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E-Book

Warum Menschen töten

Eine Polizeipsychologin ermittelt

AutorClaudia Brockmann
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783843705547
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Warum tötet ein 16-Jähriger ein Kind? Wie verhindert man, dass Entführer ihr Opfer umbringen? Kann man Serientäter stoppen? Claudia Brockmann liest in der Seele der Verbrecher. Seit 25 Jahren unterstützt die Polizeipsychologin Kriminalkommissare und Sonderkommissionen bei der Suche nach der Wahrheit. In ihrem Buch erzählt sie vom Fall »Dagobert« und anderen spektakulären und ergreifenden Fällen ihrer Karriere. Ein beklemmender und spannender Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche.

Claudia Brockmann ist seit 25 Jahren Polizeipsychologin beim Hamburger LKA und war in dieser Zeit an der Lösung zahlreicher prominenter Fälle beteiligt. Sie trug maßgeblich zur Ergreifung des geflohenen »Heidemörders« Thomas Holst bei, koordinierte die Verhöre mit den Reemtsma-Entführern und die Gesprächsführung mit dem Erpresser »Dagobert«.

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Leseprobe

Denise


Die Mutter hat ein kleines Nachthemd mitgebracht. Als wolle sie ihre Tochter gleich ins Bett bringen. Sie wird das Nachthemd nicht brauchen. Ich glaube, sie ahnte das bereits, als wir sie mitten in der Nacht anriefen und ihr anboten, sie ins Präsidium zu holen. »Sie können bestimmt genauso wenig schlafen wie wir, da ist es vielleicht praktisch, wenn Sie bei uns sind, falls wir noch Fragen haben oder sich etwas Neues ergibt«, sagte der Kripochef zu ihr. Wahrscheinlich spürte sie da schon, was die Wahrheit war.

Wir wollen sie der Mutter lieber hier im Präsidium sagen als bei ihr zu Hause, in dem Plattenbau, wo die Kamerateams, Fotografen und Journalisten vor der Haustür ebenfalls auf die Wahrheit warten. Die meisten Menschen wollen die Wahrheit wissen. Aber die Täter wollen selten, dass sie ans Licht kommt.

Dazu gehört auch die Antwort auf die Frage, die oft am schwersten zu beantworten ist: Warum ein Mensch etwas getan hat. Mit absoluter Gewissheit können wir das nie sagen, sei es, weil der Täter seine Motive nicht preisgeben will oder weil er sie selbst nicht genau benennen kann. Aber immerhin werden wir der Wahrheit in diesem Fall sehr nahekommen. Und das wird bedeuten, Dinge zu erfahren, die man vielleicht nicht glauben will. Zum Beispiel: Ist ein Teenager imstande, so etwas zu tun?

Später wird die Mutter fragen: »War es Nils?«

Die Kollegen aus einer Kleinstadt in der Umgebung haben unser Team zur Unterstützung gerufen. Die dortige Polizei beschäftigt weder eigene Psychologen noch Fallanalytiker. Also werden zwei Kolleginnen und ich vom Hamburger LKA abgestellt, denn hier scheint dringender Bedarf an einer Fallanalyse.

In Kriminalfilmen werden Fallanalytiker gerne »Profiler« genannt eine Bezeichnung, die wir wenig schätzen. Die Profiler in Filmen oder Romanen glänzen oft mit einer nahezu magischen Intuition, dank derer sie nach einer »Séance« im Schlafzimmer des Opfers das Alter, den Beruf und die Kindheitsgeschichte des Täters »erspüren«. Dabei geht es bei der operativen Fallanalyse genau um das Gegenteil: Fallanalytiker befassen sich nur mit den objektiven Daten.

Sie fügen die Details zusammen und schaffen ein Bild, das zwar selten alles erklären kann, aber Hypothesen darüber ermöglicht, was vorgefallen ist. Diese basieren nicht auf irrtumsanfälligen Zeugenaussagen oder Geständnissen, von denen man nie weiß, ob sie nicht geschönt oder zumindest unvollständig sind. Das Material, mit dem ein Fallanalytiker arbeitet, ist unwiderlegbar: nur jene Zeugenaussagen, die als absolut gesichert gelten, etwa weil mehrere Personen das Gleiche geschildert haben, vor allem aber die Spuren am Tatort, etwa Blutspritzer, Speichel, Haare, Kleidungsfasern oder zerbrochene Gegenstände, außerdem die Verletzungen des Opfers. Am Ende der Rekonstruktion stehen manchmal mehrere Hypothesen, aber wir wissen: Nur in einer dieser Varianten kann die Tat geschehen sein.

