"Der König von Preußen" ist eine der spätesten Arbeiten Heinrich Manns im amerikanischen Exil. Daher ist es kaum verwunderlich, daß die Altersproblematik, die ohnehin die gelassene Diktion bestimmt, auch eine zentrale Stellung innerhalb dieses Textes einnimmt.[26] Heinrich Mann geht mit dem historisch verbürgten Material relativ frei um. Die hauptsächlichen Akzente des "Königs von Preußen" betreffen scheinbar weniger den essayistischen Gegenstand als vielmehr Themen, die den Autor selbst bewegen: Frankreich, preußisch-deutsche und europäische Geschichtszusammenhänge, das "Problem der Sprache" und Voltaire. Die Kompositionsstruktur des Essays beruht auf der Darstellung zweier Grundantriebe – Ruhmsucht und Liebe zu Frankreich.[27]
Heinrich Mann konzentriert sich darauf zu beschreiben, wie Friedrich seinen eigenen Ruhm generiert: Er ist ruhmsüchtig und ehrgeizig und gründet seinen Ruhm auf Schlachten. Auch sein Ziel, eine aufgeklärte Weltordnung zu schaffen, ist nur Mittel zum Zweck, persönlichen Ruhm zu erlangen. Indem Voltaire zum Propagandisten Friedrichs wird, entwickelt sich eine absurde Spirale der Propaganda:
"Die Art, wie Friedrich nach der Schlacht die französischen Gefangenen 'cajolieren' ließ, würde ihn menschlich erscheinen lassen, wenn es nicht leider auf Kosten der deutschen Gefangenen geschehen wäre, die annehmbare Quartiere an die Franzosen abgeben mußten. Voltaire, den Friedrich unermüdlich zur Friedensarbeit antrieb, erhielt Nachricht von dieser Bevorzugung der Franzosen und gab sie weiter."[28]
Der Essay "Der König von Preußen" kann als wissenschaftliches Experiment oder geschichtsphilosophische Abhandlung interpretiert werden. Heinrich Mann beleuchtet unterschiedliche Faktoren wie erbliche Konstitution, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit, Familienbeziehungen, Erziehung, Sprache, Literatur, Erotik oder Traumata, die die Entwicklung des Individuums prägen und es in seiner Haltung beeinflussen. Er zeichnet das thesenhafte Psychogramm eines bestimmten intellektuellen Typus mit der ihm eigenen Konstellation psychischer Eigenschaften und Erscheinungsformen. Zunächst geht es ihm lediglich um ein wertneutrales Verstehen unter Heranziehung von historischem Wissen und Erkenntnissen aus Ethik, Ästhetik und Politik. Auf diese Weise entsteht ein Wechselspiel von historischen Fakten und Hypothesen, die die Entstehung dieser historischen Entwicklungen zu erklären versuchen.
Darüber hinaus sind - wie immer, wenn Heinrich Mann psychologisch argumentiert - sehr rationale und politische Bezüge vorhanden.[29] Indem er sich der Person Friedrichs des Großen annimmt, verfolgt er kein ausschließlich retrospektives, sondern auch ein Interesse an der Gegenwart: Die mögliche Verbindung zum Nationalsozialismus besteht als eine unausgesprochene Voraussetzung, insbesondere wird die Parallele zwischen Friedrich und Hitler - im übrigen auch von Hitler selbst - gezogen.
Heinrich Mann versteht Friedrich als groteske Gestalt und verzerrtes Individuum mit schrillen, bizarren Zügen. Überspanntheit, Größenwahn und eine gewisse Monströsität werden indirekt vom Text transportiert. Auch Friedrichs "Größe" ist fragwürdig: Militärische Expansionspolitik und Schlachtenruhm können nicht als Indiz oder Maßstab für Erfolg geltend gemacht werden. Auf friedlichem Wege, durch eine Konzentration auf die Innenpolitik, hätte der Preußenkönig für sein Volk segensreichere Siege erringen können. Markant ist die Aussage, die auf die immensen Kriegskosten anspielt. Nach Auffassung Heinrich Manns wären die zum Kriegführen benötigten finanziellen Mittel besser für eine Land- und Bevölkerungsreform verwendet worden. Friedrich wird als Deutschland-Hasser und "Totengräber" der allgemeinen Reichsidee dargestellt, der egoistische Interessen dem Reichsinteresse überordnet. Eigentümlich ist, daß durch die Trennung von Preußen und der Person Friedrichs der Eindruck erweckt wird, Preußen sei eine Art Kollektivpersönlichkeit.
Im Jahre 1914, in dem Thomas Manns Essay "Friedrich und die Große Koalition. Ein Abriß für den Tag und die Stunde" erscheint[30], hätte Heinrich Mann seine Kritik an Friedrich wahrscheinlich noch viel stärker zugespitzt. 1940 jedoch verspürt er wohl Mitgefühl für ihn. Obwohl er ihn einerseits zwar verächtlich findet, sieht er andererseits auch, daß der Preußenkönig nicht allein die Schuld an seinem Schicksal trägt. Denn Heinrich Mann erhebt seinen Vorwurf auch gegenüber dem preußischen Volk, das nicht protestiert, obwohl es von seinem König mißbraucht wird. Es hat dem stark ausgeprägten Selbstwertgefühl seines Herrschers nur das mangelnde Selbstwertgefühl einer ohnmächtigen Nation entgegenzusetzen, die durch gewaltige Anstrengungen groß werden möchte.
