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Gott 9.0

Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird

AutorMarion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783641050764
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Ein Upgrade für das spirituelle Bewusstsein
- Ein Lese- und Arbeitsbuch für alle, die eine religiöse Heimat suchen

- Orientierung in einer multireligiösen Wirklichkeit für Christen und Nichtchristen

- Auf der »Spirale des Geistes« zu immer neuen spirituellen Bewusstseinsstufen

- Mit Test, um das persönliche Level zu ermitteln

Dieses neue spirituelle Standardwerk beantwortet grundlegende Fragen aller Menschen, die eine religiöse Heimat suchen. Die »Spirale des Geistes« ist ein Modell, das die verschiedenen bisherigen Bewusstseinsebenen der jeweiligen Gottesvorstellungen abbildet und zueinander in Beziehung setzt - gleichsam ein vertikales Enneagramm. Gott 1.0 entstand vor ca. 100.000 Jahren, derzeit erscheinen am Horizont die Level 8.0 und 9.0 - d.h. die Gesellschaft steht vor einem spannenden Paradigmenwechsel, dem sich dieses Buch widmet.

»Gott 9.0« vermittelt eine positive Zukunftsvision, in der Werte neu mit Inhalten gefüllt werden - inspirierend, getragen von spiritueller Erfahrung, dem Geist der Aufklärung verpflichtet. »Gott 9.0« zeigt die Felder, in denen sich Kirche in den kommenden Jahrzehnten wiederfinden kann. Und »Gott 9.0« bietet Orientierung in einer multireligiösen Wirklichkeit, um einen Weg zur tiefsten geistigen Bestimmung zu finden.

»Gott 9.0 weist Ihnen einen völlig neuen Weg in Richtung Klarheit, Glück und gesunder Spiritualität. Sie werden Vieles mit neuen Augen sehen - die natürliche Entwicklung menschlichen Bewusstseins, den Reichtum kultureller Kreativität und die schrittweise Entfaltung der Seele zu mehr Mitgefühl und nondualer Weisheit.« Richard Rohr

Marion Küstenmacher, geboren 1956, evangelische Theologin und Germanistin, war Mitbegründerin und viele Jahre gemeinsam mit ihrem Mann Werner »Tiki« Küstenmacher Chefredakteurin des monatlichen Newsletters »simplify your life«. 2010 erhielt Marion Küstenmacher den Argula-von Grumbach-Preis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Mit ihren zahlreichen Buchveröffentlichungen gehört sie zu den wichtigsten spirituellen Autorinnen der Gegenwart. Im Gütersloher Verlagshaus erschienen von ihr bereits 'Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird', 'Integrales Christentum. Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz', 'Der Seele einen Garten schenken. Vom Zauber der Blumen und einfachen Dinge', 'Mein fliegender Teppich des Geistes. Wie sich aus Kindheitserfahrungen eine lebendige Spiritualität weben lässt'.

