Geheimnisvolle Karte
Bitte entscheiden Sie sich im Stillen für eine der sechs Spielkarten und prägen Sie sich diese ein.
Blättern Sie jetzt bitte um.
Projizieren Sie in Gedanken die ausgewählte Karte auf eine leere Fläche.
Vielleicht erscheint zuerst nur der Wert, danach das Bild und dann erst die Farbe. Gehen Sie dabei in Ihrem Tempo vor, bis Sie Ihre Karte in Ihrer Phantasie deutlich vor sich sehen.
Hier sehen Sie nur noch fünf Spielkarten, und genau Ihre ist nicht mehr dabei. Stimmt’s?
Hinter den Kulissen
Vielleicht haben Sie diesen Trick zuvor schon einmal im Internet gesehen und sind trotzdem bisher nicht dahintergekommen, wie er funktioniert. Ganz einfach: Vergleichen Sie mal die Karten, aus denen Sie sich zu Beginn eine ausgesucht haben, mit den Karten bei der Auflösung. Bemerken Sie irgendwelche Unterschiede?
Genau, es sind komplett andere Spielkarten. Dass Ihnen das vorhin nicht aufgefallen ist, liegt unter anderem an der Aufmerksamkeitsfokussierung. Ich hatte Sie gebeten, sich eine Karte einzuprägen – nicht alle. Also haben Sie sich die anderen Karten auch nicht im Detail gemerkt. Sie werden wahrgenommen haben, dass es ausschließlich Bildkarten waren – mehr nicht. Da die letzte Grafik auch nur aus Bildkarten besteht, ist Ihnen nichts «verdächtig» vorgekommen.
Das Kernprinzip dieser Täuschung ist die sogenannte Veränderungsblindheit. Das bedeutet, wir nehmen teilweise große Änderungen in dem, was wir sehen, nicht wahr, wenn unsere Aufmerksamkeit vorübergehend abgelenkt wird.
Ein klassisches Experiment zum Nachweis der Veränderungsblindheit wurde auch schon einige Male bei Unterhaltungssendungen mit versteckter Kamera gezeigt. Dabei fragt ein Eingeweihter einen Passanten nach dem Weg. Mitten im Gespräch tragen dann zwei weitere Personen, die zum Team gehören, als Bauarbeiter verkleidet eine Tür oder ein großes Holzbrett zwischen dem Passanten und dem Eingeweihten hindurch, sodass dieser kurz verdeckt ist. Hinter der kurzzeitigen Deckung wird der Eingeweihte schnell durch eine andere Person ersetzt. Nur die Hälfte der Passanten bemerkte den Austausch, der Rest setzte das Gespräch fort, als wäre nichts geschehen. Dabei unterschied sich die ausgetauschte Person in der Regel durch Kleidung, Größe, Frisur und Stimme deutlich von der ersten. Als TV-Zuschauer lacht man über solche Szenen, aber ganz gefeit sind wir alle nicht dagegen.
Das liegt daran, dass wir unsere Umwelt längst nicht so detailliert wahrnehmen, wie wir glauben. Wir verschaffen uns zwar sehr schnell einen Überblick, aber meist nur so genau wie nötig. Wir erfassen lediglich das Wesentliche und keine Details, denn das ist in den meisten Fällen ausreichend. In dem geschilderten Beispiel erkennen wir also bloß: «Da fragt mich jemand nach dem Weg» oder «Da sind Spielkarten abgebildet».
Unser Gehirn spart durch diese Vorgehensweise wertvollen Speicherplatz, denn es ist überflüssig, alle Details unserer Umwelt im Kopf zu behalten. Schließlich haben wir die Welt vor Augen und können jederzeit hinsehen. Genau das hindert uns daran, kleine Veränderungen in unserer Umgebung zu bemerken, wenn wir nicht genau in dem Moment hinschauen, in dem sie geschehen.
Bei unserem Experiment habe ich Sie dadurch abgelenkt, dass ich Sie gebeten habe, die ausgewählte Karte gedanklich auf die leere Fläche zu projizieren und dann erst auf die Grafik mit den fünf Karten zu schauen. Durch diese Unterbrechung hatten Sie keinen direkten Vergleich zwischen der ersten und der zweiten Kartengruppe. Wären die Abbildungen direkt nebeneinander angeordnet gewesen, wären Ihnen die Unterschiede bestimmt sofort aufgefallen.
Wir haben also kein exaktes Bild der Situation vor der Veränderung im Kopf, auch wenn wir das oft glauben. Aus diesem Grund hatten Sie auch nicht die Details der Karten präsent, die am Anfang unseres Experiments abgedruckt waren.
Die bittere Wahrheit lautet also: Wir nehmen weniger wahr, als wir glauben.
Um uns so sehr abzulenken, dass wir eine Veränderung nicht wahrnehmen, genügt sogar schon der Bruchteil einer Sekunde. Es reicht ein Blinzeln oder eine Augenbewegung, während wir unseren Blick auf eine andere Stelle fixieren.
In Studien hat man Probanden Fotos auf einem Bildschirm gezeigt, mit dem Auftrag, auf jede Veränderung zu achten. Dabei haben die Forscher per Computer den Lidschlag der Testpersonen überwacht, sodass sie die Bilder genau in dem Moment gegen veränderte Varianten austauschen konnten, in dem der Proband die Augen beim Blinzeln geschlossen hatte. So war auf einem Bild ein Paar zu sehen, das auf einem Balkon bei einem Glas Wein zusammensaß. Hinter ihnen war die Brüstung des Balkons auf Schulterhöhe zu erkennen. In der veränderten Version war das Bild so manipuliert, dass sich das Geländer nicht mehr auf Schulter-, sondern auf Nasenhöhe befand, also ein deutlicher Unterschied. Ein Großteil der Probanden bemerkte die Veränderungen jedoch gar nicht, da das Umspringen des Bildes für sie durch den gleichzeitigen Lidschlag nicht sichtbar war. Damit war ihnen auch die vorgenommene Veränderung nicht bewusst.
