In diesem Kapitel wird einerseits die aktuelle Problemsituation der Berufsbildung in Europa und speziell in Deutschland dargelegt, darauf aufbauend wird die Zielsetzung zur Problembewältigung erläutert, welche dieser Arbeit zu Grunde liegt. Beide Thematiken finden sich im ersten Abschnitt (1.1.) wieder.
Andererseits werden im zweiten und letzten Abschnitt (1.2.) dieses Kapitels die Einzelheiten der Arbeitsweise sowie der grundsätzliche Aufbau und die Herangehensweise der vorliegenden Arbeit definiert.
Im Zuge des kurrenten Wandels von einer Industrie- zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft wurde der Mensch wieder in den Mittelpunkt der Arbeit gerückt. Einige Gründe für diesen Wandel werden unter anderem in der fortschreitenden Hochtechnisierung, schnell wechselnden Marktbedingungen, beschleunigten Innovationszyklen und in der zunehmenden Globalisierung der Wertschöpfungskette gesehen (vgl. Dehnbostel 2008a, S. 35). Der einfache Fließbandarbeiter oder Bediener von simplen Maschinen wird zukünftig kaum mehr benötigt, vielmehr die geistige Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Menschen in Verbindung mit der persönlichen Kompetenzentwicklung. Begriffe wie Toyotismus, in Anlehnung an Taylorismus / Fordismus aus der Industriegesellschaft, und Human Ressource Development (HRD) prägen seit Beginn der 1990er Jahre nicht nur die wissenschaftliche Diskussion, beispielsweise in dem Buch „The Machine That Changed the World“ von James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos (1991). Der „Wandel der Arbeit [vollzieht sich] von der an Funktion und Beruf orientierten Arbeitsteilung des Industriezeitalters zu einer prozessorientierten Arbeitsorganisation“ (Dehnbostel 2008a, S. 35). Dabei gewann insbesondere die berufliche Weiterbildung in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung und wurde zum wichtigsten Bildungsbereich, wobei sie stets am Berufsprinzip festhielt. Diese Position wird sich in der Zukunft noch verstärken, sind sich die Experten einig. Ihre Kernaufgabe besteht ausdrücklich in der „Förderung von Beschäftigungsfähigkeit und Chancengleichheit“ (ebd., S. 9). Dagegen prägen soziale Selektion, Segmentierung und Chancenungleichheit das gegenwärtige Bild sowohl in der beruflichen als auch in der allgemeinen Bildung weltweit.
Das duale Berufsbildungssystem in Deutschland galt lange Zeit als Vorreiter für die berufliche Bildung mit dem Ziel Professionalität, Flexibilität und Integrität in der Arbeitswelt sicherzustellen, doch wurde das System von Beginn an als Sackgasse für die Karriere kritisiert. Es bestand zu keiner Zeit eine Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung und auch an der Durchlässigkeit gab es harte Kritik. Denn auch bei guter beruflicher Aus- und Weiterbildung war mit Erreichen des Meistertitels auch das Ende der Karriere erreicht. Im Vergleich dazu war die gymnasiale Bildung mit anschließendem Studium und einer Vielzahl von Aufstiegsmöglichkeiten nur denjenigen vorbehalten, welche sich schon sehr frühzeitig für diesen Weg entschieden hatten.
Es ist „absehbar, dass die Erfassung, Bewertung und der Vergleich von Kompetenzen national und europaweit auf eine neue Basis gestellt werden“ und dabei werden gesellschaftliche und beruflich-betriebliche Tendenzen den Wert der Weiterbildung im Wesentlichen bestimmen (Dehnbostel 2008a, S. 167). Neuere Konzepte setzen den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Arbeit, nicht nur als Produktivkraft sondern auch für Innovationen sowie Qualitätssicherung und -steigerung. Dabei spielen die Konzepte rund um eine allumfassende reflexive Handlungsfähigkeit im Sinne einer vollständigen Handlung eine entscheidende Rolle.
Diese Vorreiterpositionen und Konzepte werden im laufenden Diskurs immer mehr von den Kritikern in Frage gestellt aufgrund der neuen europäischen Ausrichtung oder anders gesagt der verstärkten Europäisierung der beruflichen Bildung in den vergangenen Jahren. Kritik am vorherrschenden System wird laut, wobei die antiquierten Strukturen nicht novelliert sondern aufgebrochen werden sollen, um vermeintlich bessere, effektivere und günstigere Berufsbildungssysteme und -modelle zu etablieren, dabei neben Beschäftigungsfähigkeit (Employability) und Entrepreneurship im Schwerpunkt die berufliche Modularisierung. Das Modulsystem der schrittweise zu erwerbenden Teilqualifikationen aus dem angelsächsischen Raum wird vorzugsweise und häufig als Alternative zum Berufsprinzip genannt (vgl. Dehnbostel 2008a, S. 36). Hierbei ist ein intensiver Diskurs darüber entstanden, wem dieses neue und moderne modulare Berufsbildungssystem nutzen soll. Der Industrie und der Wirtschaft einerseits, welche ausgebildete Fachkräfte mit einzelnen spezifischen Qualifikationen benötigen, wobei diese effektiv über gezielte modulare Ausbildung erworben werden könnten. Und andererseits den Arbeitnehmern selbst, welche mit einer vollständigen Ausbildung – egal ob dual, vollschulisch oder modularisiert – auch Kompetenzen, reflexive Handlungsfähigkeit usw. erwerben und somit gleichermaßen Bildungs- und Arbeitsmobilität gefördert wird. Doch sind die Seiten keineswegs so leicht zu differenzieren, denn es gibt viele Unterteilungen dahingehend und auch einige Überschneidungen und Kompromisse. Fest steht schon jetzt, dass unser derzeitiges Berufsbildungssystem keinesfalls antiquiert, aber dennoch explizit reformbedürftig ist.