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Leseprobe
Vorwort
von Richard Rohr
Zu Beginn dieses Vorworts würde ich Sie gerne mit meinen bescheidenen Lateinkenntnissen beeindrucken: Quidquid recipitur, recipitur ad modum recipientis.
Wir mussten diesen Satz in unserem Unterricht über scholastische Philosophie auswendig lernen. Irgendwann rief der Professor »Quidquid!« in den Raum, und wir Studenten vollendeten pflichtschuldig sein Mantra. Es bezeichnet ein Grundprinzip der Weltsicht von Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus im 13. Jahrhundert. Übersetzt bedeutet es: »Was auch immer empfangen wird, wird in der Weise des Empfängers empfangen.«
Warum erwähne ich das hier? Weil Sie nicht glauben sollen, Gott 9.0 wäre irgendein neuer Trend aus dem ausgeflippten Kalifornien oder der Münchner Eso-Szene. Die Idee, dass sich die menschlichen Fähigkeiten stufenweise entwickeln, ist für Christen nichts Neues. So etwas erzählt Jesus schon in seinem Gleichnis über den Sämann (Matthäus 13, 23). Dort ist von mindestens vier verschiedenen Weisen die Rede, wie Wirklichkeit empfangen werden kann. Später platzierten wir Katholiken diese Idee der inneren geistlichen Reise mit bestimmten Entwicklungsstufen an den Wänden unserer Kirchen: den Kreuzweg Jesu mit 14 Stationen. Intuitiv wurden damit genau die Bilder geschaffen, die unsere Seele braucht, um tiefer zu verstehen und geheilt werden zu können. Ja, es gibt in der Tat Stationen und Stufen auf der spirituellen Reise.
Dieses Muster ging weiter mit Augustinus. Er formulierte verschiedene Stufen, die Heilige Schrift zu verstehen. Danach kamen die klassischen Wege Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung. Teresa von Avila sprach von verschiedenen Wohnungen in der »inneren Burg«, Johannes vom Kreuz vom Aufstieg auf den Berg Karmel, in der Moderne ging es weiter mit Jean Pia- get, Jean Gebser, James Fowler, Laurence Kohlberg, Eric Erikson, Ken Wil- ber, Carole Gilligan, Bill Plotkin und schließlich Clare Graves mit »Spiral Dynamics«, das diesem Buch zugrunde liegt.
Einige unterscheiden sechs Stufen, andere sieben, acht oder neun, doch die Zahl ist nicht so wichtig. Klar ist: Es gibt so etwas wie eine menschliche
Reifung, und sie hat eine Richtung! Wenn wir nicht das Ziel kennen oder den voraussichtlichen Pfad des menschlichen Wachstums, bleibt unsere Menschlichkeit unzusammenhängend, ohne Struktur, ohne Flugbahn, ohne Absicht und schließlich ohne Sinn. Das genau ist die postmoderne Angst und das Dilemma, das weite Teile der westlichen Welt ergriffen hat.
Die drei Autoren dieses Buches werden Sie einführen in die Stufen menschlicher Entwicklung und spirituellen Wachstums. Über die Beschreibung dieser einzelnen Stufen herrscht ein ruhiger, klarer Konsens. Ich überlasse Sie gerne den Einsichten und der Erfahrung der drei Autoren, den Ergebnissen der Wissenschaft und den Fußnoten. Vorher aber möchte ich Sie ermutigen, einen Moment lang meine eigene Reise mit mir zu teilen. Eine Reise, die schon bald 70 Jahre dauert und typisch ist für so manchen Mann oder manche Frau. Ich frage mich, ob all diese spirituellen Dinge mit zunehmendem Alter klarer werden. Kierkegaard sagte einmal, wir könnten unser Leben nur vorwärts leben, es aber nur rückwärts verstehen. Für mich ist das absolut wahr.
In meiner Kindheit sorgte ich mich, wie es wohl alle tun, um Wohlbefinden und Geborgenheit. Ich hatte doch nur meinen Körper, der Schmerz fühlte und Freude, Sicherheit und Unsicherheit. Glücklicherweise hatte ich eine ziemlich berührungsfreudige deutsch-amerikanische Familie, in der es erlaubt war, sich zu berühren und berühren zu lassen. Es gab keinen Missbrauch und nur wenig Konflikte, und so war meine erste Welt sicher und gut. Es ging nicht gerade ekstatisch zu, aber bis auf den heutigen Tag festigt und erdet sie mich.
Wie viele meiner Generation wuchs ich in einer religiösen Familie auf, mit Gesprächen über Gott, katholische Heilige und Schutzengel, die da draußen alles unter Kontrolle hatten. Überall Rituale und Symbole. Ich lernte früh, was Gott glücklich machte und was ihm missfiel. Das schuf einen weiteren Kreis von Sicherheit und Klarheit, der mir erlaubte, weiter hineinzuwachsen und mich hineinzuversetzen in eine liebevolle und vollkommen beseelte Welt, die angefüllt war mit Geist, so weit ich Geist damals begreifen konnte.
Bald lernte ich, dass ich Gott kontrollieren konnte durch mein gutes Verhalten, durch Gehorsam gegenüber der Kirche und gegenüber verschiedenen Geboten. Ich machte mich selbst zu einem kleinen Helden, und Gott stand mir auf Abruf zur Verfügung - einfach dadurch, dass ich ein braver Junge war gegenüber meinen Eltern und allen Autoritäten. Ich hatte alles unter Kontrolle, indem ich mich richtig verhielt. Und was richtig war, definierten unsere Familien. Es war eine glückliche Welt, und ich blieb dort eine lange, gute Zeit. Es gab eine Menge Belohnungen, und man lebte fast ohne Angst. Es war gut für die soziale Ordnung in der Schule und auf den Straßen. Meine Lehrer und Trainer mochten mich. Ich kann verstehen, warum viele Menschen niemals dieses komfortable Zuhause verlassen. Es fühlt sich »gottgemäß« an.
Als ich ein Teenager wurde, übernahmen die Verlockungen der Freiheit und die Lust der Hormone das Kommando. Religion empfand ich dabei als eine Art Schutzraum, der mir half, weiter die Kontrolle zu behalten. Außerdem gab er mir die Sicherheit, dass ich der bestmöglichen Gruppe in der Welt angehörte (amerikanisch, männlich, katholisch). Wenn die Welten, in denen ich lebte, gut und sicher waren, dann war auch ich gut und sicher. Selbst wenn ich mal die Grenzen austestete oder gegen die Regeln verstieß - ich stellte niemals infrage, dass ich und die Welt nur durch diese klaren Regeln zusammengehalten werden konnten. Diese guten Grenzen sicherten meine Identität und meine Würde. Ich verließ mich darauf, dass mich dieses solide Fundament vorwärts katapultieren würde zum Erfolg. Wenn ich einmal daran zweifelte, schämte ich mich und fühlte mich schuldig. Es fühlte sich logisch und vernünftig an, Regeln zu gehorchen, sogar beim Sport, auf jeden Fall in Sachen Religion. Ich bewunderte mich und andere für diesen Gehorsam. Das alles fühlte sich noch »gottgemäßer« an als vorher.
Dann ging ich aufs Priesterseminar und entwickelte einen starken Wunsch nach persönlicher Erleuchtung. Ich bekam eine großartige Ausbildung, ein begrenztes Wissen über mich selbst und über die historischen Zusammenhänge. Aber niemals so viel, dass ich wirklich die Gruppen hätte hinterfragen können, die mir all diese Identität und Sicherheit für meine zukünftige Karriere gaben. Das Seminar vermittelte uns auf perfekte Weise das Gefühl, gut ausgebildet zu sein, doch vieles davon war pure Propaganda. Es war nicht wirklich gelogen, aber unser Denken bewegte sich innerhalb einer Art Schachtel, die für uns prima funktionierte.
