des Worts, die dem Original eigen ist, nie auf die Übersetzung zutreffen wird.
Mit dieser Unvollkommenheit muss der Übersetzer übrigens in jedem Fall leben. Sein Werk ist vorläufig, ist eine Annäherung, die nie das ganze Original erfassen kann. Bei Benjamin heißt es: »Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.« (S. 16, s.o.). Jede Übersetzung ist eine Sicht des Originalwerks, eine Ansicht, die durch den Filter der Sprachwelt des jeweiligen Übersetzers den Weg aufs Papier gefunden hat, und wie durch die Farbfilterlinse einer Kamera aufgenommen, breitet sich vor dem Leser der Übersetzung ein anderes Bild aus als vor dem Leser des Originals.
Das Übersetzen von Literatur wird oft mit dem Musizieren verglichen, mit dem Umsetzen von Notenschrift in den Klang von Instrument oder Stimme. Doch scheint dieser Vergleich gerade das zu verdecken, was die Übersetzung interessant macht – nämlich die Spannung zwischen dem vom Urheber nur dem Original zugesprochenen »Wie« und dem, was der Übersetzer dem Text in der fremden Sprache verleiht – und in der Übersetzung eine Art Verwirklichung des Originals zu sehen. Doch während beim Musizieren die Notenschrift ja erst ihrer Bestimmung – dem Klang – zugeführt wird, hat sich die eigentliche Bestimmung des Originals ja schon erfüllt, indem es sich als vollendetes Werk, für jeden der betreffenden Sprache Mächtigen lesbar, präsentiert. Die Notenschrift ist eine Botschaft des Urhebers an den Musiker, sie auf eine bestimmte Weise zum Klingen und damit zu Gehör zu bringen, die Schrift eines literarischen Textes ist eine direkte Botschaft an den Leser und bedarf in der vom Autor verliehenen Form keiner Vermittlung. Kein Autor schreibt in erster Linie für den Übersetzer. Sicher gibt es bestimmte technische Parallelen, in beiden Fällen wird...