Mit der Entwicklung und Erprobung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) als Übersetzungs- und Vergleichsinstrument sollen nicht nur die berufliche und die allgemeine Bildung europaweit zusammengeführt werden:
„Mit dem EQR liegen zum ersten Mal Empfehlungen für ein bildungsbereichsübergreifendes Bezugssystem vor, das zu mehr Transparenz und Vergleichbarkeit von Kompetenzen und Qualifikationen in Europa beitragen soll. […] EQR und DQR sind ein Übersetzungs- und Transparenzinstrument, um auf europäischer Ebene Vergleichbarkeit zu schaffen. Qualifikationen und Abschlüsse müssen (über) die Grenzen der Mitgliedsländer und ihrer Bildungssysteme hinweg verständlich und damit eben auch vergleichbar sein.“ (Schavan 2008, S. 1ff.)
Die Bildung und Etablierung eines europäischen Bildungsraums soll forciert und mit Hilfe von gemeinsamen Instrumenten die bildungspolitische Zusammenarbeit gefördert werden. Dabei bleibt die nationale Autonomie bestehen und die Zusammenarbeit beruht auf Freiwilligkeit und freiwilligen Verpflichtungen.
Für den derzeit noch in der Entwicklung befindlichen Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR), welcher das gesamte nationale Bildungssystem international darstellen und kompatibel machen soll, kommt die Aufgabe hinzu, sämtliche nationale Qualifikationen (nicht Abschlüsse!) und Kompetenzen sowie ihre Besonderheiten einzubinden und über den EQR vergleichbar zu machen. „Outcome- und Modulorientierung der genannten europäischen Konzepte stellen sich zudem elementare Fragen nach der Verträglichkeit mit der Berufs- und Weiterbildung in Deutschland, die in starkem Maße input-, prozess- und seminar- bzw. bildungsgangbezogen ist“ (Dehnbostel 2008a, S. 167), diese Outcomeorientierung stellt dabei „ordnungspolitisch einen Paradigmenwechsel dar“ (Sloane 2008, S. 11). Die Qualifikationsrahmen, sowohl der europäische als auch der deutsche, sollen dabei insgesamt Transparenz, Durchlässigkeit sowie Mobilität fördern und zudem die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung herstellen. Insbesondere Gleichwertigkeit wird dabei bereits seit den 1970er Jahren postuliert und ist bis heute kaum umgesetzt, allein der europäische Druck könnte dies nun ändern.
In dieser Arbeit wird im Kern eine Analyse des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) im Aspekt der deutschen Berufsbildung erfolgen (Kapitel 5 und 6), daneben sollen zur Verdeutlichung auch die bisherigen Entwicklungen des EQR und des Leistungspunktesystems der beruflichen Bildung (ECVET) analysiert werden. Dieses mit dem Ziel, sowohl auf Chancen, aber ebenfalls auf Risiken und Probleme bereits im Vorfeld der endgültigen Umsetzung des DQR und im Bereich der Evaluation des EQR hinzuweisen, woraus wiederum Lösungsansätze entstehen können. Diese Analyse bezieht sich dabei einerseits nicht auf die rechtliche oder institutionelle Verankerung, sondern vielmehr auf die angestrebten Konstruktions- und Funktionsprinzipien des DQR. Andererseits wird nicht auf den vom Arbeitskreis DQR vorgelegten Diskussionsvorschlag vom Februar 2009 Bezug genommen, sondern auf den Sach- und Entwicklungsstand vom Anfang Januar 2009.
Dazu muss die Entwicklung des EQR als Anknüpfungsinstrument eruiert und auch die Konstruktion der Leistungspunktesysteme der hochschulischen (ECTS - European Credit Transfer and Accumulation System) und der beruflichen Bildung (ECVET - European Credit System for Vocational Education and Training) sowie des nationalen Pendants DECVET (keine Abkürzung an sich, sondern eine Zusammensetzung, welche sich mittlerweile in der Fachöffentlichkeit manifestiert hat: „DE“ = Deutsches, „CVET“ = Credit System for Vocational Education and Training) analysiert werden. Im weiteren Verlauf werden verschiedene Aspekte zum DQR überprüft und eine mögliche Quintessenz des aktuellen Entwicklungsstandes, Anfang Januar 2009, genauer...