Wir erlebten dort tatsächlich persönliches Wachstum. Wir dachten vernünftig und rational, aber noch nicht selbstkritisch. Wir waren noch weit entfernt von dem, was ich heute Weisheit nennen würde. Ich und die Gruppen, in denen ich mich bewegte, blieben das Zentrum der Welt, zumindest der Welt, die für Gott zählte. Ich hatte Freunde, Ge fährten und nützliche Menschen um mich. Aber ich war nicht sicher, ob ich wirklich jemanden mehr lieben könnte als mich selbst. Das sehe ich natürlich erst heute so - damals hätte ich geschworen, dass es ganz anders war.
Gott sei Dank hatte ich das Glück, meine Jugend in den 60er-Jahren erleben zu können. Ich wurde wirklich gebildet, las eine Menge verschiedenster Sachen und wurde zum ersten Mal konfrontiert mit ernsthaftem kritischem Denken. Damit begann für mich erstmals eine Phase jenseits der Kindheit.
Der Vietnamkrieg ließ uns Amerika kritisch sehen, das Zweite Vatikanische Konzil ließ uns den Katholizismus kritisch sehen, und durch die neuen therapeutischen Wissenschaften sahen wir uns selbst und alle anderen kritisch. Wir waren nicht mehr so glücklich, aber wir waren sicher, dass wir jetzt echt erleuchtet waren und frei. Wir fühlten uns sehr sensibel und bewusst. Wir waren liberale Demokraten in Amerika, wir waren für Gleichheit, Gerechtigkeit und jede Art politischer Korrektheit. Uns taten die Menschen leid, die nicht so frei waren wie wir. Wir waren nicht so sicher, was oder wen wir liebten. Aber wir wussten genau, was falsch war und was wir hassten. Das verschaffte uns eine solide Grundlage für beruflichen Erfolg, gab uns Identität, und obendrein hatten wir einen Kreis gleichgesinnter Freunde, die ebenso erleuchtet waren wie wir.
Dann kamen die mittleren 30 Jahre des Lebens, mit all ihren Erfahrungen von Liebe und Verlust, voller Suche nach Antworten, nach innerer Wahrheit, voll von ständigen Desillusionierungen, immer wieder gefolgt von neuen Versuchen. Es gab viele persönliche Fehler - im Denken, bei den Beziehungen und bei praktischen Projekten. All diese Fehler waren unbezahlbar, obwohl ich das erst jetzt sehen kann. Es war die schlimmstmögliche Form von Leben und die bestmögliche Form von Sterben. Ich habe aufgegeben, all die verschiedenen Arten von Glauben und Unglauben zu zählen, all die Gotteserfahrungen und Sündenerfahrungen, denen ich ausgesetzt war. Ich habe ausgesprochen heilige Menschen außerhalb der Kirche getroffen, und sehr tote Menschen innerhalb der Kirche.
Ich reiste durch die ganze Welt und traf viele Menschen, die weder Amerikaner noch Christen waren und trotzdem sehr liebevoll und glücklich. Ich traf viele Menschen, die »unsere« Werte viel besser lebten als wir. Viele meiner neuen Helden kamen von außerhalb meiner Gruppen und außerhalb meiner Religion. Ich schaffte es, einen gewissen Grad von Zweifel auszuhalten und mich trotzdem in der Hand von jemandem zu fühlen, den ich nach wie vor Gott nennen möchte. Schließlich bin ich Priester.
Ich erlebte viel Dunkelheit, viele Versuchungen, aber noch viel mehr Segen. Am Ende fand ich mich inmitten einer »verborgenen Ganzheit«, wie Thomas Merton das nannte. All die Widersprüche und Paradoxien, die ich erlebt hatte, waren nicht nur o. k., sondern wünschenswert! Sie erschufen eine wunderbare neue Welt, in der Liebe endlich möglich war. Mehr und mehr wurde das Leben ein Feld der Vereinigung. Weniger und weniger war Gott jemand da draußen. Ich urteilte nicht mehr über die, die nicht so waren wie ich. Ich konnte Dinge leichter zulassen und mich an ihnen erfreuen, anstatt sie ständig kontrollieren oder erklären zu müssen (obwohl das nach wie vor seinen Reiz hat!). Es war eine ganz neue Art von Glück, mit der ich meine eigenen Ängste und Zweifel ruhig ertragen konnte. Regelmäßig konnte ich dieses Feld der Vereinigung wieder finden, jedes Mal in einer tieferen Weise. Es gab nun weniger Hochs und weniger Tiefs, sondern einfach Leben. Und zwar mein Leben, das jetzt irgendwie auch Gottes Leben geworden war.
Ich denke, Sie spüren allmählich die Verbindung zu Gott 9.0. Sie werden in diesem Buch erfahren, dass Sie nicht verrückt sind, wenn Sie ähnlich verrückte Erfahrungen gemacht haben wie ich.
Wir beginnen gerade, einen neuen, starken und geräumigen Behälter zu bauen, der endlich alle verrückten, scheinbar nicht zusammenpassenden Inhalte des Lebens enthält. Das Ziel ist der Inhalt. Homers »Odyssee«, Hermann Hesses »Siddharta«, Etty Hillesums »Das denkende Herz« - all diese großen Bücher machen in verschiedenen Formen ein Muster deutlich: Sie und ich leben in Kulturen und Kirchen, die den Behälter für wichtiger halten als seine Inhalte. Überall begegnen wir dummen Auseinandersetzungen von der Art »mein Behälter ist besser als deiner«. Solche Sätze kommen häufig von Menschen, die eine sehr schwache Wahrnehmung von sich selbst haben, von ihrer eigenen Seele und dem, was sie zusammenhält. Wenn ihr die Weinbehälter verliert, sagt Jesus, verliert ihr auch den Wein.
Marion, Tiki und Tilman werden Ihnen in einer neuartigen und frischen Weise zeigen, wie wir wachsen: in Richtung Mitgefühl, Inklusivität, Weisheit, Geduld, Nondualität. Wir werden immer weniger Antworten brauchen und immer weniger Kontrolle. So entfaltet sich die Seele stufenweise auf ihrem Weg. So werden wir erwachsener. So werden wir eine Gesellschaft nicht nur der Älteren, sondern derer, die Weisheit und Orientierung haben für die nächste Generation. Solche im besten Sinne »Ältesten« haben wir bitter nötig. Gott 9.0 wird Ihnen den Weg in diese Richtung weisen, hin zu mehr Glück und Klarheit.
Ken Wilber hat einmal klug bemerkt, dass wir alle elitär start en, aber egalitär landen. Dort allein, in der egalitären Verbundenheit mit allen, sind menschliche Gemeinschaft, Zusammenhalt, Weisheit und Mitgefühl möglich. Das ist die normale und natürliche Richtung menschlichen Wachstums. Dorthin wachsen kreative Kulturen. Das ist das Ziel jeder gesunden Spiritualität. In diesem Buch werden die vielen Rastplätze, Umwege und Sackgassen entlang dieses Weges beschrieben. Aber Sie werden dabei auch sehen, dass die Seele immer geführt wird, und zwar nach vorne, in die Zukunft. Wenn wir es ihr nur erlauben.
Sie werden auf neue und aufregende Weise geduldiger werden mit anderen, die noch wachsen, Sie werden mehr Hoffnung haben für diese Menschheit, die sich auf eine wunderbare Ganzheit zubewegt. Und Sie werden den Mut haben, sich als Geschöpf Gottes zu bezeichnen. Endlich hat der Behälter seinen ureigensten und besten Inhalt gefunden.
Richard Rohr, O.F.M.
Center for Action and Contemplation
Albuquerque, New Mexico, Ostern 2010

