»Es war einmal oder nicht.« So beginnen die Märchen Afghanistans. Sie klingen, als könnten sie ihr Glück nicht glauben, das Glück der Erzählung. Uns kommt solch ein Zweifel vielleicht ein wenig rational vor, finden wir ihn über dem Eingang in die Welt der Märchen. Aber in Afghanistan wird die Übertreibung, die Liebe zur Beschönigung, zur Ausschmückung, zum Eigenlob, »Laaf« genannt und wie eine Nationalkrankheit behandelt. So klingt in diesem Land, das die Vergangenheit so oft als ein trügerisches Idyll beschworen hat, auch der Zweifel an dem glücklichen »Es war einmal« berechtigt – oder nicht?
In unserem Kulturraum dagegen stellen wir den Zweifel ans Ende der Märchen, wo wir über ihre Figuren sagen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Wider besseres Wissen halten wir an der Möglichkeit fest, dass sie nicht gestorben sein könnten. Afghanische Kinder dagegen assoziieren anders. In ihrem Leben sind die Gestorbenen allgegenwärtig. Man findet kein Kind, das nicht in den Kriegshandlungen aus dreißig Jahren seine eigenen Verluste erlebt, Familienangehörige, Freunde, Mentoren verloren oder dem Sterben anderer zugesehen hätte. Unsere Einfühlungsmöglichkeiten kapitulieren vor diesen Geschichten. Sie kapitulieren oft auch vor den Gesichtern dieser Kinder, der Zeichnung, die sie erfuhren. Man kann, was sie denken, wollen, sagen, malen, schreiben, erfinden, lieben, träumen, hoffen, was sie ängstigt und was sie im Kino suchen, niemals von dem Eindruck lösen, den der Krieg in ihnen hinterließ. Dies ist das Scharnier, in dem sich alle anderen Erfahrungen drehen, und so hat auch das Erzählen in den letzten Jahrzehnten seine Themen verändert und seine Bedeutung.
Ursprünglich wurden die Märchen nicht fixiert, sie wanderten und wandelten sich in der mündlichen Überlieferung. Oft handelten sie von tapferen Prinzen und schönen Königstöchtern, von Drachen, Feen, Djinnen, Zauberern und Riesen, von bösen, gerissenen Gestalten, ungerechten Machthabern oder klugen Wesiren, von der Opferbereitschaft wahrer Liebender, von stolzen, treuen Frauen und beherzten Männern, von den heroischen Taten der Helden im Krieg. Um der Liebe willen oder um ihr Ziel zu erreichen, müssen sie Berge, Täler, Wüsten und Steppen überqueren, um unter Gefahr und Strapazen magische Gegenstände zu erlangen wie lachende Pistazien, weinende Granatäpfel, freundliche Blumen und Zauberspiegel. Wenn man in den dunklen Wintermonaten in einer Runde am warmen Ofen saß, wo diese Geschichten erzählt wurden, dann wiederholten nicht allein die Kinder einzelne Schlüsselsätze und Reizwörter und gestikulierten dazu, wie es die Helden der Geschichten getan haben mussten, auch die erwachsenen Zuhörer vereinigten sich unter einem Bann des Erzählens, der sich andernorts längst zerstreut hat.
Die alten Märchen tragen Titel wie »Der Prinz mit den Granatapfelkernzähnen«, »Der Junge mit dem Schafsmagen auf dem Kopf«, »Das Topfkind« oder »Das hölzerne Mädchen«. Sie klingen mitunter so zart wie die Hans-Christian Andersens, so derb wie die der Brüder Grimm, so unheimlich wie die Wilhelm Hauffs, aber die Angstlust, die sie wecken, fällt hier und heute auf einen anderen Boden. Die Erzähltraditionen der Märchen sind abgebrochen, die elterlichen Geschichten aus dem Krieg haben sie ebenso verdrängt, wie es die »Daily Soaps« aus dem Fernsehen getan haben, und ähnlich weicht in der medialen Welt auch die traditionelle Musik Afghanistans einer Fernseh-Castingshow nach internationalem Zuschnitt namens »Afghan Star«. Beide Zeiten sind gleichzeitig da und gleich verbindlich, die tradierte alte und die eben eingetroffene aus der internationalen Welt. Was fehlt, sind Übergänge.
Diese Entwicklung ist symptomatisch und hat nicht nur mit Afghanistan zu tun. Hier ist ein Land, das nach drei Jahrzehnten Krieg die Frage beantworten muss, was man mit dem Frieden anfangen, wie man jene immaterielle Kultur begründen soll, die mit dem Trösten und Trauern, dem Lieben und Spielen und all dem zu tun hat, was zwischen Menschen hin und her geht und nicht primär zweckgebunden ist. In Afghanistan lässt sich in dieser Zeit auf eine bedrückende, traurig repräsentative Weise studieren, wie sich eine Kultur herausbildet, formt und organisiert, nachdem sie im materiellen Sinn großräumig zerstört wurde.
Zur Kultur in diesem Sinne gehört auch das Kinderspiel. Für uns ist es selbstverständlich geworden, im homo ludens das Urbild des Kulturwesens Mensch zu erkennen. In Afghanistan ist der spielende Mensch König in einem untergegangenen Reich. Als ich auf dem Lande Kinder nach ihrer Freizeitbeschäftigung fragte, wussten sie manchmal nicht genau, was das sein sollte, und nannten das »Tiere-Hüten« oder das »Nähen« als ihr Spiel. Es hatte sich im Bewusstsein dieser Kinder nicht als etwas Selbstverständliches durchgesetzt, dass man seine Lebensfreude im scheinbar Sinnlosen entfalten kann.