Friedrich ist das "vorweggenommene Preußen-Deutschland". Unter seiner Herrschaft kommt es zur "herausgeforderten Entzweiung des einzelnen Landes [Preußen] mit der europäischen Ordnung" und zu einer bis dahin undenkbaren Machtverschiebung in Europa. Er ist die "Überspannung der Kräfte". Frankreich und England benutzen ihn insbesondere im Verlauf des Siebenjährigen Krieges abwechselnd, um ihr eigentliches Ziel der kolonialen Vormachtstellung zu erreichen. Friedrich täuscht sie aber nicht weniger als sie ihn.
"List und Verstellung ist Friedrich besonders wichtig: List nutzt im Kriege oft mehr als Kraft, sagt er. Man darf sie nur nicht zu häufig anwenden, sonst verliert sie an Wert.
Und er führt die Lebensregel an, die die Normannen ihren Kindern mitgeben: 'Sei mißtrauisch! Gegen wen? - gegen jedermann!'"[32]
In dem "Militärgefängnis", das er regiert, herrscht verbissene Askese. Preußen wird zu einem "Land mit nichts als Soldaten, mit dem Krieg als einzigem Geschäft" - einem Geschäft, das sich aber letztendlich nicht auszahlt. Friedrich ist "Herr über Leben und Eigentum jedes Preußen".
Um den Siebenjährigen Krieg zu entfachen, benötigt er einen Vorwand. Preußische Armeen verwüsten Sachsen, das "blühendste" deutsche Land, doch bleibt Dresden die einzige Hauptstadt, die von ihm erobert wird. Seine Strategie erschöpft sich nach Meinung seines Bruders Heinrich darin, "Schlachten herauszufordern". Aber er verliert ebenso viele wie er gewinnt und "beendet keinen seiner Feldzüge anders als durch Vergleich".
"Die Preußen haben, trotz ihres seltsam überlegenen, neuen Exercitiums, unter Friedrich II. etwa ebenso viele Schlachten verloren, als sie gewannen; es ist eine alte und meist eingehaltene Übereinkunft, daß bei Schlachten immer einer der beiden Gegner gewinnt; der wird dann Sieger genannt. Gerade bei Friedrich II. ist es schmerzhaft, wie er verschiedentlich das Schlachtfeld verließ, um sich in Sicherheit zu bringen und um erst nachträglich zu erfahren, daß er die Schlacht 'gewonnen' habe."[33]
Trotz allem wagt er im Grunde nichts, denn "kein Staat seines Jahrhunderts ist von den Stärkeren nach unglücklichen Kriegen aufgelöst worden", und auch sein Volk würde ihm niemals zu einer so ernsthaften Gefahr werden wie das französische im Zuge der Revolution wenige Jahre später seinem König.
"Oder, um Bismarcks Worte zu wiederholen: 'Diejenigen Könige gelten als die volkstümlichsten und beliebtesten, welche ihrem Lande die blutigsten Lorbeeren gewonnen, zuweilen auch wieder verscherzt haben.'"[34]
Am Ende des Siebenjährigen Krieges liegen Preußen und seine Armee am Boden, und auch die "niemals ganz, dafür seit dem ersten Tag eroberte Provinz" Schlesien entschädigt kaum für "ein Leben in Feindschaft", wie Friedrich es bis zu seinem Tode führt.
Beziehungsreich charakterisiert Heinrich Mann den Ruhm Friedrichs durch das in seinem Werk ebenso bedeutungsvolle wie vielschichtige Schauspieler-Motiv. Die Feststellung, daß Friedrich der Große "seinen Ruhm wie ein Schauspieler" trägt, kennzeichnet diesen Ruhm als eine vorgestellte, gespielte Identität, die zur Lebenshilfe wird. Noch als vereinsamter alter König spielt Friedrich Komödie, "um seinen Ruhm glaubwürdig vorzuführen". In Krisensituationen verschwendet er dann auch unüberhörbar "Gedanken an Thronentsagung und Selbstmord".
"In der Tat, nichts könnte fesselnder sein, als zu verfolgen, wie Voltaire sich mit den unablässigen Selbstmorddrohungen seines Schülers und mit Friedrichs Drängen auf Friedensvermittlung abfand. Voltaire war ein überlegener Beobachter, der Geist, der Witz im Sinne Goethes besaß. [...] Voltaire kannte den großen König zu genau - hatte er ihn doch selbst 'den Großen' getauft - als daß er hätte ernst bleiben können beim Lesen der heroischen Jeremiaden Friedrichs II."[35]
Der im Grunde maskenhafte Ruhm wird später durch den Vergleich mit der "Totenmaske" Friedrichs ironisiert. Diese Maske wiederum ist ein...