Einleitung
»Neun punkt null. Donnerwetter!« So reagierten viele, als sie den Titel dieses Buchs zum ersten Mal hörten. Bei Updates von Computerprogrammen (wo die Schreibweise »punkt null« ihren Ursprung hat) ist man höchstens 7.0 gewöhnt; die Rede vom »Web 2.0« war seit 2003 ein großes Schlagwort, und ein paar besonders futuristische Feuilletonisten riefen schon mal ein »Internet 3.0« aus. Aber 9.0, das ist schon was, selbst im Reich der kurzatmigen Innovationen.
Ausgerechnet auf die Zahl 9 sind wir gekommen, weil wir Ihnen in diesem Buch ein Modell vorstellen wollen, das die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins beschreibt, und dieses Modell hat tatsächlich neun Stufen. Ja, es deutet sich sogar schon eine zehnte an, und auch die wird eines Tages von einer elften abgelöst werden. Sie merken schon, hier geht es um etwas Großes.
Etwas ganz Großes sogar. Denn der Anspruch dieses Buchs ist kein geringerer als der, die gesamte geistige Entwicklung der Menschheit einzubeziehen. Es geht um einen Zeitraum von über 100 000 Jahren und eine Gesamtzahl von über 100 Milliarden Personen. Das ist die Summe aller Menschen, die zurzeit leben und jemals davor gelebt haben.1
Wir stellen Ihnen in diesem Buch ein bisher einmaliges System vor, mit dem Sie sich in den zahllosen Strömungen unserer Zeit besser zurechtfinden können. Auch die Geistesgeschichte der Vergangenheit werden Sie besser verstehen.
Wo das System herkommt
Vieles davon beruht auf den Gedanken von Clare Graves und Ken Wilber. Die Erkenntnisse dieser amerikanischen Wissenschaftler ihrerseits haben ihren Ursprung in der Arbeit vieler Denker. Seit Jahrhunderten hat es innovative Frauen und Männer gegeben, die weit in die Zukunft geblickt und die Entdeckungen von Graves und Wilber vorbereitet haben.
Clare Graves (1914-1986) war ein US-amerikanischer Professor für Psychologie und begründete die »Ebenentheorie« der Persönlichkeitsentwicklung. Er selbst nannte sie »Theorie der zyklisch auftauchenden Existenzebenen« (Emergent Cyclical Levels of Existence Theory, kurz ECLET). Von 1952 bis 1959 befragte er mit einer von ihm entwickelten psychometrischen Methode vor allem Studenten aus allen Kulturkreisen. Er entdeckte dabei, dass sich deren Wertsysteme und Grundüberzeugungen in typische Gruppen zusammenfassen lassen, die aufeinander aufbauen. Er nannte diese Bewusstseinsebenen »level«, was gewöhnlich mit »Stufen« übersetzt wird.
Als wir das erste Mal von dieser Theorie hörten, waren wir als Theologen wie elektrisiert. Denn Graves stellte bei seinen sozialpsychologischen Forschungen ganz nebenbei fest, dass sich auch die Gottesvorstellungen nach festen, vorhersagbaren Mustern verändern. Wenn jemand »Gott« sagt, müsste er eigentlich dazu die Stufe seiner Entwicklung nennen, sozusagen die Versionsnummer seines Gottesbegriffs. Dann stellt sich beispielsweise heraus, dass orthodoxe Juden, konservative Katholiken oder traditionelle Moslems meistens Gott 4.0 meinen, wenn sie von ihm sprechen. Protestanten verstehen unter Gott eher Gott 5.0, wobei es auch Kreise gibt, die zurück zu Gott 4.0 tendieren. Die meisten engagierten Christen dagegen meinen mit Gott die Version 6.0 - und werden von ihren Bischöfen und anderen 4.0-Anhängern permanent missverstanden.
Was Sie davon haben
Wir sind, je länger wir uns damit beschäftigen, umso überzeugter, dass diese Einsicht unseren Glauben revolutionieren kann. Ja, möglicherweise sogar unsere Gesellschaft. Mit Graves' Modell lassen sich bei vielen festgefahrenen Diskussionen und ideologischen Grabenkämpfen die Blockierungen leichter benennen - und dadurch hoffentlich auch lösen.
Bisher hat noch kein Theologe das Ebenenmodell von Graves für Kirche und Spiritualität nutzbar gemacht. Das macht die Sache reizvoll, weil es ein neuer Blick auf die Wirklichkeit ist. Sie können bei anderen Menschen, denen Sie davon berichten möchten, vermutlich nichts voraussetzen. In Diskussionen zu diesem Thema werden Sie also immer ein wenig ausholen müssen, so wie wir das mit diesem Buch auch tun.
Sie werden am Beginn dieses Buchs ein Schema lernen, mit dem Sie die einzelnen Bewusstseinsstufen schnell benennen können: neun Farben, die sich noch leichter merken lassen als die Zahlenbezeichnungen Gott 1.0 bis Gott 9.0. Diese Farben haben zwei Schüler von Clare Graves eingeführt, Don Beck und Christopher Cowan. Sie verwenden das Schema in der Unternehmens- und Organisationsberatung und haben es »Spiral Dynamics« genannt. Unter diesem Namen wird es Ihnen vielleicht ab und zu begegnen.