Da die Kinder aber in den Innenräumen der Häuser meist der fraglosen Autorität der Alten unterworfen, und das heißt auch in ihrer Selbstentfaltung eingeschränkt sind, liegt ihr Freiraum in den Hinterhöfen und Gärten, meist außerhalb, auf den Feldern, den Straßen, in der Natur, an den Wasserläufen und auf den Lagerplätzen für Kriegsschrott. Hier kann man ihnen, die man sonst oft brütend, betrachtend und gedankenverloren erlebt, wirklich in unbändiger Spiel- und Daseinsfreude begegnen.
Beliebt bei den Mädchen sind Spiele, in denen Musik, das Tanzen und Klatschen eine Rolle spielen. Am weitesten verbreitet ist bei den Jungen immerhin wieder das Gudi paran bazi, das Drachensteigenlassen. Allen Verboten der Taliban zum Trotz: Legendär ist es geblieben in Afghanistan. In einem Mörser wurde erst Glas zerstoßen, dann der Faden, an dem das Gestell aus Holzleisten und Papier befestigt ist, in Klebstoff gewendet, anschließend durch die Glassplitter gezogen. Dann entlässt man den Drachen in die Luft und versucht, mit dem scharfen Faden die Flugobjekte der Mitstreiter loszuschneiden. Anschließend muss das so erbeutete, frei trudelnde Trapez als Trophäe eingefangen werden.
Je höher man den Drachen fliegen lässt, umso schöner ist es. Früher stiegen sie auch von den Lehmdächern aus auf, wo man die Weintrauben, Aprikosen, Tomaten und Auberginen trocknete. Einmal im Jahr wurden diese Dächer mit Stroh und Erde isoliert. Hier trafen sich heimlich die Liebenden, oder sie verständigten sich über die Entfernung mit versteckten Zeichen. Und die Kinder, die hier mit ihren Drachen spielten, folgten der Schnur, sprangen von Dach zu Dach, fielen auch manchmal zwischen die Häuser. Es war eine Gegenwelt, die Welt der Dächer.
Vor allem in den heißen Sommermonaten spielt sich das Leben oft auf den Dächern ab. Die Familien können wegen der Hitze kaum schlafen, suchen die kühle Brise, Frauen hängen ihre Wäsche zum Trocknen oder färben Stoffe, legen sie in die Sonne. Auch Obst und Gemüse werden ausgebreitet, und wenn ein Nachbar feiert oder Frauen nicht gesehen werden wollen, dann kann man sie von hier aus beobachten, und wo verstecken sich die Kinder, die etwas angestellt haben? Auf den Dächern.
Und auch das gab es: die Geburt der Phantasie in der Verweigerung, die »Resistance« im Kinderspiel: Das Gudi paran bazi war zwar lange verboten, die Drachen aber ließen sich nicht kleinkriegen. Manchmal banden die Kinder sie einfach irgendwo fest, damit sie herrenlos über den Himmel tanzen konnten. Und wirklich, auch heute sind meist irgendwo die bunten Trapeze in der Luft.
Der Viertklässler Said Abdulkhalil schickte mir einmal einen selbstgemachten Drachen zusammen mit einem Text, den er »Meine Lebensgeschichte« betitelt hatte. Er las sich: »Ich verlor meinen Vater, als die Russen Afghanistan brutal bombardierten. Im Alter von drei Monaten bin ich in den Armen meiner Mutter Waise geworden. Ihren Erzählungen zufolge hatten wir ein schwarzes Leben. Im Alter von sechs Jahren brachte sie mich zur Schule, inzwischen gehe ich in die vierte Klasse. Während der Feiertage fahren einige meiner Klassenkameraden zum Vergnügen in andere Orte, aber weil wir arm sind, kann ich nicht mitfahren. Ich habe keine Spielsachen und muss für die Ernährung der Familie sorgen. So bin ich gezwungen, aus Plastik Drachen zu bauen. Dank einiger meiner Freunde, die mir das Geld für das Plastik und das Holz geben, kann ich meine Drachen bauen und auch verkaufen. Vom Erlös bezahle ich dann die nötigsten Schulsachen. Dies ist meine Lebensgeschichte, begleitet von einem Drachen, den ich Ihnen schenke. Mit Respekt, Said Abdulkhalil.«
Der Krieg ist nicht allein in den Spielsachen, er ist im Handwerk, im Schmuck der Gebrauchsgegenstände allgegenwärtig. Ob im Ziegenhaarzelt, in der Jurte, im Lehmhaus, überall finden sich Knüpfteppiche, Kelims, Filzteppiche, Stickereien und Webarbeiten voller kriegerischer Motive wie Raketen, Bomben, Panzer, Hubschrauber und Kämpfende. Das Projektil der Kalaschnikow findet sich eingewebt in Taschen, Beutel, Tücher, Satteldecken und Kissen, um immer wieder an die Grausamkeit des Krieges und den Heroismus der Kämpfenden zu erinnern.
Die Kinder stellen außerdem selbst Kriegsspielzeug aus Holz, Draht, Blech her, basteln Spiel-Kalaschnikows. Die Taliban hatten auch sie verboten, ebenso wie die kindlichen Darstellungen der Kriegserfahrungen in Bunt- oder Filzstift, die Bilderträume vom besseren Leben. Zeichnungen auf Papier aus jener Zeit sind also selten, erst relativ spät sind sie wieder, meist angeregt durch westliche Förderung, entstanden. Zuvor fand man eher Ritzarbeiten auf Holz, gemalte Darstellungen an Außenwänden, unseren Graffiti nicht unähnlich. Natürlich hatte es vor den Taliban in Afghanistan Malerei gegeben, unter ihrer Herrschaft aber durften Schülerinnen...