Volker Harm beschäftigt sich in seinem Aufsatz Zur Herausbildung der deutschen Futurumschreibung mit werden + Infinitiv vor allem mit der Frage, warum sich werden + Inf. gegenüber den anderen, gebräuchlicheren Formen, werden + Part. Präs. und den Modalverbkonstruktionen, durchsetzen konnte.
Zunächst einmal befasst Harm sich mit den bereits vorhandenen Theorien zur Entstehung und der Ausbreitung des werden – Futurs, worauf hier nicht näher eingegangen werden soll.
Die Erscheinung, dass sich die werden – Konstruktion durchsetzen konnte, hält Harm für „um so erstaunlicher, als alle anderen germanischen Sprachen Futurumschreibungen mit Modalverb + Inf. entwickelt haben, und dies, obwohl sie sämtliche etymologische Entsprechungen von dt. werden aufweisen[114].“
Harm geht davon aus, dass die Grundlagen zur Durchsetzung des werden – Futurs gegenüber der Konstruktion mit dem Partizip Präsens durch den „anhaltenden analogischen Druck der Modalverb + Inf.-Verbindungen“ geschaffen wurden[115].
Als dann neben den Modalverbkonstruktionen auch noch werden + Inf., angelehnt an die Modalverbkonstruktionen, entstand, konnte sich das Part. Präs. in der Konstruktion mit werden nicht länger halten. Zur Durchsetzung der Infinitive gegenüber den Partizipialformen hat laut Harm auch beigetragen, dass das Partizip Präsens in Verbperiphrasen sowieso keine besonders ausgeprägte Stellung im Sprachsystem innehatte und daher auch nach und nach verschwunden ist[116].
Dass die Konstruktion werden + Inf. sich gegenüber den Konstruktionen mit sollen/wollen + Inf. langfristig durchsetzen konnte, liegt, so Harm, daran, dass werden + Inf. frei von modalen Nuancen einen eindeutigen Zukunftsbezug herstellen kann[117].
Trotz fast einhelliger Forschungsmeinung bemerkt Harm dazu, dass das Futur in den germanischen Sprachen nicht frei von Modalität ist, sondern verschiedene sprachliche Handlungsmuster wie Voraussage, Handlungsankündigung oder Befehl, in sich vereinigt[118]. Als prototypisches Zentrum sieht er dabei den Handlungstyp der Voraussage.
Darüber hinaus führt er die Tatsache an, dass in allen germanischen Sprachen das angeblich benachteiligte Modalverb ein Futur bilden und zumeist auch erhalten konnte[119]. Auch in anderen Sprachen ist die Modalverbkonstruktion, anders als das werden - Futur, häufig Mittel zur Futurumschreibung[120].
Werden konnte in mittelhochdeutscher Zeit als Vollverb, als Kopulaverb in mehrgliedrigen Prädikatsausdrücken, häufig zur Bezeichnung eines Handlungs- oder Zustandsbeginns, als Bestandteil von Funktionsverbgefügen sowie in Verbindung mit dem Partizip Präsens auftreten[121].
Es fungierte also als zentrales Mittel zur Bezeichnung des Ingressivums und teilweise auch schon des Futurs. Damit ist die Unterlegenheit des werden – Futurs gegenüber den Modalverbkonstruktionen nur eine scheinbare[122].
Im Mittelhochdeutschen existierte bereits ein eingespielter Gebrauch von werden zur Herstellung eines Zukunftsbezugs, so dass werden + Inf. nicht „aus dem Nichts“ entsteht: Werden hat gegenüber den Modalverbumschreibungen den Vorteil, dass es als Hilfsverb in zusammengesetzten Verbalkonstruktionen, vor allem in solchen mit einer zukunftsbezogenen Lesart, im Mittelhochdeutschen bereits geläufig ist[123].
Soln und wellen hingegen haben keinen solch hilfreichen Hintergrund; sie sind vielmehr in ihrem Grammatikalisierungsprozess auf dem Weg vom Lexem zum Futurgrammem stehen geblieben[124].
Nach Kellers Theorie des Sprachwandels als Kosten – Nutzen – Kalkulation heißt dies, dass der Umbau von werden zum zentralen Futurauxiliar bequemer und nicht so ´kostenintensiv´ ist wie der Umbau von soln und wellen; eben deshalb, weil werden im Ansatz bereits Futurfunktion besitzt[125].