Diese Arbeit wird im Fall »Denise« sehr wichtig werden.

Der Fall beginnt an einem Augusttag um 19 Uhr mit dem Anruf der besorgten Mutter bei der Polizei. Ihre Tochter sei nicht zum Abendessen erschienen, sagt die Frau, dabei sei Denise absolut zuverlässig. Die Mutter ist sehr aufgewühlt. Kurz darauf finden zwei Jugendliche das Rad des Mädchens in einem Gebüsch. Sofort wird eine Suchaktion eingeleitet. Die Familie wohnt in einer Hochhaussiedlung. Zahlreiche Polizeibeamte, Nachbarn und eine Hundestaffel durchkämmen die Gegend. Sie suchen auf dem Dachboden, sie durchstöbern das Gebüsch in der Umgebung und selbst in den Waschmaschinen im Keller schauen sie nach.

Sie finden nichts.

Am Anfang solcher Fälle steht die Ungewissheit: Was könnte vorgefallen sein? Die Vermisste könnte davongelaufen sein, es könnte ein Unfall geschehen sein, oder sie ist Opfer eines Verbrechens geworden, sie könnte irgendwo gefangen gehalten werden, tot sein. Selbst einen Suizid können wir nicht ausschließen, auch wenn er bei einem Kind unwahrscheinlich ist. Der Polizei bleibt erst mal nichts übrig, als in alle Richtungen zu suchen und zu ermitteln.

Die Beamten befragen sofort die Mutter. Ja, es habe einen kleinen Streit gegeben, weil die Tochter ihr Zimmer nicht aufgeräumt hat, sagt sie, aber Denise würde wegen einer solchen Lappalie nicht davonlaufen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter beschreibt sie als sehr eng und liebevoll. Auch mit dem Lebensgefährten der Mutter habe Denise keine Probleme gehabt, nein, die Mutter kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Tochter abgehauen ist, sie ist erst sechs! In der Zwischenzeit klären Beamte die einschlägig bekannten Sexualstraftäter im Umkreis ab, Männer, die bereits wegen Delikten an Kindern vorbestraft sind. Die Polizisten klingeln an der Tür, sagen, dass ein Mädchen verschwunden ist, fragen, ob sie mal reinkommen dürfen. Aber keiner der Besuchten ist diesmal auffällig, etwa indem er den Zugang verweigert oder in seiner Wohnung Spielzeug herumliegen hätte.

Die Nachbarn werden gefragt, ob sie etwas Außergewöhnliches bemerkt haben. Wann sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen haben. Wir finden keine brauchbaren Hinweise. Es ist schon kurz nach Mitternacht, als der Chef der Kripo beschließt, mit der Mutter persönlich zu sprechen. Der Einsatzleiter hat ihn über die Suche informiert, und nun will der Chef der Mutter noch mal versichern, dass alles Erdenkliche unternommen werde. Er fragt sie: »Haben Sie eine Idee, was passiert sein könnte? Manchmal hat man ja so eine Ahnung.« Da sagt die Mutter: »Nun ja, Nils hat sich sehr sonderbar verhalten. Nils würde ich viel zutrauen.«

So haben wir Denise gefunden. Und so ist es gekommen, dass die Mutter nun im Präsidium sitzt mit dem Nachthemd in der Hand.

Ich habe dem Kripochef zuvor geraten: »Mach es kurz. Nur vier Sätze.« Und: »Sag ihr dann alles, was sie wissen will. Sag ganz klar die Wahrheit.« Ich nenne es das psychologische Recht auf die Realität, das jeder Mensch hat. Wir dürfen uns nicht anmaßen, für jemanden zu entscheiden, was er ertragen kann und was nicht. Nur wenn ein Mensch die Wahrheit kennt, kann er sie verarbeiten.