Die Software unseres Bewusstseins
Bei jedem Übergang (oder Update), etwa von Gott 5.0 zu Gott 6.0, ändert sich, so würde man das mit technischen Begriffen sagen, das gesellschaftliche Betriebssystem. Ganz ähnlich wie bei den verschiedenen Windows-Versionen machen längst nicht alle Menschen das Upgrade sofort mit, sobald es angeboten wird. Einige springen zwar sofort auf, die meisten aber warten erst einmal ab, ob es sich bewährt. Irgendwann ist die Mehrheit umgestiegen, aber einige wollen sich nicht umstellen und halten gewohnheitsmäßig am alten fest, weil es ihren Bedürfnissen genügt. Das geht durchaus eine Zeit lang gut. Unangenehm spürbar wird das erst, wenn Ihnen jemand eine Textdatei von Word 2010 schickt, das Ihr altes Word von 1993 nicht mehr lesen kann. Dann merken Sie, dass Sie Ihre Software allmählich auf den neuesten Stand bringen sollten. Ähnlich ist es bei den Bewusstseinsstufen von Menschen und Gesellschaften.
Es gibt allerdings ein paar signifikante Unterschiede. Bei einem Computer können Sie auch einmal eine Softwaregeneration überspringen. Bei den Bewusstseinsstufen geht das nicht. Nach Gott 4.0 müssen Sie sich zu Gott 5.0 weiterentwickeln. Sie werden sehen, dass viele Menschen gern direkt zu 6.0 upgraden möchten und dass das ein Grund ist für die vielen Unstimmigkeiten in Glaube, Theologie, Kirche und Gesellschaft.

