Weil unsere Kinder
unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind,
und weil sie die Schwächsten sind,
gehören sie an die
erste Stelle der
Gesellschaft.
Olaf Palme
Im Sommer 2004 zitierte ein weltweit seine Dienste anbietender Internetanbieter in Deutschland auf seiner Startseite den Deutschen Kinderschutzbund mit folgenden Worten: „Kinder in die Welt zu setzen sei immer noch die schnellste Möglichkeit, sich finanziell zu ruinieren!“[3]
Auch wenn dieser Ausspruch so in keinem Artikel und in keiner Pressemitteilung des Deutschen Kinderschutzbundes zu finden war, so drückt er doch die Stimmung der Generation der 20 – 35 jährigen aus, welche für die Gründung einer Familie – und zu ihr gehören sinngemäß Kinder – in Frage kommt.
Zahlen aus soziologischen Umfragen belegen dies eindrücklich: Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes kostet ein Kind bis zu seinem 18. Lebensjahr so viel wie ein kleines Einfamilienhaus. Legt man zugrunde, dass nach ökonomischen Fakten in den neuen Bundesländern ungefähr 40 – 50 Prozent des Haushalt-Einkommens durch das Einkommen der Ehefrau oder Lebensgefährtin erwirtschaftet wird, und auch in den alten Bundesländern der Anteil zwischen 25 und 45 Prozent liegt, so fällt die Entscheidung für die Gründung einer Familie schwer. Denn Kindererziehungsphasen bedingen Einkommensminderungen, Karriereverzicht oder Teilzeitarbeit. Zudem ist die Bereitschaft gering, nach einer langen Berufsausbildung oder einem zeitaufwendigen Studienweg sich nur der Familie zu widmen.
Tatsache ist auch, dass sich die wirtschaftliche Situation von Alleinerziehenden mit mehreren Kindern in den letzten Jahren verschlechtert hat. Der erste Reichtum und Armutsbericht der Bundesregierung unterstreicht dies:
Eine Analyse der Niedrigeinkommen bestätigt, dass sich die Einkommensverhältnisse der allein erziehenden Eltern im Vergleich zu denjenigen der Ehepaare mit Kindern außerordentlich deutlich unterscheiden. Der weit überwiegende Teil der allein Erziehenden lebte in Umständen steuerlicher Niedrigeinkommen. Im Vergleich der Jahre 1993 und 1998 wird deutlich, dass deren Einkommensverhältnisse sich auch relativ verschlechtert haben (so auch EVS, s. dazu Bericht Teil A Kap. I.1).
Darin spiegeln sich u. a. der schwierige Stand allein erziehender Mütter in den 90er Jahren auf dem Arbeitsmarkt wider wie die Zeitbudgetbelastungen durch Familienarbeit und die Defizite an familiengerechter Kindertagesbetreuung.
Angesichts eingeschränkter Möglichkeiten der Erwerbsbeteiligung und der in den 90er Jahren bestehenden Defizite an familiengerechter Kindertagesbetreuung überrascht es auch nicht, dass die Niedrigeinkommensanteile kinderreicher Familien deutlich stiegen (vor Transferleistungen).[4]
Neben diesen ökonomischen Anmerkungen möchte ich noch weitere Themen nennen, welche die ‚fehlende Lust’ nach einer eigenen Familie bei jungen Menschen begründen.
Ein gängiges Rollenmuster für Familie und Beruf übt gerade in Mitteleuropa extremen Druck auf junge Mütter (und in zunehmendem Maße auch auf die dazugehörenden Väter) aus. Eine gute Mutter (bisweilen auch der Vater) nimmt eine ganz spezifische Perspektive auf ihre Kinder hin ein: Sie (oder er) hat sich den Bedürfnissen und Wünschen der Kinder „unterzuordnen“. Somit soll in unserer westeuropäischen Kultur die Frage der Kinderbetreuung stark normativ über ein bestimmtes Rollenmodell der Frau in unserer Gesellschaft reguliert werden.