Die Modalverben hingegen hätten sich erst zu reinen Grammemen entwickeln und ihre deontische bzw. desiderative Bedeutung verlieren müssen; die Herstellung eines verhältnismäßig eindeutigen Zukunftsbezugs wäre demnach ´kostspieliger´[126].
Harm betont jedoch, dass die Modalverben an sich keine schlechten Futurmarker sind, sondern für das Mittel- und Frühneuhochdeutsche einfach nur dem stärkeren Konkurrenten werden unterlegen waren[127].
Um die Richtigkeit seiner These zu beweisen, vergleicht Harm das Deutsche mit den anderen germanischen Sprachen. Er vermutet, dass, würden in einer der anderen Sprachen ähnliche Bedingungen wie im Hochdeutschen herrschen, die Entwicklung der Futurperiphrase vergleichbar sein müsste[128].
Die dem Hochdeutschen am nächsten verwandte Sprache ist das Niederdeutsche, welches das Futur ausschließlich mithilfe von Modalverben bildet. Werdan hat auch im Altsächsischen die Funktion, eine ingressive Aktionsart zu bezeichnen[129]. Während im Altsächsischen werdan + Inf. nicht überliefert ist, ist diese Konstruktion im Mittelniederdeutschen belegt[130].
Dies zeigt, dass werden „auch hier die zentrale Bezeichnung für den Eintritt in einen veränderten Zustand und [hat] im Präsens häufig futuristische Bedeutung[131]“ hatte.
Dass die heutigen niederdeutschen Dialekte nur noch selten Spuren des werden – Futurs aufweisen, liegt, so Harm, vermutlich am „Untergang des Niederdeutschen als Schriftsprache im Laufe des 16. Jahrhunderts[132].“ Durch den Wegfall der Schriftsprache konnte das werden – Futur sich nicht weiter ausbreiten[133].
Im Niederländischen besteht keine Konkurrenz zwischen werden- und Modalverbkonstruktionen, da sich das werden – Futur überhaupt nicht entwickelte, auch wenn werden ansonsten ein ähnliches Verwendungsspektrum aufweist wie im Hochdeutschen[134].
Neben diesen Sprachen zieht Harm Vergleiche zum Friesischen, zum Alt- und Mittelenglischen und zum Skandinavischen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass nur im Mittelniederdeutschen dem Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen vergleichbare Verhältnisse herrschen[135]. Da die Entwicklungen im Hoch- und Niederdeutschen zunächst gleich verliefen, kann davon ausgegangen werden, dass werden sich aufgrund seiner breiten Verankerung im grammatischen System des Mittel- und Frühneuhochdeutschen gegenüber den Bildungen mit Modalverben durchsetzen konnte[136].
Die Aspekte, die Volker Harm bezüglich der Durchsetzung des werden – Futurs gegenüber der Futurbildung mithilfe von Modalverben anspricht, sind alle sehr gut durchdacht.
Er nennt die wesentlichen systeminternen Faktoren zur Durchsetzung von werden + Inf. gegenüber den Modalverbkonstruktionen und legt sie überaus verständlich und strukturiert dar. Meines Erachtens können aber nicht ausschließlich systeminterne Faktoren für dieses Phänomen verantwortlich gemacht werden.
Vielmehr sollten verschiedene Ansatzpunkte zur Erklärung herangezogen werden, so, wie dies im Aufsatz von Diewald und Habermann (Diewald/Haberman S.241) der Fall ist, indem sie auf den Einfluss des Lateinischen besonderes Augenmerk legen.
Anhand einer Korpusuntersuchung, bestehend aus Quellen der Zeit um 1350 bis 1520, nämlich den Predigten Meister Eckharts, Zisterzienser-Predigten in der Übersetzung von Heinrich Haller und Luther-Traktaten, wollen Diewald und Habermann[137] den Einfluss des Lateinischen auf den Futurgebrauch des Deutschen nachzuweisen.
Anzumerken ist, dass diese Quellen sich im Kontext theologischen Schrifttums befinden.
Als eines der Ergebnisse kann festgehalten werden, dass das lateinische Futur nur selten unübersetzt bleibt. Anstelle einer Futurform steht in diesen Fällen das Präsens; die periphrastischen Futurformen steigen in ihrer Anzahl jedoch stetig an. Bevorzugte Form zur Futurmarkierung im Mittelhochdeutschen ist sollen +Inf.; darüber hinaus exstieren die Formen...