Verschiedene Systeme nebeneinander
Ein weiterer Unterschied betrifft die Komplexität unseres Bewusstseins. Ein Computer erhält stets als Ganzer ein neues Betriebssystem. Das menschliche Bewusstsein dagegen besteht aus mehreren Bereichen, die unterschiedlichen Bewusstseinsstufen angehören können. So kommt es durchaus vor, dass Menschen ein Glaubenssystem mit Gott 4.0 haben, im Berufsleben reibungslos in 5.0 funktionieren, in Partnerschaft und Freundeskreis aber ist für sie bereits 6.0 Standard. Und wenn sie am Wochenende ein Sportstadion besuchen, erfreuen sie sich im Betriebssystem 3.0. Wir werden dieses Phänomen, das der Philosoph Ken Wilber beschrieben hat, »Entwicklungslinien« nennen: Stellen Sie sich Ihr Bewusstsein vor wie verschieden hohe Türme, die unterschiedlich weit in die Bewusstseinsstufen hineinreichen.
Die Betriebszustände des Bewusstseins
Es gibt noch eine Differenzierung, die vor allem den Gottesbegriff betrifft. Als Vergleich kann wieder ein moderner PC gelten, am besten ein Laptop. Der hat verschiedene Betriebszustände: Wenn Sie ihn an eine Steckdose anschließen, läuft er im Normalmodus. Arbeiten Sie unterwegs mit dem Akku, schaltet das Gerät in den Energiesparmodus. Wollen Sie das Ding ausschalten, ist das gar nicht so einfach. Sie müssen sich entscheiden zwischen einem »Ruhezustand«, einem Stand-by-Modus und dem kompletten »Herunterfahren«. Und selbst dann sind bestimmte Funktionen noch in Betrieb - die Uhr läuft weiter, oder Netzwerkanschlüsse werden noch weiter versorgt.
Auch Sie als Mensch leben in verschiedenen Modi. Während Sie diese Zeilen lesen, sind Sie (hoffentlich) im Wachzustand. Wenn Sie abends zu Bett gehen, fallen Sie nach einiger Zeit in den Schlafzustand. Viele Körperfunktionen sind dann gleichsam im Energiesparmodus, andere aber sind noch in Betrieb: Atmung, Herz, Kreislauf, der Gehörsinn, auch Ihr Gehirn ist keineswegs abgeschaltet. Ja, es vollbringt während des Träumens sogar Leistungen, zu denen es im Wachzustand gar nicht fähig wäre.
Die Kenntnis und Unterscheidung der unterschiedlich tiefen spirituellen »Zustände« gehört zum Kerngeschäft aller Religionen. Deswegen haben wir dem Phänomen dieser meditativen Zustände ein Extrakapitel gewidmet.
Stufen und Typen
Als Computernutzer oder -nutzerin wissen Sie, dass es viele verschiedene PC-Hersteller und PC-Arten gibt, und dass das so gut wie keinen Einfluss hat auf die Software, die darauf läuft.
Vergleichbar ist das mit den verschiedenen Typen von Menichen: Es gibt Männer und Frauen, Alte und Junge, hochgebildete und sehr schlichte Gemüter, Europäer und Afrikaner, Asiaten und Amerikaner. Nach verschiedensten Rastern lassen sich Persönlichkeitstypen aufteilen: C.G. Jungs Archetypen, Riemanns Grundformen der Angst, das DISG-Schema, der Myers-Briggs-Typenindikator oder das Enneagramm. Braucht es da wirklich noch ein weiteres Stufenmodell? Und wenn ja, wie hängen Typen und Stufen zusammen?
Wir drei haben uns über 20 Jahre lang mit den neun Enneagrammtypen beschäftigt und uns immer wieder gefragt: Warum zeigen mehrere Personen des eindeutig gleichen Enneagrammtyps so deutliche Unterschiede in ihren Weltbildern und Reifegraden? Warum erlebten manche von ihnen innere
Umbrüche und hatten danach das Gefühl, auf einem völlig neuen Bewusstseinsfeld angekommen zu sein? Warum erlebten andere nichts dergleichen? Mit Hilfe von Graves' Bewusstseinsstufen haben wir das Rätsel endlich lösen können: Die einen erlebten eine Wanderung durch mehrere Stufen, während die anderen innerhalb einer Stufe zu höherer innerer Reife fanden.
Alle neun Enneagramm-Muster kommen auf jeder der sechs, sieben oder mehr Bewusstseinsstufen vor. Das jeweilige Muster bleibt auch bei einem Stufenwechsel erhalten. Ein harmoniebedürftiger Typ vom Muster NEUN kann sich mit seinem spirituellen Schwerpunkt auf der Ebene von Gott 2.0 befinden oder auf 6.0 und höher. Sein Persönlichkeitsmuster wird immer erkennbar bleiben. Sein Reifegrad aber, seine Integrationsfähigkeit und sein spi rituelles Bewusstsein werden im mer von der Stufe abhängen, in der er sich befindet. Entsprechend setzt sich eine NEUN auf der Stufe Gott 4.0 mit einem völlig anderen Gottesbild auseinander als eine NEUN auf der Stufe Gott 7.0 - und jeder dieser Menschen braucht psychologisch wie seelsorgerlich eine andere Begleitung!
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Muster kann viel zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Dieses Buch bietet ähnlich einschlagende Aha-Erlebnisse. Die neun vertikalen Stufen, die hier in Gott 9.0 beschrieben werden, sind die ideale Ergänzung zu den neun horizontalen Typmustern, die das Enneagramm vermittelt.