Mit diesem Modell ist zwar eine Emanzipation der jungen Frauen möglich, aber in seiner Konsequenz wird die Geburt des ersten Kindes möglichst lange aufgeschoben, da die Entscheidung für das Kind sich als unverträglich zeigt zwischen den Erwartungen in Bezug auf das Kind und denen in Bezug auf den Beruf. Und dieser Beruf kann oft erst mit knapp 30 Jahren nach einem vielsemestrigen Universitätsstudium erstmals ausgeübt werden. Einige familiendemoskopischen Daten des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) belegen dies:
„Eltern bekommen ihr erstes Kind später; das Erstgebäralter stieg auf über 29 Jahre. Hauptursache für das spätere Erstgeburtsalter ist die spätere Partnerschaftsbildung. Drei von zehn der 1960 geborenen Männer und zwei von zehn Frauen dieses Geburtsjahrgangs werden nicht heiraten. Kinderlos bleiben Männer häufiger als Frauen, Ledige und Geschiedene häufiger als Verheiratete und höher Gebildete häufiger als Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau. Die höchste Ledigenquote unter den heute 35-40jährigen weisen westdeutsche Männer und Frauen mit Hochschulabschluss auf: 29 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frauen mit Uni-Examen bleiben ledig.“[5]
Die hier nur auszugsweise dargestellten Daten machen deutlich, dass stärker noch als durch die Zunahme unverheiratet zusammenlebender Eltern oder Alleinerziehender das Bild des Wandels durch den wachsenden Anteil unverheirateter kinderloser Menschen geprägt ist: Die Entscheidung zwischen den Alternativen Beruf und Familie wird immer öfter zu Ungunsten der Familie entschieden – mit den bekannten Folgen für die demographische Entwicklung. Auch wer die Einschätzung nicht teilt, dass die Single-Kultur Ausdruck sei für eine Entwicklung Deutschlands zur Ich-Gesellschaft mit fehlender Bereitschaft zu teilen, wird sich fragen müssen, ob die Entscheidung für Partnerschaft tatsächlich ‚schlichte Privatsache’ ist, bei der sich folglich die Politik nicht ‚einzumischen’ habe. Wenn immer weniger Menschen gelingende Partnerschaft auf Dauer in ihr Leben integrieren können, obwohl sie in Umfragen den Werten Treue und Verlässlichkeit und den Lebensformen Ehe und Familie höchsten Stellenwert einräumen, deutet dies auf gesellschaftliche und politische Defizite hin, die nicht allein privat ausgeglichen werden können.
Die klassische Familienkonstellation von der Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kindern in einem Haushalt, ergänzt vielleicht noch durch ein Großelternteil, gilt kaum noch. Der Wandel geht hin zu Patchwork-Familien, Fernbeziehungen, einer sich verändernde Großelternrolle, Lebensabschnittspartnerschaften. Aufgrund der höheren Lebenserwartung ist die gemeinsame Lebenszeit der Eltern/Großeltern mit ihren Kindern/Enkeln seit der Mitte des 20. Jahrhunderts um 35 Jahre angestiegen. Die Großeltern oder die alt gewordenen Eltern gehören natürlich auch irgendwie zur Familie, weswegen die Soziologie von multilokalen Familien spricht. Die Familien sind nicht mehr an einem Ort, sondern an mehren Orten situiert, und müssen dies zusätzlich bewältigen. Dabei müssen die Beziehungen unter den Familienangehörigen mittel- und langfristig ausgehandelt werden. Im Alltag schließlich kommt es durchaus vor, dass Kinder sich an einem Tag in mehreren Haushalten – oft auch verteilt auf mehrere Wohnorte zurechtfinden müssen.
Ein weiterer Blickwinkel in die Lebenssituation heutiger Familien beleuchtet im satirischen Stil eine weitere gesellschaftliche Entwicklung: die zerbrechende Alltags-zeit. Eltern wünschen sich, dass es Orte gibt, an denen ihre Kinder unbeaufsichtigt von ihnen spielen können. Der klassische Sandkasten im eigenen Garten ermöglicht den Kindern sagen wir 70 min unbeaufsichtigte Spielzeit am Tag. Da mit der Höhe der Geschosszahl einer Wohnanlage diese Zeit sinkt, im dritten Stock vielleicht auf gerade noch einmal 20 Minuten, ziehen Familien verstärkt hinaus ins Grüne, und schaffen sich dort ein kleines Eigentum an. Die Arbeitsplätze wandern aber nicht in gleicher Weise mit - was wiederum bedeutet, dass zusätzlich Zeit jetzt benötigt wird, um die zusätzliche Arbeitszeit zu bewältigen. Dort wo es Arbeitsplätze gibt, im städtischen Bereich, ist aber auch die Infrastruktur für die Kinder gut ausgebaut. Weil die Kinder nun aber nicht mehr notwendigerweise dort leben, transportieren die Eltern ihre Kinder morgens beispielsweise in die Waldorfschule oder die städtische Realschule, anschließend sich selbst zur Arbeit, mittags in der Arbeitspause schnell in die Musikschule oder zum Ballettunterricht, und abends das Gleiche wieder zurück. Bei zurückgehenden Kinderzahlen nun sind diese Einrichtungen immer schwerer mit Kindern zu füllen. Als Konsequenz werden die Wegstrecken länger, stimmen nicht mehr mit der Berufsstrecke überein und führen zu einem Zeitpuzzle, das kaum noch zu organisieren ist. Fahrten zu den Einkaufszentren, welche den Tante-Emma Laden um die Ecke ablösen, fressen die restliche Zeit auf. Und da 80% aller Arbeitnehmer in Deutschland eh nicht mehr nach festen Arbeitszeiten arbeiten, sondern...