In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, warum wir nichts davon mitbekommen, wenn wir blinzeln, was wir ungefähr alle vier Sekunden tun. Eigentlich müsste es uns jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen werden. Das geschieht aber nicht, da das Gehirn immer kurz vor dem Schließen der Lider das Signal, das die Augen ihm liefern, sozusagen auf «Pause» stellt und erst nach dem Öffnen der Augen neue Informationen abfragt. Dieses System gibt es übrigens nur bei uns Menschen und bei den Säugetieren. Vögel dagegen blinzeln erst mit einem und danach mit dem anderen Auge, damit sie nichts verpassen.
Beim Schneiden von Filmen macht man sich die Phänomene der Veränderungsblindheit ebenfalls zunutze. Jeder Bildschnitt imitiert einen Perspektivwechsel, den wir im echten Leben dadurch erreichen, dass wir die Blickrichtung wechseln. Während der Augenbewegung nehmen wir unsere Umgebung kurzzeitig nicht wahr, wodurch es zu einer Unterbrechung kommt. (Siehe auch Stillstehende Zeit, Seite 240.)
Genauso registrieren wir einen Bildwechsel im Film unterbewusst als eine Unterbrechung, die ebenfalls zu Veränderungsblindheit führt. Aus diesem Grund bemerken wir nur selten kleine, unbeabsichtigte Veränderungen, die während des Schnitts stattfinden. In der Fachsprache nennt man das Anschlussfehler, das heißt, man hat bei den Dreharbeiten nicht darauf geachtet, dass nach dem Wechsel der Kameraperspektive wirklich alles genauso aussieht wie zuvor.
Im Rahmen eines Versuchs wurde mit dem Umschnitt der Hauptdarsteller ausgetauscht. Was schätzen Sie, wie vielen Teilnehmern dieser grobe Unterschied aufgefallen ist? Es waren nur 33 Prozent aller Probanden. Die anderen scheinen die Szene eher als Ganzes gesehen und zwar wahrgenommen zu haben, dass ein Mann mitspielt, die Details zu seinem Aussehen waren ihnen offensichtlich aber nicht bewusst. Dadurch fiel ihnen nicht auf, dass vor dem Perspektivwechsel ein anderer Darsteller die Rolle spielte als danach.
Das Wissen um diese menschliche Schwäche führt dazu, dass selbst bei aufwendigen Hollywood-Produktionen aus Kostengründen oft darauf verzichtet wird, Szenen neu zu drehen, wenn sich ein Anschlussfehler eingeschlichen hat. Die Chance, dass der Fehler bemerkt wird, ist nun mal denkbar gering. In Titanic gibt es zum Beispiel eine Szene, in der sich ein Nebendarsteller während des Schiffsuntergangs an einen Fahnenmast klammert. In einer Einstellung hat er keine Schwimmweste an, nach dem Umschnitt trägt er plötzlich eine. Ich vermute, das ist bisher nur den wenigsten aufgefallen.
Wenn Sie Lust auf weitere Anschlussfehler haben, empfehle ich Ihnen die Seite www.moviemistakes.com. Dort finden Sie zu allen großen Filmen Listen mit den bisher von Zuschauern gefundenen Fehlern. Bei Titanic sind es insgesamt 204, allerdings steht der Film damit bloß auf Platz 16 der Fehler-Charts. Platz 1 hat Apocalypse Now mit 390 Patzern inne.
Ob wir bei einem Film einen Anschlussfehler entdecken oder nicht, hat für unser Leben in der Regel keine großen Auswirkungen. Im Straßenverkehr dagegen kann die Veränderungsblindheit gravierende Folgen haben. Bei mehr als 50 Prozent aller Kollisionen im Straßenverkehr spielt die fehlende oder verspätete Wahrnehmung der Gefahrenquelle eine Rolle. Wechselt beispielsweise eine Ampel genau in dem Moment von Gelb auf Rot, in dem der Fahrer kurz in eine andere Richtung blickt, birgt das die Gefahr, dass er die Veränderung nicht oder zu spät erkennt und gegebenenfalls die rote Ampel sogar überfährt. Auch kurze Blendungen von entgegenkommenden Fahrzeugen oder Schlamm, der auf die Windschutzscheibe spritzt, können im ungünstigen Fall von Veränderungen ablenken. So kann es passieren, dass der Fahrer einen Fußgänger, der auf die Straße läuft, oder ein Auto, das aus einer Seitenstraße kommt, zu spät bemerkt.
Studien besagen, dass der Fahrer, da er sich auf das Steuern des Fahrzeugs konzentriert, anfälliger für Veränderungsblindheit ist als der Beifahrer. Letzterem fallen Veränderungen wie das Umspringen der Ampel eher auf. Seitdem ich das weiß, gehe ich entspannter damit um, wenn ich einen Beifahrer habe, der «mitbremst». Denn sollte ich durch kurzzeitige Blindheit das Umspringen einer Ampel oder eine andere wichtige Veränderung verpassen, könnte die Reaktion...