Schattenarbeit
In unserer Therapeuten- und Seelsorgearbeit haben wir gelernt, dass es ohne Schatten arbeit kein wirkliches persönliches und spirituelles Wachstum gibt. Mit Schatten sind die unbewussten Anteile einer Persönlichkeit gemeint, die man - ohne es anfangs zu bemerken - verleugnet, verdrängt und abspaltet. Man nimmt zum Beispiel Neid, Hochmut, Angst, Wut nicht mehr bewusst wahr, obwohl sie noch da sind. Andere aber bemerken das durchaus und reagieren mit Abwehr oder Kritik. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen wird durch den unbewussten Schatten belastet. Alles, was unterdrückt wird, kann sich auch zurückmelden als schmerzliches Körpersymptom. Ein körperlicher Leidensweg beginnt, dessen Ursache aber psychischer Natur ist.
Den Schatten aufzuspüren ist ein wesentlicher Beitrag zum eigenen Wohlergehen in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht. Um den Schatten aufzudecken, muss man sich kritisch selbst betrachten und sich auseinandersetzen mit den problematischen Anteilen der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Gute Techniken dafür sind Voice Dialogue, Enneagramm, Wertimagination oder Big-Mind-Prozess. Dort kann man sich seinen Vermeidungsstrategien, Abwehrmechanismen oder inneren Gegenspielern zuwenden und mit ihnen sprechen. Gerade bei Schattenarbeit sollte man darauf achten, sich eine seriöse und kompetente Begleitung zu suchen. Inzwischen gibt es auch einen psychotherapeutischen Ansatz, der alle Stufen berücksichtigt. Welche Art von Psychotherapie gerade angemessen ist, hängt dabei von der Entwicklungsstufe ab, auf der eine Störung aufgetaucht ist.