Manche fangen zu schreien an, manche weinen stumm, manche toben, manche machen sich Vorwürfe, manche beschimpfen die Polizei. Ich habe Menschen gesehen, die hysterisch lachen. Und Menschen, die reagieren, als hätte man ihnen gerade den Wetterbericht vorgelesen, die scheinbar gleichgültig nicken, und wenn man sie fragt, ob sie verstanden haben, sagen sie »ja, ja, sie ist tot«, als sei es das Normalste der Welt. Jeder braucht seine Zeit, um zu begreifen, und jeder hat seine eigene Art, den ersten Schmerz zu verarbeiten. Das Beste, was wir als Überbringer tun können, ist klar zu sagen, was geschehen ist und dann müssen wir damit umgehen, wie derjenige reagiert.

Als die Mutter ihm ein paar Stunden zuvor von Nils erzählt hat, ist der Kripochef hellhörig geworden. Nils ist ein Teenager, der große Bruder von Denises bester Freundin Mona und lebt in der gleichen Siedlung. Denise himmelt Nils regelrecht an. Ihre Mutter allerdings traut dem Jungen nicht über den Weg. Ständig würde Nils lügen. So soll Nils ihr an diesem Abend erzählt haben, dass er mit Denise noch gesprochen hat, bevor sie verschwunden ist. Sie habe mit dem Rad zu einem Freund im Nachbarort fahren wollen. Wütend hatte die Mutter ihn stehen lassen, weil es unvorstellbar ist, dass Denise am Abend noch in den Nachbarort wollte. »Man kann diesem Jungen kein Wort glauben«, hat Denises Mutter zum Kripochef gesagt. »Er müsste doch auch bei Ihnen bekannt sein.«

Er ist es: Nils Wagner, 18 Jahre alt. »Diebstahl« und »Sachbeschädigung« stehen in der Akte und »Tierquälerei«. Bei der Einsatzbesprechung hat eine Beamtin von den Aussagen berichtet, die der Junge am Abend gemacht hatte. Als der Kripochef mir nun die Akte reicht, nicke ich nur: »Rote Flaggen.« So nennt man die psychologischen Alarmsignale, die einem beim Blick in Akten oder Vernehmungsprotokolle ins Auge stechen. Tierquälerei ist eine solche »rote Flagge«. Sie zählt zu jenen Delikten, die auffällig häufig in den Biographien von Gewaltverbrechern vorkommen. Manchmal ist sie eine Vorstufe zur Gewalt gegenüber Menschen, Ausdruck von fehlendem Mitgefühl und großem Machtbedürfnis, auch von Sadismus. So wie Brandstiftung. Auch hier zeigt sich ein zerstörerisches Machtbedürfnis. Wie beim Quälen von Tieren können manche Menschen richtiggehend sexuell erregt werden, wenn sie ein Haus in Flammen gesetzt haben.

Nils wurde erwischt, als er eine Katze mit Nadeln malträtierte. Wir in der Runde blicken uns an. Unser Gefühl wird nicht besser. Er hat sich bei der Suche als auffällig engagiert hervorgetan, obwohl er sonst nicht als hilfsbereit gilt. Seiner Aussage nach müsste Nils der letzte Zeuge gewesen sein, der Denise lebend gesehen hat. Um 18:25 Uhr sei er Denise im Treppenhaus begegnet. Sie habe »zickig wie ein kleines Mädchen« auf ihn gewirkt, sei sauer gewesen, da sie ihr Zimmer aufräumen sollte. Ja, man habe ein wenig »Smalltalk« geführt. Er habe sie noch aufgefordert, nach Hause zu gehen, aber sie habe unbedingt mit dem Rad zu einem Freund im Nachbarort fahren wollen. Der sei »schon mehr als nur ein Freund«, habe Denise gesagt. Auf dem Weg dorthin hätte sie durch ein kleines Waldstück fahren müssen, sagte Nils dann noch, dort hätte sie jemand leicht vom Rad ziehen können. Die Beamtin notierte seine Aussage, aber maß ihr noch keine große Bedeutung bei.

Jetzt, nachts im Polizeipräsidium, tun wir das durchaus. Diese Wortwahl? Was meint er mit »Smalltalk«?...

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