Die Grenzen aller Vergleiche
Trotz aller Vergleiche mit Betriebssystemen und Versionsnummern ist natürlich klar: Wir Menschen sind keine Computer. Wir sind unendlich viel komplexer. Wir haben mehr Fragen als Antworten angesichts dieser widersprüchlichen Wirklichkeit. Und wir haben besonders viele Zweifel in Glaubensfragen. In diesem Buch aber werden Sie entdecken, dass Sie nicht nur zweifeln dürfen an Ihrem gegenwärtigen Glauben, sondern dass dieses Zweifeln eine ganz wesentliche, wunderbare Fähigkeit von Ihnen ist.
Zweifeln löst Sie heraus aus den Grenzen einer überholten Bewusstseinsstufe. Der Zweifel ist ein Indiz dafür, dass Sie die nächsthöhere Bewusstseinsstufe bereits anzieht wie ein Magnet. Der Mystiker Franz von Sales sprach davon, dass Gott selbst diese magnetische Anziehungskraft ist, die ein »Kraftfeld des Hinweggerissen-Werdens«3 erzeugt. Dieser wunderbare Magnetismus ermöglicht es Ihrem Bewusstsein, sich immer weiter aufzuschwingen - von Ihrer aktuellen Stufe bis hin zu Gott 9.0 und vielleicht darüber hinaus.
Laden Sie also bitte Ihren inneren Zweifler zur Lektüre ein. Sehen Sie in seiner Anwesenheit ein Indiz für Ihr spirituelles Interesse, weiter zu wachsen. Sind Sie neugierig geworden? Sehr gut, denn jetzt geht es los.

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